• 20.10.2006 11:59

Norbert Haug und Mario Theissen im Doppel-Interview

Die Motorsportdirektoren von Mercedes und BMW über die Saison 2006, die Aussichten auf das kommende Jahr und den Rücktritt von Michael Schumacher

(Motorsport-Total.com/sid) - Frage: "Wie sieht Ihre Bilanz 2006 aus?"
Mario Theissen (BMW-Motorsportdirektor): "Eindeutig positiv. Wir haben mehr erreicht, als wir in unserer ersten Saison erwarten konnten. Das gilt zum einen für die Ergebnisse. Wir sind im Qualifying 16-mal unter die schnellsten Zehn gekommen, einmal sogar bis in die zweite Startreihe vorgestoßen. In den 17 bisher ausgetragenen Rennen haben wir 15 Punkteränge und sogar zwei Podiumsplätze erzielt. Damit liegen wir klar vor unserem Plan."

Titel-Bild zur News: Mario Theissen und Norbert Haug

Mario Theissen und Norbert Haug wollen - natürlich - 2007 Fortschritte erzielen

"Noch wichtiger allerdings ist, dass wir uns während der Saison kontinuierlich verbessert haben. Wir haben den Windkanal von Ein- auf Zweischichtbetrieb umgestellt, noch im Oktober wird er, früher als geplant, in drei Schichten laufen. Wir haben starke Partner und 100 neue Mitarbeiter integriert. Parallel geht unser Erweiterungsbau in Hinwil voran. Und auch auf der Fahrerseite sind wir sehr gut aufgestellt."#w1#

Norbert Haug (Mercedes-Motorsportchef): "Wir wollten Erster werden und sind Dritter geworden. Wir hatten gut eine Handvoll Siegchancen, aber haben aus ihnen letztlich zweite und dritte und nicht erste Plätze gemacht. Das heißt, wir müssen uns konsequent steigern, noch im Vorjahr haben wir mehr Rennen gewonnen als alle anderen Teams zusammen, 10 bei 18 Starts."

Frage: "Was erwarten Sie von der kommenden Saison?"
Theissen: "2007 wird das zweite Jahr unserer Aufbauphase. Entscheidend ist, dass das Team die Doppelbelastung aus Aufbau und aktuellem Wettbewerb weiter so gut meistert. Die Fahrzeugentwicklung schreitet gut voran. Wir wollen uns Schritt für Schritt steigern und aus eigener Kraft den Weg aufs Podium schaffen."

Haug: "Wir wollen um beide WM-Titel kämpfen."

Frage: "Ist die WM gelaufen oder kann es Michael Schumacher doch noch schaffen?"
Theissen: "So lange es noch eine Chance gibt, und sei sie auch noch so gering, darf man nicht aufgeben. Das werden Michael Schumacher und Ferrari auch nicht tun."

Haug: "Michael kann es schaffen, so viel Unerwartetes ist passiert in diesem Jahr, da wäre es der Höhepunkt, wenn Alonso beim Finale ohne Punkte bliebe und Michael gewänne. Möglich ist das, wahrscheinlich nicht."

Frage: "Bedauern Sie den Rücktritt von Michael Schumacher, und wie groß ist die Lücke, die er hinterlässt?"
Theissen: "In der Tat geht die erfolgreichste Fahrerkarriere in der Geschichte der Formel 1 zu Ende. Michael Schumacher hat mehr als 15 Jahre den Maßstab gesetzt, alle nur Rekorde eingesammelt und sich seinen ewigen Platz in den Annalen der Königsklasse verdient."

"Mehr noch als seine fahrerische Klasse hat mich beeindruckt, wie er in den Aufbaujahren zu einer Führungsfigur im Team gewachsen ist. Von seiner Fitness und seiner fahrerischen Qualifikation her hätte er ohne weiteres noch zwei Jahre fahren können."

"Natürlich hinterlässt sein Rücktritt eine Lücke, es ist ein Einschnitt, vor allem aus Sicht der deutschen Fans, die eine Identifikationsfigur verlieren. Das passiert allerdings nicht zum ersten Mal. Es sind schon viele große Fahrer abgetreten, die in ihrer Ära den Sport dominiert haben."

"Auch diesmal werden neue Champions in die Lücke stoßen. Ich bin sicher, dass Michael auch in Zukunft ein großer Botschafter des Motorsports sein wird. Darüber sollten wir uns freuen."

Haug: "Ja, ich bedauere den Rücktritt, und kein deutscher Fahrer kann umgehend in Michaels Rolle schlüpfen. Kein Deutscher außer Michael hat eine WM gewonnen, und außer Michaels Bruder Ralf gibt es keinen deutschen Grand-Prix-Sieger. Aber das wird sich sicher ändern, und wenn die Silberpfeile siegen, dann bringt dies immer große Begeisterung in Deutschland und allen Ländern mit Formel-1-Interesse mit sich."

Frage: "Haben Sie Angst davor, dass das Formel-1-Interesse ohne Schumacher in Deutschland dramatisch nachlassen wird?"
Theissen: "Ich bin überzeugt, dass wir auch künftig deutsche Stars sehen werden. Der Nachwuchs scharrt schon mit den Hufen. Wir haben einige Talente konkret im Auge. Zudem ist die Formel 1 ein weltumspannendes Sportereignis."

"In Spanien hat Fernando Alonso einen Boom ausgelöst, dort hat die Formel 1 den Motorradsport überflügelt und Zuwachsraten in der TV-Berichterstattung im zweistelligen Bereich erzielt. In Polen, einem Land ohne Motorsport-Historie, hat Robert Kubica wahre Begeisterungsstürme entfacht. In Japan steht das Duell der Hersteller Honda und Toyota im Mittelpunkt. Und wenn ich allein den chinesischen Markt mit seinen etwa 1,4Milliarden Menschen betrachte, ergeben sich für die Königsklasse auch in Zukunft viele Chancen."

Haug: "Es herrscht jetzt gerade ein regelrechter Hype, wenn 66 Prozent, also zwei Drittel der eingeschalteten Fernseher, morgens um acht Uhr Formel 1 übertragen und in Deutschland fünf Millionen, wie zuletzt beim Grand Prix von Japan, zuschauen. Die Zahlen werden im nächsten Jahr vielleicht anfangs rückläufig sein, aber auch wenn fünf und nicht zehn Millionen nachmittags Grand Prix schauen, so ist dies eine stolze und konkurrenzlose Zahl."

Frage: "Wen sehen Sie als potenziellen Schumacher-Nachfolger?"
Theissen: "Das ist eine Frage der Definition. Einen Piloten, der seine Erfolgsstatistik übertrumpft, wird es womöglich niemals geben. Großartige Fahrer, die die Fans ebenso begeistern wie Michael es getan hat, hingegen schon."

Haug: "Den, der die meisten Rennen und Titel gewinnt, und ich hoffe, er sitzt im silbernen Auto."