Vier Standorte in drei Ländern: Andrettis ambitionierter Formel-1-Plan

Auch wenn die Formel 1 dem Einstieg von Andretti vorerst eine Absage erteilt, arbeitet das Team weiter darauf hin - Technikchef Nick Chester gibt Einblicke

(Motorsport-Total.com) - Rund vier Monate nach der Zulassung durch die FIA platzte für das im Entstehen begriffene Andretti-Cadillac-Team der Traum vom Formel-1-Einstieg vorläufig. Die Formel-1-Organisation gab kein grünes Licht für ein elftes Team.

Titel-Bild zur News: Michael Andretti

Michael Andretti gibt seinen Traum von der Formel 1 noch nicht auf Zoom

Dabei hatte Michael Andretti hohe Ziele: Mit einem Renault-Kundenmotor wollte man schon im Jahr 2025 debütieren. Für den Fall, dass sich der Entscheidungsprozess länger hinziehen sollte, war ein Starttermin für 2026 anvisiert, wenn alle Autos und Power-Units nach dem neuen Reglement gebaut werden müssen.

Doch auch dem hat die Formel 1 einen Riegel vorgeschoben, ließ die Tür für Andretti ab 2028 aber offen. Dann, so der längerfristige Plan des Teams, würde man mit einem Aggregat von General Motors antreten und hätte entsprechend bessere Chancen.

Noch vor der Absage hatte das Team sein Programm mit der Begründung vorangetrieben, dass es sich nicht leisten kann, zu warten. Es wurde im Konstruktionsbüro und im Windkanal fleißig gearbeitet, was ein Beweis dafür ist, dass es sich um ein ernsthaftes Projekt mit einer angemessenen finanziellen Unterstützung handelt.

Umso verwunderter war Andretti über die Entscheidung der Formel 1, die Bewerbung abzulehnen, kündigte aber an: "Unsere Arbeit setzt sich ungebrochen fort." Unter welchen Vorzeichen und mit welchem konkreten Ziel, das bleibt vorerst offen.

Fest steht: Es ist ein komplexes Unterfangen, bei dem das Team von vier Standorten in drei Ländern aus arbeiten wird. Dabei ist die Aufteilung von Abteilungen auf verschiedene Länder nichts Neues und eine Strategie, die zum Beispiel Haas und das kürzlich umbenannte Visa Cash App RB (ehemals AlphaTauri) verfolgen.

Die Andretti-Pläne sind jedoch besonders ehrgeizig. Rennteam und Konstruktionsabteilungen werden in Silverstone angesiedelt sein. Die Aerodynamiker werden den Toyota-Windkanal in Köln nutzen. Und Simulationen sowie und Forschung und Entwicklung werden in der GM-Motorsportanlage in Charlotte durchgeführt.

Wenn die riesige neue Basis von Andretti Global nahe Indianapolis fertiggestellt ist, wird dort die Produktion stattfinden, die in der Zwischenzeit externe Zulieferer übernehmen.

Bei einem Rennteam geht es auch um Menschen. Andretti hat aktiv Formel-1-Veteranen rekrutiert, darunter auch einige, die vor kurzem in ähnlichen Start-up-Projekten tätig waren, die das FIA-Zulassungsverfahren nicht überstanden haben.


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Nick Chester, der Eckpfeiler des Teams

Der erste Mann, der zugesagt hat, war der technische Direktor Nick Chester, der das Designprogramm in Silverstone leitet. Chester begann seine Formel-1-Karriere als Ingenieur bei Arrows und arbeitete 20 Jahre lang für das Renault/Lotus-Team in Enstone, und zwar in verschiedenen Funktionen.

Die letzten sieben Jahre davon war er dort Technischer Direktor. Er verließ das Team 2020 und war bei McLaren in der Formel E, als sich die Chance ergab, dem Andretti-Projekt beizutreten. Noch vor der jüngsten Absage hat er mit Motorsport.com über seine Beweggründe und die ambitionierten Pläne von Andretti gesprochen.

"Michael erklärte uns, was er vorhatte und was er mit dem Einstieg in die Formel 1 erreichen wollte", sagt Chester. "Und um ehrlich zu sein, war es sehr, sehr aufregend. Das Ziel, ein neues Team aufzubauen und zu gewinnen, war ein sehr attraktives Angebot. Und das alles von einem leeren Blatt."

"Ich denke, der Reiz lag darin, die Investitionen zu kennen, die dahinter stehen, zu wissen, dass es mit den Andrettis ein Team ist, das von der Familie getragen wird und von der Geschichte, die sie im Rennsport haben, und dem damit einhergehenden Wissen."

"Wenn man das alles zusammen nimmt, die hohen Investitionen, den echten Siegeswillen und die Familiengeschichte, dann war das für mich der ausschlaggebende Punkt. Und dann die Chance, ein Team zu formen, was sich natürlich nur sehr selten bietet."

Chester musste eine sechsmonatige Freistellung abwarten, bevor er im März 2023 offiziell dem Projekt beitrat. In der Zwischenzeit waren andere wichtige Leute hinzugekommen, und die Gruppe hatte am Andretti-Formel-E-Stützpunkt in Banbury mit der Arbeit begonnen. Im April übernahm dann das Konstruktionsteam eine Einrichtung im nahegelegenen Silverstone, während die Zahl der Mitarbeiter stieg.

Nick Chester

Technikchef Nick Chester bringt reichlich Erfahrung in der Formel 1 mit Zoom

Wichtige frühe Neueinstellungen waren Chesters ehemaliger Enstone-Kollege John Tomlinson als Leiter der Aerodynamik und John McQuilliam, der zuvor bei Jordan und Marussia/Manor tätig war. Er übernahm des Posten des Chefdesigners.

Zu den weiteren Neuzugängen mit beeindruckenden Lebensläufen gehören der Leiter der Systemabteilung Karl Dexter (ehemals Ferrari, Manor und Mercedes Formel E), der Leiter der Leistungsanalyse James Knapton (Force India und Red Bull) und der Leiter der Produktion Simon Cayzer (Aston Martin).

"Ich denke, man will immer seine Abteilungsleiter dabei haben, damit sie für ihre eigenen Abteilungen rekrutieren können", erklärt Chester. "Es ging also darum, diesen Kern zu bilden und dann von dort aus zu rekrutieren."


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"Jetzt sind wir aus der Anlage, in der wir uns gerade befinden, herausgewachsen. Es war schon ein seltsames Gefühl, als wir aus Banbury kamen und weniger als zehn Leute waren."

"Jetzt sind über 70 Personen im Gebäude, und wir haben die Sitzungsräume mit Schreibtischen gefüllt und platzen aus allen Nähten. Wir werden Mitte Februar umziehen, dann haben wir viel mehr Platz." Doch Chester weiß: Selbst mit erfahrenen Mitarbeitern ist es nicht einfach, ein Formel-1-Projekt von Grund auf neu zu entwickeln.

"Es ist eine Herausforderung, und man muss sich langsam herantasten", sagt er. "Ich nehme an, man kann nur die wichtigsten Dinge abhacken, um überhaupt anzufangen. Man ist sich bewusst, dass man alles machen will, aber man kann nicht alles machen!

Nutzung des Kölner Windkanals

"Die Priorität lag darin, ein Aero-Programm auf die Beine zu stellen, mit CFD zu beginnen und dann ein Tunnelprogramm zu starten. Gleichzeitig ging es darum, einige Prozesse in Gang zu bringen und die anderen Dinge, die man in diesem Geschäft braucht, aufzubauen", skizziert der Technikdirektor.

Durch ein glückliches Timing wurde der Kölner Windkanal im Sommer für einen Formel-1-Kunden verfügbar, als McLaren seine Verbindungen abbrach und zu seiner eigenen neuen Einrichtung in Woking wechselte. Ein paar Monate später zog Andretti mit einem Automodell der Spezifikation 2024 ein.

"Wir waren zu dem Zeitpunkt noch nicht bereit, als McLaren auszog. Also haben wir im Oktober angefangen", sagt Chester. "McLaren gelang '23 damit ein ziemlich gutes Auto. Und wir haben festgestellt, dass es ein wirklich guter Ort zum Arbeiten ist, und das Personal bei Toyota war sehr hilfreich."

Windkanal-Modell von Andretti

Mit diesem 2024er-Modell hat Andretti im Windtunnel bereits getestet Zoom

"Wir waren in der Lage, ein zu 60 Prozent komplettes Modell von guter Qualität zu bauen und alle unsere Systeme im Tunnel zum Laufen zu bringen. Das Entwicklungstempo steigt."

"Wir sind noch nicht ganz da, wo ein bestehendes Team sein würde, allein schon wegen unserer Größe. Aber wir machen ziemlich gute Fortschritte, lernen dazu und kommen in den Zyklus, den man als in der Entstehung befindliches Team braucht."

Der nächste Schritt ist die Entwicklung und Erprobung von Prototypenteilen in Originalgröße und schließlich eines kompletten Fahrgestells. "Wir haben bereits eine Art Viertel-Chassis in Arbeit", sagt Chester. "Die Muster dafür sind bereits fertig, und das ist nur der Anfang, um einige Belastungstests an einem Teil des Chassis durchzuführen. Wir haben auch eine Nase in der Fertigung."

"Wir fangen an, einige der wichtigsten Belastungsarbeiten für die Homologation durchzuführen. Und dann ist der Plan, ein komplettes Monocoque zu bauen." Wie weit ist das Team zu diesem Zeitpunkt noch von einem kompletten Auto entfernt?

"Es gäbe noch eine Menge zu tun", gibt Chester zu. "Ich denke, man könnte sagen, dass wir die benetzten Oberflächen haben und ein Monocoque. Dann wären natürlich noch alle Kühlungspakete und die Aufhängung zu machen, aber wir sind dabei, Aufhängungspakete zu entwerfen. Wir sind auf einem guten Weg."

Einer der faszinierendsten Aspekte des Projekts ist die Rolle von General Motors. Skeptiker dachten anfangs, dass es bei dem Deal hauptsächlich um Aufkleber auf einem Auto mit Renault-Antrieb gehen würde, aber es geht bereits weit darüber hinaus.


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Der Beitrag von General Motors

GM verfügt über Einrichtungen, von denen manche Formel-1-Teams nur träumen können, und 50 Mitarbeiter wurden bereits für das Projekt abgestellt.

"Diese Zusammenarbeit sehen wir als Schlüssel zum Erfolg", sagt Chester. "Sie legt auch den Grundstein für die GM-Power-Unit, die 2028 kommen wird, denn die Voraussetzungen und die Methoden der Arbeitsprozesse dafür sind bereits gegeben."

"Das Technikzentrum in Charlotte ist, glaube ich, erst ein paar Jahre alt. Aber es ist etwa 110.000 bis 120.000 Quadratmeter (rund 1 bis 1,1 Hektar) groß. Es hat drei oder vier Fahrersimulatoren, plus statische Simulatoren."

"Ende des Jahres wird ein kompletter Vierrad-Prüfstand in Betrieb genommen. Es gibt K&C (Kinetik und Compliance). Und dann gibt es noch all die Ingenieure, die an Software und Design arbeiten. Das sind richtige Ressourcen." Insofern deckt die Unterstützung von GM bereits viele Bereichen ab.

"Es ist eine Kombination von Projekten. Und da wir wachsen, gibt es eine Menge Ressourcen, mit denen GM uns helfen kann. Sie haben uns geholfen, die CFD-Prozesse zum Laufen zu bringen. Wir führen das Simulatorprogramm bei GM durch, das heißt, wir haben eine Offline-Simulation und einen laufenden Simulator. Wir führen Aero-Studien durch und bereiten uns auf diese Art von Arbeit vor."

"Sie werden sich auch mit der Servolenkung und den Kontrollsystemen befassen. Es gibt einige zudem gute Designprojekte, an denen die Ingenieure von GM arbeiten. Der erste Prototyp des Überrollbügels stammt von GM", verrät Chester.

Im Hintergrund werden auch schon die ersten Schritte für die Cadillac-Power-Unit unternommen, selbst wenn es dafür noch sehr früh und die Herausforderung groß ist.


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Red Bull hat für sein Projekt 2026 bei Null angefangen, aber es hat eine Abkürzung genommen, indem es Spitzenkräfte von Mercedes abgeworben hat. GM verfügt zwar über ein Werk für Antriebsstränge, aber es fehlt ihm derzeit an Fachwissen für die Formel 1.

"Sie bauen auf", sagt Chester. "Russ O'Blens, der bei GM das Motorenprogramm für alle Baureihen leitet, prüft, wie man das für die Formel 1 ausbauen kann."

"Obwohl sie eine Menge Ressourcen haben, wissen sie, dass es einige spezielle Prüfstände und spezielle Dinge gibt, die man braucht, um dieses Programm zusammenzustellen. Und er untersucht all das im Moment und stößt verschiedene Forschungen an."

Die riesige neue Anlage von Andretti Global, die derzeit in Fishers, nordöstlich von Indianapolis, gebaut wird, wird schließlich eine wichtige Rolle bei dem Projekt spielen.

"In Fishers werden wir eine Menge für die Formel 1 herstellen", sagt Chester. "Es ist eine riesige Anlage, 600.000 Quadratfuß (rund 5,58 Hektar) groß, und die Hälfte davon wird für die Formel 1 genutzt. Das gibt uns die Möglichkeit, dort ein echtes Kompetenzzentrum für die Fertigung aufzubauen."

"Natürlich geht das nicht von heute auf morgen", weiß der Technikchef. "Die Anlage muss gebaut, die Maschinen müssen aufgestellt und die Abteilung aufgebaut werden. Aber die Absicht ist, einen großen Teil des Autos in Fishers zu produzieren."

Daneben wird es auch in Silverstone eine begrenzte Produktionskapazität geben: "Wahrscheinlich ein bisschen, genug für schnelle Fehlerbehebungen und dergleichen."

Es wird nicht einfach sein, die Arbeit an vier verschiedenen Standorten in drei Ländern zu bewältigen und dabei alles im Rahmen des von der FIA vorgegebenen Budgets zu berücksichtigen. "Es bedarf einer guten Koordination", räumt Chester ein.

Das gemeinsame Logo von Andretti und Cadillac

Andretti-Cadillac arbeitet weiter auf einen Einstieg in die Formel 1 hin Zoom

"Ich denke, wenn alle Beteiligten die richtige Einstellung und eine gute Kommunikation haben, kann es funktionieren. Aber es ist etwas, das wir im Kopf haben. Wir müssen die Strukturen so gestalten, dass sie effizient sind." Was ist also die größte Herausforderung für das Team in den kommenden Monaten?

Was plant Andretti als Nächstes?

"Ich denke, es gibt einfach eine Menge zu tun. Es ist wirklich der Aufbau, es gibt so viele Dinge, die man auf die Beine stellen muss. Das größte Problem ist die Personalbeschaffung, denn man muss die richtigen Leute finden. Ich würde sagen, das ist wahrscheinlich die erste Priorität. Danach kommt der Aufbau der Prozesse."

Es mag harte Arbeit sein, und bis jetzt gibt es keine Garantie, dass Andretti tatsächlich in die Startaufstellung aufgenommen wird, aber Chester bereut es nicht.

"Ich liebe es, es ist großartig", sagt er. "Ich hatte ein paar Jahre Pause von der Formel 1 und habe sie vermisst. Ich habe das Entwicklungstempo vermisst, und die Anzahl der Konzepte, Ideen und Möglichkeiten, die man hier aus technischer Sicht hat. Das ist einfach konkurrenzlos", schwärmt der erfahrene Ingenieur.

"Ich habe es wirklich genossen zurückzukehren - und vor allem die Möglichkeit, gute Leute in das Team zu holen und es zu vergrößern. Es ist ganz anders als bei Renault, weil es kein etabliertes Team ist. Ich war erst in Enstone, als es bereits etabliert war."

"Während meiner Zeit dort wuchs es wahrscheinlich von 300 auf 800 Leute, aber das hier fühlt sich ganz anders an, denn wir können die Organisation ziemlich genau so wachsen lassen, wie wir es wollen. Und das macht eine Menge Spaß."