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  • 21.11.2008 14:31

McLaren-Mercedes erklärt die Formel 1 2009

Die neuen Regeln der Formel 1 2009 sorgen für Erstaunen und Rätsel: McLaren-Mercedes erklärt die Regeln, die Tests und die Auswirkungen

(Motorsport-Total.com) - In Barcelona hat man sich von der Formel 1 des Jahrgangs 2009 einen ersten Eindruck verschaffen können. Viele Teams experimentierten im Rahmen der dreitägigen Testfahrten mit neuer Aerodyanmik, den Slicks oder KERS. Für viele Fans sind die grundlegenden Veränderungen im Reglement und deren Auswirkungen nach wie vor ein Buch mit sieben Siegeln. Die McLaren-Mercedes-Verantwortlichen Pat Fry (Renningenieur), Pedro de la Rosa (Testpilot), Ola Kallenius (Mercedes), Indy Lall (Testteamchef), Paddy Lowe (Chefingenieur) und Doug McKiernan (Chefaerodynamiker) klärten im Teaminterview viele offene Fragen.

Titel-Bild zur News:

Grundlegend neue Regeln für 2009: Quo vadis Formel 1?

Frage: "Um eine Vorstellung von der Größenordnung zu bekommen: Wie groß ist der Unterschied im technischen Reglement zum kommenden Jahr wirklich?"
Paddy Lowe: "Es sind wahrscheinlich die größten Regeländerungen im Bereich Aerodynamik, die man in der Formel-1-Geschichte gesehen hat. Nahezu alles - also Front- und Heckflügel, Diffusor, Unterboden und Karosserie - ist betroffen. Ich glaube, einen solchen Level von Änderungen hat es noch nie gegeben."#w1#

Pat Fry: "Es geht vor allem darum, das Team auf die Prioritäten zu fokussieren und nichts zu vermischen. Wenn man zum Beispiel KERS vernünftig hinbekommt, bringt es im Qualifying etwa vier Zehntelsekunden. Auf Strecken mit einer langen Vollgaspassage bis zur ersten Kurve, wie zum Beispiel in Barcelona, macht das 20 Meter aus - das sind immerhin drei Startplätze. Es gibt also gute Gründe, so etwas zu haben. Wir bleiben aber insgesamt bei unseren Grundlagen und unserer Rennphilosophie. Wir werden unseren Umgang mit CFD (Computer Fluid Dynamics; Anm. d. Red.) oder dem Windkanal nicht ändern. Wir arbeiten an einem neuen Produkt und müssen schauen, was funktioniert und was nicht funktioniert."

Unterboden gewinnt weiter an Bedeutung

Frage: "Können sie uns die Grundzüge der Aerodynamik-Änderungen für 2009 nennen?"
Doug McKiernan: "Die gesamten Anbauteile auf der Fahrzeugoberfläche werden entfernt. Wir haben einen höheren Heckflügel, der Diffusor rückt zurück. Der Frontflügel wird nach vorn geschoben und ist tiefer und breiter. Die Karosserie darf keine Abweiser oder Flügel haben. Als wir unseren ersten Windkanaltest mit dem 2009er Modell hatten, stellten wir einen Abtriebsverlust von über 50 Prozent fest. Etwas davon zurückzugewinnen, ist eine riesige Aufgabe, wenn man an der Karosserie kaum etwas machen darf."

"Wenn man zum Beispiel KERS vernünftig hinbekommt, bringt es im Qualifying etwa vier Zehntelsekunden." Pat Fry

Frage: "Wird es schwieriger werden, während der Saison aerodynamische Verbesserungen zu bringen, wenn man an die Karosserie nichts anbauen darf?"
Pat Fry: "Ja klar. Aber wenn sich alles mal etwas beruhigt hat, dann wird man erleben, dass einige Teams große aerodynamische Updates bringen werden. Da man keine drei kleinen Zusatzflügel mehr anbringen darf, wird man es eher erleben, dass einer einen ganz neuen Unterboden bringt. Ich denke, wir werden 2009 größere Leistungsunterschiede im Feld sehen. Es ist das Potenzial für Überraschungen da, die Reihenfolge kann durcheinander gewürfelt werden."

Doiug McKiernan: "Zurzeit ist unsere größte Aufgabe, den Luftfluss um das Auto herum zu verstehen. Wenn man den Frontflügel dermaßen verändert, muss mal erstmal verstehen lernen, wie sich das bei Kurvenfahrten auswirkt. Dieses Teil beeinflusst den Luftfluss sowohl unter dem Auto als auch um den Wagen herum. Die Luft ist weniger gesteuert. Bisher gab es ja viele Elemente, die den Luftfluss gelenkt haben. Nun müssen wir das mit anderen Teilen erledigen - und das wird schwierig. Die Ziele sind dieselben, aber die Aufgabe ist schwieriger."

Frage: "Wird es zwischen dem anfänglichen Auto zur Präsentation und dem ersten Rennen ein großes, neues Paket geben?"
Paddy Lowe: "Auf jeden Fall. Unser Paket für den Launch ist vor einigen Wochen im Windkanal fertig geworden. Das Muster hat sich ohnehin etabliert, dass man zwischen der Präsentation und dem ersten Rennen das Auto fast komplett umbaut - auch ohne solch drastische Regeländerungen. Der Launch wird wenig von dem zeigen, was man in Melbourne erwarten darf."

Doug McKiernan: "Zu diesem frühen Zeitpunkt geht die Entwicklung noch sehr schnell voran. Alle Teams werden noch viel Performance finden, weil wir im Grunde noch in den Kinderschuhen stecken. Nach zwei oder drei Wochen im Windkanal kannst du eigentlich einen komplett neuen Unterboden haben. Ein paar weitere Wochen und du hast einen neuen Frontflügel. Die neuen Regeln sind wie ein 'Reset-Knopf' bei der Aerodynamik. Es gibt noch viele Bereiche zum herumspielen. Das macht uns Spaß!"

Frage: "Werden sie die ganzen aerodynamischen Gimmicks vermissen?"
Doug McKiernan: "Ich persönlich nicht. Ich finde das gut so. Die Aerodynamik ist eine große Herausforderung, ein toller Motivator für das gesamte Team, sich mal mit etwas ganz anderem zu beschäftigen."

KERS wird langsam an die Grenzen getrieben

Frage: "Wie sieht der KERS-Fahrplan im Winter aus?"
Paddy Lowe: "Vor Weihnachten werden wir nur mit einem KERS-Auto fahren, dem MP4-23K. Wir werden die Technik in dem Interimsauto entwickeln, bevor wir das endgültige System in das nächstjährige einbauen werden, in den 24A. Wir werden zusätzlich ein Modell 23A haben, an welchem wir Chassiselemente und das Reifenprogramm probieren."

Indy Lall: "Für den ersten richtigen Streckentest müssen wir sicherstellen, dass unser Auto über die Kerbs gehen kann und auch viele Unebenheiten verträgt. So etwas war natürlich nicht Bestandteil unserer bisherigen Tests. Bisher nutzen wir nicht die komplette Leistungsabgabe von KERS. Das wird auch nur Schritt für Schritt bis zum Maximum gesteigert."

"KERS wird auf manchen Rennstrecken mehr Auswirkungen haben als auf anderen." Paddy Lowe

Frage: "Wie werden sie KERS im Saisonverlauf weiterentwickeln?"
Ola Kallenius: "Im Gegensatz zum Motor, dürfen wir KERS frei weiterentwickeln. Wie bei jeder anderen neuen Technologie auch, ist es nur natürlich, dass sich das System entwickeln wird, wenn man mehr darüber lernt. Jedes Team wird sein System im Laufe der Saison updaten."

Paddy Lowe: "Es wird definitiv konstante Weiterentwicklung bei KERS über das gesamte Jahr geben. Man muss dabei aber bedenken, dass der Technik Grenzen gesetzt sind, weil wir im Bereich Power und Energie begrenzt sind. Wenn du also die Höchstgrenze erreicht hast, wirst du das System eher in den Bereichen Gewicht, Effizienz oder Zuverlässigkeit entwickeln."

Frage: "Gibt es einen festen Plan, wie man das System im Rennbetrieb am besten einsetzt?"
Paddy Lowe: "Das wird von Strecke zu Strecke sicherlich verschieden sein. KERS wird auf manchen Rennstrecken mehr Auswirkungen haben als auf anderen. Die Hackordnung könnte sich von Strecke zu Strecke also etwas verschieben."
Ola Kallenius: "Es wird sicherlich für die verschiedenen Strecken auch verschiedene Strategien geben."

Frage: "Wie einfach ist es denn, KERS im Cockpit zu nutzen?"
Pedro de la Rosa: "Wir lernen noch. Es bedarf eines Feintunings, vor allem beim Bremsen. KERS lädt sich selbst auf. Wenn du also auf die Bremse gehst, generiert das System einen zusätzlichen Widerstand. Das muss man in Bezug auf die Balance irgendwie kompensieren. Man muss einen guten Kompromiss finden. Es ist nicht so, dass man KERS einbaut und sofort schneller wird. Es muss sich ins Gesamtkonzept einfügen. Die Schwierigkeit wird sein, alle Übergänge möglichst sanft zu gestalten."

Mehr Laufleistung für die Motoren

Frage: "Welche Schritte müssen unternommen werden, damit ein Motor nicht nur zwei, sondern bald drei Rennwochenenden lang hält?"
Ola Kallenius: "Das ist sicherlich keine unlösbare Aufgabe. Wir analysieren zur Zeit alle Zuverlässigkeitsfaktoren am Motor. Das gibt uns dann die Hinweise darauf, was für zur Verlängerung der Laufleistung tun müssen. Wie man sich vorstellen kann, gibt es natürlich einen Sicherheitspuffer bezüglich der Zuverlässigkeit bei jedem Triebwerk. Aber ihn einfach drei Rennen lang laufen zu lassen - so einfach ist es dann doch nicht."

Frage: "Wie geht Mercedes-Benz mit der Motorenangleichung im Winter um?"
Ola Kallenius: "Wie alle Hersteller müssen auch wir unsere Vorschläge bis zum 15. Dezember bei der FIA einreichen. Danach wird man darüber entscheiden, welches der beste Weg ist, um die Leistungen der Triebwerke anzugleichen."

Frage: "Was waren beim Test in dieser Woche in Barcelona eure Ziele?"
Indy Lall: "Gary war drei Tage dabei und Pedro fuhr am ersten Tag. Pedro hat für uns die Arbeit mit der neuesten Version von KERS erledigt. Wir haben uns zuletzt sehr mit der Aerodyanmik beschäftigt, aber trotzdem kleine Verbesserungen an KERS erzielt. Wir hatten auch ein Standardchassis im Einsatz, welches Gary fuhr. Er hat sich auf die Arbeit mit den neuen Slicks und mit dem Aerolevel für 2009 konzentriert."

KERS arbeitet mit Strom: Techniker fassen Autos mit Gummihandschuhen an Zoom

Frage: "Was passiert sonst während des Winters?"
Pedro de la Rosa: "Wir haben insgesamt drei Tests: in Barcelona, Jerez und Portimão. Es gibt viele Dinge zum Ausprobieren, angefangen mit den neuen Slicks. Wir werden die Reifenwärmer benutzten dürfen, daher wird man die Pneus besser auf Temperatur bringen und den Druck besser kontrollieren können. Außerdem kommen die ersten wirklichen Streckentests mit KERS. Außerdem fahren wir mit weniger Abtrieb und ohne all die Aerodynamikteile am MP4-23. Man muss innerhalb der begrenzten Testkilometer möglichst viel lernen. Darum geht es."

Doug McKiernan: "In Barcelona hatten wir alle Leitbleche abmontiert und den Abtrieb simuliert, den wir im kommenden Jahr in Melbourne erwarten. In Jerez und Portugal wollen wir einen 2009er Frontflügel verwenden, um zu verstehen, wie sich das auf das Handling des Fahrzeugs auswirkt."

Frage: "Haben sie die Abtriebsverhältnisse von 2009 auch schon in Barcelona simuliert?"
Indy Lall: "Alle Leitelemente, Flügelchen und Bargeboards, die in der kommenden Saison nicht erlaubt sein werden, haben wir abgebaut. Auf dieser Basis fangen wir nun erstmal an und dann arbeiten wir uns Schritt für Schritt voran. Wir hatten auch Flügeleinstellungen, die das Abtriebsniveau 2009 simulieren."

Wird es mehr Überholmanöver geben?

Frage: "Bekommt man mit einem Hybridfahrzeug, oder einem Übergangsauto wirklich relevante Eindrücke?"
Indy Lall: "Wir können damit verstehen, wie sich der Griplevel der Reifen und das Abtriebsniveau darstellen wird. Wir wollen damit natürlich ein Ziel erreichen. Aber ob das mit einem 2008er Chassis funktioniert, müssen wir erst noch sehen."

Frage: "Wie werden sich die Regeln denn in Bezug auf Abtriebsniveau, Balance und Rundenzeiten auswirken?"
Paddy Lowe: "Als die 'Overtaking Group' 2007 zusammentrat, war das Ziel, dass die Autos langsamer werden als 2008. Das war eine komplizierte Vorgabe, denn erstens wussten wir nicht, wie schnell die Autos sein würden und zweitens war uns nicht klar, wie gut die Slicks werden. Bridgestone hat zwar Vermutungen geäußert, aber vielleicht haben sie es ein wenig unterschätzt. Der Einfluss der Reifen dürfte größer sein als erwartet. Bezüglich der Aerodyanmik wollte die 'Overtaking Group' eine Halbierung des Abtriebs bei gleichbleibendem Luftwiderstand erreichen."

"Das konnten wir bei unseren Versuchen einfach nicht erreichen. Der Abtrieb ist zwar halbiert, aber eben nur mit etwas weniger Luftwiderstand. Da liegt schon etwas der Performance. Wir sind natürlich davon ausgegangen, dass die Teams einen guten Teil wieder herausholen werden, daher haben wir das schon mit einberechnet. Nichtsdestotrotz gab es noch Unwägbarkeiten und es war nicht klar, wie es sich letztlich darstellt. Ich weiß es nicht einmal heute genau. Wir haben uns unsere eigenen Ziele gesteckt, die wir im Lauf der Saison abhaken möchten. Aber wer weiß schon, was sich andere Teams als Ziel gesteckt haben?"

"Als wir die Slicks testeten, wurden die Rundenzeiten um drei Sekunden niedriger - nur wegen der Reifen!" Pat Fry

Frage: "Hat die 'Overtaking Group' dahingehend erfolgreich gearbeitet, sodass wir bald bessere Rennen sehen werden?"
Pat Fry: "Wir haben eine deutliche Reduzierung des Abtriebs erreicht - wenn auch nicht so viel wie geplant. Das wird die Autos zunächst einmal ein paar Sekunden langsamer machen. Wir werden allerdings weniger Luftwiderstand haben, daher ist etwas davon wieder egalisiert. Der Schritt zu Slicks ermöglicht die Wahl weicherer Mischungen. Als wir die Slicks testeten, wurden die Rundenzeiten um drei Sekunden niedriger - nur wegen der Reifen! Es gibt eine Verschiebung von Abtrieb hin zu mechnischem Grip durch die Reifen. Das Auto wird dadurch aerodynamisch weniger anfällig. Aber man kann zurzeit noch nicht definitiv sagen, ob sich das alles auf die hinterherfahrenden Fahrzeuge auswirkt."

Paddy Lowe: "Als Mitglied der 'Overtaking Group' hoffe ich natürlich, dass es einen großen Unterschied geben wird. Ich bin zuversichtlich, dass die Ergebnisse der Arbeitsgruppe ein guter Schritt sind. Zu behaupten, dass dies der ultimative Schritt zum besseren Überholen in der Formel 1 sei, wäre völlig falsch. Ich erwarte aber signifikante Auswirkungen. Ich denke, die Autos können einander besser folgen und besser fighten. Vielleicht werden die Piloten nun noch mehr profitieren können, falls der Vordermann eine Fehler macht. Die Regeln provozieren so etwas - hoffentlich tritt es in einem passenden Maß ein.

"In der 'Overtaking Group' haben wir uns darauf geeinigt, dass wir keine 'Basketball-Situation' wollen (wo ein Punkt aufgrund der Vielzahl der Punkte kaum einen Unterschied macht), wo ein schnelleres Auto also innerhalb von maximal einer Kurve an einem langsameren vorbeikommt. Das würde des Sport auch unglaublich langweilig machen. Wir hoffen, dass die neuen Regeln für bessere Unterhaltung sorgen. Vor allem soll das auf Strecken so sein, wo das Überholen bisher fast unmöglich schien. Das Streckenlayout macht aber auch weiterhin einen großen Unterschied aus."