• 21.05.2004 16:27

Nervenkitzel im Sekundentakt

Wenn die Fahrer in der Formel 1 zum Boxenstopp zu ihrem Team fahren, dann müssen hunderte von Handgriffen perfekt funktionieren

(Motorsport-Total.com) - Zu den spektakulärsten Momenten eines Formel-1-Rennens gehören die Boxenstopps. Nervenkitzel im Sekundentakt. Als Fixsterne in den Planspielen der Strategen schrauben die Boxencrews gegen die Uhr und gegen den Druck. Zwischen Triumph und Tragödie liegt oft nur ein Handgriff - der richtige oder der falsche.

Titel-Bild zur News: Juan-Pablo Montoya

Boxenstopps werden auch bei den Testfahrten regelmäßig geübt

Die entscheidenden Momente eines Grand Prix spielen sich immer häufiger neben der Strecke ab - auf dem schmalen Betonstreifen vor den Garagen. Mit einer guten Performance in der Boxengasse werden Rennen gewonnen. Die Suche nach dem Sekundenglück ist Stress pur und stellt höchste Anforderungen an die Boxencrews. Entsprechend sorgfältig stellen die Teams ihre schnelle Eingreiftruppe zusammen. "Für diesen Job", sagt Sam Michael, Senior Operations Engineer von WilliamsF1, "sind nur die Besten gut genug."#w1#

Die kleine Inspektion eines Formel-1-Boliden ist eine große Sache. Wenn das Auto steht, muss alles wie am Schnürchen laufen. Die fixen Jungs der Boxencrew, die selbst bei Sonnenschein so vermummt sind wie Astronauten beim Ausflug ins All, lösen sich auf Kommando aus der Lauerstellung. Was auf den ersten Blick wie ein wildes Durcheinander wirkt, ist in Wirklichkeit eine perfekt einstudierte Choreographie: 22 Männer - ein Job.

Achtung, planmäßige Ankunft zum Boxenstopp. Alles auf die Plätze, fertig - los:
0,0 Sekunden: Das Auto steht. Die Zeit läuft.
0,2 Sekunden: Die Pressluftschrauber sitzen auf den speziellen Radmuttern. Der Zentralverschluss wird gelöst.
1,0 Sekunden: Das Auto wird vorne und hinten mittels eines hydraulischen Sackkarrens angehoben.
1,5 Sekunden: Der Einfüllstutzen sitzt auf dem Tankverschluss. Ein rotes Licht im Helmvisier zeigt dem Tankwart an, dass der Sprit fließt - zwölf Liter pro Sekunde.
2,5 Sekunden: Die alten Räder sind abmontiert und werden weggeräumt.
3,5 Sekunden: Die neuen Räder sind aufgesteckt und angeschraubt. Die Pressluftschrauber werden abgezogen. Ein Sicherheitsstift, der das Loslösen der Räder verhindert, wird aktiviert.
3,8 Sekunden: Das Auto wird wieder auf den Boden heruntergelassen.
4,3 Sekunden: Dem Fahrer wird angezeigt, den ersten Gang einzulegen. Das Visier seines Helms wird geputzt und, wenn nötig, der Schmutz aus den Seitenkästen entfernt, damit der Motor nicht überhitzt.
7,0 Sekunden: Die Visieranzeige des Tankwartes springt auf Grün, der Schlauch wird abgezogen.
7,3 Sekunden: Der Lollipop-Mann hebt sein Schild und signalisiert freie Fahrt.

Der Stopp-and-Go-Verkehr parallel zur Zielgeraden ist ein faszinierendes Spektakel und sorgt stets für spannende Momente. Wie lange ein Auto letztlich steht, hängt nicht nur von der Performance der Boxencrew ab. Ein Reifenwechsel ist zum Beispiel schon nach rund drei Sekunden erledigt, ein Lenkrad in gut zwei Sekunden ausgetauscht. Auf eine neue Nase muss der Fahrer dagegen etwa elf Sekunden warten. Entscheidend für die reine Standzeit an der Box ist, wie viel Benzin nachgefüllt bzw. ob überhaupt getankt wird. Die Tankzeit soll in Zukunft noch kürzer werden. Zur Zeit wird untersucht, wie die Durchflussmenge der Tankanlagen erhöht werden kann, ohne dass dadurch die Sicherheit leidet.

In der Boxengasse schlägt das wahre Herz der Formel 1. Ein guter Grund für die 'Fédération Internationale de l'Automobile', die zuvor aus Sicherheitsgründen verbannten Nachtankmanöver 1994 wieder einzuführen. Ein kluger Schachzug. Weil die Boxengassen der meisten Formel-1-Strecken in den vergangenen Jahren breiter und damit sicherer wurden, ging die FIA sogar noch einen Schritt weiter und erhöhte das Tempolimit auf 100 km/h. Das bedeutet, weil der Zeitverlust jetzt nicht mehr so groß ist, zusätzliche Boxenstopps. Nur in extrem engen Boxengassen wie zum Beispiel der in Monaco gilt weiterhin Tempo 80.

Den Strategen der Teams ermöglicht die neue Regel eine variablere Renneinteilung, für die Boxencrews macht sie den Arbeitstag noch hektischer. Doch die Jungs, die einen entscheiden-den Beitrag zur Performance ihres Teams leisten, sind Profis und stecken die zusätzliche Belastung locker weg. Dafür haben sie über den Winter hart trainiert. "Vor der Saison absolviert unsere Crew ungefähr 150 Boxenstopps", erläutert Sam Michael. Normalerweise sitzt danach jeder Handgriff. Falls nicht - steht in der Firmenzentrale von WilliamsF1 im englischen Grove das ganze Jahr ein spezielles Boxenstopp-Auto für Übungszwecke bereit.

Die Boxencrews sind die Elite-Truppen der Formel 1. Sie müssen exzellente Mechaniker sein und dürfen auch in der größten Hektik keinen Fehler machen. Ihr Kapital sind ihre Erfahrung und ihre Nervenstärke. Sam Michael: "Bei einem Stopp können viele unvorhersehbare Dinge passieren. In diesen Situationen ist es wichtig, dass die Leute kühlen Kopf behalten, denn nur dann machen sie keinen Fehler." Und nur dann sichern sie ihrem Fahrer, der voll auf sie vertraut, die entscheidenden Sekundenbruchteile, um vor einem Konkurrenten zurück auf die Strecke zu fahren. Mit den Boxenstopps steht und fällt jede Rennstrategie. Kein Wunder, dass die Frage nach dem kritischsten Moment eines Boxenstopps Sam Michael nur ein Lächeln entlockt: "Der ganze Stopp ist ein einziger kritischer Moment."