• 15.10.2009 16:42

Lowe analysiert: McLaren, Überholen und Co.

Paddy Lowe, Ingenieursdirektor von McLaren, spricht über den Verlauf der Saison 2009 und einige interessante technische Hintergründe

(Motorsport-Total.com) - Als Ingenieursdirektor von McLaren und Mitglied der Arbeitsgruppe Überholen (Overtaking-Working-Group beziehungsweise OWG) gilt Paddy Lowe als einer der schlauesten Köpfe der Formel 1. Im Rahmen einer Telefonkonferenz sprach er im Vorfeld des Grand Prix von Brasilien über die Saison 2009, das ewige Überholproblem und viele andere interessante Themen.

Titel-Bild zur News: Paddy Lowe

Paddy Lowe hofft, dass die Silbernen Ferrari in der WM noch abfangen werden

Frage: "Paddy, wie wichtig ist es für McLaren, in der Konstrukteurs-WM vor dem alten Rivalen Ferrari Dritter zu werden? Ist das entscheidend für euch? Und könnt ihr es schaffen?"
Paddy Lowe: "Die Antwort lautet ja, das ist sehr wichtig für uns. Natürlich würden wir die WM am liebsten gewinnen. Das ist diese Saison außer Reichweite, aber wenn du Dritter statt Vierter bist, stehst du wenigstens auf dem Podium."#w1#

Das ewige Duell: Silber vs. Rot

"Unseren langjährigen Rivalen Ferrari zu schlagen, ist für unseren Stolz und für unsere Ingenieure aber fast noch wichtiger. Sie haben uns in den vergangenen zwei Jahren bei den Konstrukteuren jeweils besiegt, daher ist das für uns ein wichtiges Ziel. Es ist zu schaffen - momentan fehlen uns ja nur zwei Punkte. Es sind noch zwei Rennen zu fahren und es kann in alle Richtungen eine Menge passieren. Wir dürfen auch Toyota noch nicht außer Acht lassen. Die sind momentan Fünfter und haben nur 10,5 Punkte Rückstand. Die sind eine Bedrohung."

"Ferrari hatte mit der Fisichella-Seite ihrer Garage zuletzt ein bisschen Schwierigkeiten." Paddy Lowe

Frage: "Habt ihr eine spezielle Strategie für die nächsten zwei Rennen, um Ferrari zu schlagen und Toyota hinter euch zu halten?"
Lowe: "Nein, da gibt es nichts Besonderes. Wir wollen mit beiden Fahrern punkten. So gesehen haben wir einen leichten Vorteil, denn Ferrari hatte mit der Fisichella-Seite ihrer Garage zuletzt ein bisschen Schwierigkeiten."

Frage: "Ferrari sagt schon seit einer Weile, dass sie die Weiterentwicklung des F60 eingestellt haben, während ihr zu jedem Rennen neue Teile bringt. Glaubst du Ferrari - und wenn ja, warum habt ihr euch nicht für die gleiche Vorgehensweise entschieden?"
Lowe: "Es hat mich von Anfang an verwundert, so etwas bekannt zu geben, denn die Weiterentwicklung ist in der Formel 1 ein fließender Prozess, besonders ohne Testfahrten."

"Das Freitagstraining ist die beste Gelegenheit, neue Teile zu untersuchen - sei es für das jeweilige Rennwochenende oder für das nächste Jahr. Daher bringen wir laufend neue Teile, die wir in der Fabrik entwickeln. Der Prozess der Weiterentwicklung von einem Jahr auf das nächste ist kein digitaler, sondern ein analoger. Das verschiebt sich fortdauernd - und die Frage ist, wie schnell es sich verschiebt. Wir befinden uns am Ende dieser Verschiebung. Es überrascht uns, dass Ferrari schon so früh bekannt gegeben hat, 100 Prozent erreicht zu haben."

Die Auswirkungen des Tankverbots

Frage: "Nächstes Jahr gibt es ein Tankverbot. Welche Auswirkungen erwartest du auf das Fahrzeugdesign und auf die Rennstrategien? Die Autos werden nun nach den Boxenstopps schneller sein als vorher, nicht wahr?"
Lowe: "Das ist in der Tat eine sehr große Veränderung, die den Teams viel abverlangt, sei es das Design des Benzintanks über das Sicherheitsrisiko bis hin zur Strategie. Die Rennen werden sich nächstes Jahr ganz anders entwickeln - manche sagen weniger interessant, aber davon bin ich nicht überzeugt. Ich glaube, man darf frisches Interesse erwarten."

"Diese Autos sind Sprinter." Paddy Lowe

"Die Autos werden sich vom Gewicht her vom Start bis ins Ziel stark verändern. Vor 1994 war das ganz normal, aber seither ist das Gewicht auch zu einer normalen analogen Veränderung geworden. Im Moment ist es nur ein linearer Anstieg der Rundenzeit, wenn man Gewicht hinzufügt. Diese Autos sind Sprinter. Wir kommen jetzt aber in den Bereich, in dem so ein Auto eine ganz andere Maschine ist, wenn man 160 Kilogramm Benzin dazurechnet."

"Außerdem wird man bis zu einem gewissen Grad die Qualifyingperformance für einen Performancegewinn im Rennsetup opfern müssen. Das kann Variation in die Rennen bringen, weil die Performances der Autos abhängig vom gerade gefahrenen Gewicht schwanken werden. Der andere Faktor sind die Reifen. Derzeit sagt Bridgestone, dass ihre Reifen auf 200 Kilometer ausgelegt sein werden. Noch ist nicht klar, was passieren wird, wenn man länger damit fahren will. Die Rennen sind 300 Kilometer lang, also besteht ein gewisses Interesse daran, wie die Teams ihre Reifen einsetzen."

"Man darf auch den Punkt nicht außer Acht lassen, dass wir pro Rennen mindestens einmal Prime und Option fahren müssen. Das war vor der Einführung der Tankstopps nicht der Fall. Gut möglich, dass das Design der Reifen sogar zu mehr Reifenwechseln als nur einem verleiten könnte. Die Leute gehen davon aus, dass es nur einen Stopp geben wird, aber es kann sein, dass die Reifen so stark abbauen, dass man mehr als einen Stopp benötigt - zumindest bei ein paar Rennen."

Wettkampf der Boxencrews

Frage: "In den vergangenen Jahren wurde die Dauer eines Boxenstopps von der Tankmenge bestimmt und nicht vom Reifenwechsel. Müssen wir nun wieder damit rechnen, dass eine Rekordjagd um den schnellsten Reifenwechsel losgeht? Ist das ein zusätzliches Risiko und ein zusätzliches Spektakel?"
Lowe: "Ich freue mich schon sehr auf die Boxenstopps. Als wir 1994 die Tankstopps eingeführt haben, haben wir das Spektakel der Boxenstopps ein bisschen verloren, finde ich. Der Konkurrenzkampf zwischen den Teams um den schnellsten Reifenwechsel war faszinierend."

¿pbvin|512|2054||0|1pb¿"Jetzt, wo die Formel 1 noch umkämpfter ist als in der Vergangenheit, rechne ich damit, dass wir einige unglaubliche Wechselzeiten erleben werden. Das bringt auch ein nettes menschliches Element rein und es setzt die Mechaniker mehr in Szene als in der Vergangenheit. Im Moment ist ihre Aufgabe, es nicht zu verbocken, während sie ab nächstes Jahr möglichst schnell sein müssen und es nicht verbocken dürfen. Ich finde, das wird großartig."

Frage: "Die radikalen Regeländerungen dieser Saison haben nicht zu viel mehr Überholmanövern geführt. Was würde dieses Problem deiner Meinung nach am ehesten lösen?"
Lowe: "Die OWG hat viel Arbeit in die Regeln investiert, aus denen die diesjährigen Autos entsprungen sind. Es war kein riesiger Erfolg, da bin ich der Erste, der zustimmt. Gleichzeitig war es aber auch kein totaler Flop."

"Die OWG und damit die von ihr geplanten Änderungen des Bodyworks folgten zwei Grundprinzipien, um das Überholen zu erleichtern: einerseits die Reduktion des aerodynamischen Anpressdrucks und andererseits eine Änderung der Natur des Bodyworks, um bei einem bestimmten Anpressdruckniveau leichter folgen zu können. Der Vorteil dieser beiden Effekte war gleich verteilt."

Anpressdruck fast wiederhergestellt

"Der Vorteil des absoluten Anpressdruckniveaus ging fast komplett verloren, weil die Autos fast schon wieder auf 2008er-Niveau sind, was den Anpressdruck angeht. Von einem Effekt, der nicht eingetreten ist, sollten wir uns auch nichts erwarten. Was die Natur des Bodyworks angeht, so ist der Effekt schwierig zu beurteilen, aber von dem Feedback, das wir von den Fahrern bekommen, ist es marginal besser und nicht schlechter geworden. Jemandem zu folgen, ist also nicht schrecklich, aber wir sehen deswegen auch kaum mehr Überholmanöver."

"Die Performance der Autos liegt so eng beisammen wie noch nie, was für das Überholen negativ ist." Paddy Lowe

"Wir sollten keine Wunder erwarten. Die Performance der Autos liegt so eng beisammen wie noch nie, was für das Überholen negativ ist. Ganz egal, was wir auch machen, wir müssen die Aerodynamik wegen der Performance erhalten, damit wir die Königsklasse des Motorsports bleiben. Das wird also immer ein Problem bleiben. Von Zeit zu Zeit müssen wir die Regeln maßschneidern und die Aerodynamik auch aus Sicherheitsgründen beschneiden, dann bleiben die Überholmanöver in einem ähnlichen Bereich, wie sie heute sind. Ich denke nicht, dass wir sie dramatisch verbessern können."

"Ich persönlich glaube, dass wir am meisten erreichen können, wenn wir uns die Strecken anschauen. Erst kürzlich haben wir darüber mit Martin Whitmarsh gesprochen, der ein sehr offensichtliches Statement abgegeben hat, das ich sehr sinnvoll finde. Wenn wir an eine Strecke kommen und den Fahrer fragen, wo man überholen kann, dann wird er sagen: 'Es gibt nur eine Stelle, die ist genau hier.' Alle Fahrer sind sich einig, welche Kurve das ist. Wenn man dieser Logik folgt, dann sollten wir einfach mehr Kurven nach diesen Eigenschaften bauen."

Frage: "Glaubst du, dass die Arbeitsgruppe Überholen effektiver gewesen wäre, wenn man die Doppeldiffusoren verboten hätte, oder ist das eine zu drastische Vereinfachung?"
Lowe: "Ich denke, es gibt auf jeden Fall einen solchen Effekt, sei es nur deswegen, weil die Stufendiffusoren den Anpressdruck dramatisch erhöhen, was von der OWG nicht vorhergesehen wurde. Weil sich der absolute Anpressdruck auf die Luftverwirbelungen auswirkt, verliert das hinterherfahrende Auto dann mehr Anpressdruck. Zu sagen, dass die OWG deshalb nicht die erhofften Ergebnisse gebracht hat, würde aber einen Schritt zu weit gehen."

Aufholjagden auch in Zukunft möglich?

Frage: "McLaren hat nach einem schwierigen Saisonbeginn eine unglaubliche Wende geschafft. Wird es in Zukunft schwieriger, während der Saison so aufzuholen, wenn die Ressourcenbeschränkungen erst einmal greifen?"
Lowe: "Ich glaube nicht, dass es viel schwieriger wird. Was wir tun, hängt meistens mit der Genialität und der angewandten Problemlösungsstrategie der Teams zusammen."

"Es geht nicht darum, Geld auf die Probleme zu werfen." Paddy Lowe

"Es geht nicht darum, Geld auf die Probleme zu werfen. Natürlich wird es finanzielle Herausforderungen geben, wenn man sich überlegen muss, wie man sein Geld in einem Zwölfmonatszyklus am effizientesten einsetzt und wie man zwischen dem Basisauto und der Weiterentwicklung während der Saison verteilt. Entwicklung ist nie gratis, aber ich denke nicht, dass dieser Aspekt unsere Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigen wird."

Frage: "Welche Ingenieursentscheidungen des Teams würdest du zurücknehmen, wenn du die Uhr zurückdrehen könntest?"
Lowe: "Seit Deutschland haben wir mehr Punkte geholt als jedes andere Team, was sehr zufrieden stellend ist. Wir haben einige Fehler gemacht, die wir auch zugegeben haben. Ein solcher Bereich ist die Installation von KERS und die Gewichtsverteilung. Wir haben einen Fehler bezüglich der Gewichtsverteilung zwischen vorne und hinten gemacht. Mit KERS im Auto hatten wir am Saisonbeginn keinen Spielraum, um dem gegenzusteuern."

"Es gibt da die fundamentale Designentscheidung, die wir noch einmal treffen würden. Es gibt aber auch aerodynamische Entscheidungen, die wir jetzt anders treffen würden, aber das im Detail zu beschreiben, ist zu schwierig. Der andere große Faktor war die Interpretation der Regeln im Unterbodenbereich. Ich weiß nicht, wie weit wir damit jetzt wären, aber wenn ich die Wahl hätte, würde ich gemeinsam mit allen anderen Teams von Beginn an daran arbeiten. Das hätte uns sicher geholfen."

Anpressdruck bleibt die Problemzone

Frage: "Du hast erwähnt, dass die Performance sehr streckenspezifisch geworden ist. Am Saisonbeginn waren Strecken mit schnellen Kurven für McLaren nicht gut, aber in Suzuka habt ihr es auf das Podium geschafft. Überrascht es dich, dass ihr dieses Problem gelöst habt?"
Lowe: "Hinsichtlich der letzten vier Überseerennen des Jahres haben wir uns über Suzuka am meisten Kopfzerbrechen gemacht, daher hat uns der Podestplatz sehr angenehm überrascht. Die Performance des Autos war stark, aber in den schnellen Kurven war sie immer noch schlecht. Das ist noch keine Stärke von uns, aber das Gesamtpaket ist dennoch gut genug, um wieder um Siege zu kämpfen."


Fotos: McLaren-Mercedes, Großer Preis von Japan, Sonntag


Frage: "Wie habt ihr euch auf Abu Dhabi vorbereitet und welche Performance erwartest du dort vom MP4-24?"
Lowe: "Wir haben einen Simulator, für den wir ein sehr gutes Modell der Strecke mit präzisen Umfrage- und Bilddaten geschaffen haben, um dem Fahrer die richtigen Perspektiven zu ermöglichen. Beide Fahrer werden das am Simulator testen - noch war das nicht der Fall. Sie werden vorbereitet sein, wenn sie auf die Strecke gehen, weil sie die Strecke dann bereits kennen. Wir werden auch bereits ein detailliertes Setup haben."

"Generell - nicht nur auf Abu Dhabi bezogen - sind wir sehr gut darin, am Freitag sofort in die Gänge zu kommen. Das bedeutet noch lange nicht, dass man das Wochenende schon gewonnen hat, weil sich die anderen im Training ja auch weiterentwickeln, aber ich denke, dass wir hinsichtlich Streckenkenntnisse und Setup besser aufgestellt sein werden als die meisten anderen Teams. Wird das Auto funktionieren? Wir glauben, dass es einigermaßen gut sein wird."

"Diese Saison war voller Überraschungen. Die Performances der Teams liegen so eng beisammen, dass der Grat zwischen Erstem und Letztem sehr schmal ist. Wir haben einen Punkt erreicht, an dem die streckenspezifischen Stärken und Schwächen der Autos fast größer sind als die durchschnittlichen Unterschiede zwischen den Autos. Ich denke auch, McLaren hat einen Punkt erreicht, an dem wir im Durchschnitt recht gut sind. Wir scheinen öfter als die anderen Teams konstant vorne zu sein, zumindest in der zweiten Saisonhälfte. Abu Dhabi gehört zu den Strecken, auf denen wir erwarten, recht konkurrenzfähig zu sein."