• 27.07.2009 12:55

  • von Dieter Rencken & SID

Helme: Trotz Hightech bleibt Restrisiko

Die hohen Standards der Formel 1 haben Felipe Massa vor noch wesentlich schwereren Verletzungen bewahrt: Interview mit Arai-Experte Peter Bürger

(Motorsport-Total.com/SID) - 12.000 Euro teuer, 1350 Gramm schwer, entwickelt mit Hilfe von Rekordweltmeister Michael Schumacher: Ein Helm des Magdeburger Herstellers Schuberth hat dazu beigetragen, dass der Brasilianer Felipe Massa seinen schweren Unfall im Qualifying zum Großen Preis von Ungarn am Samstag vergleichweise "glimpflich" überstanden hat.

Titel-Bild zur News: Felipe Massa

Felipe Massa wurde von seinem Helm vor noch schwerern Verletzungen bewahrt

Der RF1.7, auf den neben Massa auch dessen Formel-1-Kollegen Nick Heidfeld, Nico Rosberg und Kimi Räikkönen, GP2-Spitzenreiter Nico Hülkenberg sowie in der DTM Ralf Schumacher vertrauen, besteht aus 18 Lagen der hochfesten Kohlefaser T1000. Das Visier ist 4 Millimeter dick und besteht aus Polycarbonat, die Schrauben am Visier und am Kinnriemen sind aus Titan.#w1#

Rund 10 Exemplare, die in der Größe speziell auf sie abgestimmt sind, erhalten die Fahrer pro Saison. Massas Helme haben dabei die gleiche Größe wie die von Michael Schumacher.

"Die Grundentwicklung dieses Helmes geht auf Michael Schumacher zurück, der die Entwicklung von Kohlefaserhelmen sehr gepuscht hat." Oliver Schimpf

"Die Grundentwicklung dieses Helmes geht auf Michael Schumacher zurück, der die Entwicklung von Kohlefaserhelmen sehr gepuscht hat", sagt Oliver Schimpf, verantwortlich für das Formel-1-Programm von Schuberth. Das Helmgehäuse ist so stabil, dass man an die Aufhängungen für die beiden Halteseite des Nackenschutzes HANS jeweils einen 1,5 Tonnen schweren Kompaktwagen hängen könnte.

Die Außenschale hat bei Massas Unfall, bei dem ihm bei Tempo 240 eine rund 800 Gramm schweren Stahfeder aus dem Auto von Rubens Barrichello über den Frontflügel gegen den Helm flog, so viel Energie abgebaut, dass die Wirkung direkt am Kopf "nur" noch etwa doppelt so hoch war wie ein Treffer von "Dr. Steelhammer" Wladimir Klitschko.

¿pbvin|512|1810||0|1pb¿Im Appendix L zum International Sporting Code des Automobil-Weltverbandes FIA ist für Formel-1-Helme der höchste FIA-Standard 8860-2004 vorgeschrieben. Dessen Grenzwerte sind rund doppelt so hoch wie noch 1994 vor dem bislang letzten tödlichen Fahrer-Unfall des Brasilianers Ayrton Senna.

Im Exklusiv-Interview mit 'Motorsport-Total.com' spricht der Formel-1-Verantwortliche des Helmherstellers Arai, Peter Bürger, über die hohen Sicherheitsstandards in der Formel 1. Er erklärt, warum es immer einen Kompromiss zwischen Sicherheit und Tragekomfort gibt und warum die Sicherheitsexperten oft erst aus schweren Unfällen lernen können:

"Die Helme müssen vielen verschiedenen Tests standhalten: Aufpralltests, Durchschlagstests, Visiertests und Feuertests." Peter Bürger

Frage: "Was ist in Sachen Helm derzeit der FIA-Sicherheitsstandard?"
Peter Bürger: "Das ist eine sehr komplexe Frage, die ich nicht in einem Satz beantworten kann. Die Helme müssen vielen verschiedenen Tests standhalten: Aufpralltests, Durchschlagstests, Visiertests und Feuertests. Es gibt zwei verschiedene Anforderungen, denen die Helme entsprechen müssen. Zum einen müssen sie der Snell-2005-Norm entsprechen, das wird mit den herkömmlichen Tests überprüft. Dazu kommen die Vorgaben des FIA-Standards 8860. Das sind die Sicherheitsvorschriften der FIA für Kohlefaserhelme. Das ist ein extrem hoher Standard für Motorsporthelme."

Frage: "Gibt es 2010 einen neuen Snell-2010-Standard?"
Bürger: "Ja, er gilt ab Oktober 2010."

Frage: "Stimmt es, dass die aktuelle Snell-2005-Norm ganz anders ist als der FIA-Standard? Sie sollen nicht mit einander vergleichbar sein..."
Bürger: "Ja, es gibt einige Parameter, die nicht zusammenpassen. Aber alle arbeiten daran, hier einen guten Kompromiss zu finden, um das zu lösen."

Kompromisslösungen sind unvermeidbar

"Man kann ihn so verstärken, dass er jeden Unfall schadlos übersteht - aber dann kann ihn niemand mehr tragen." Peter Bürger

Frage: "Der Unfall von Felipe Massa war tragisch und außergewöhnlich, aber Helme werden dafür entworfen, bei außergewöhnlichen Unfälle zu schützen. Kann etwas unternommen werden, um die Helme im Gesichtsbereich zu verstärken?"
Bürger: "Ja, aber man muss dabei daran denken, dass der Helm auch tragbar sein muss. Man kann ihn so verstärken, dass er jeden Unfall schadlos übersteht - aber dann kann ihn niemand mehr tragen. Wir haben also auch hier einen gewissen Kompromiss zwischen dem, was technologisch möglich ist und dem, was für den Fahrer noch tragbar ist.

"Das Gleiche gilt für das Visier. Man kann nur spekulieren, aber wenn die Feder fünf Zentimeter weiter unten direkt getroffen und direkt das Visier durchschlagen hätte, hätte man fragen können, ob man nicht hätte das Visier verstärken können. Sicherlich wäre auch das möglich, aber dann kann man sie nicht mehr benutzen. Wir können sie nicht aus Panzerglas oder Ähnlichem fertigen. Das ist schlichtweg unmöglich."

"Durch diese Unfälle zeigt sich erst, welche weiteren Anforderungen an die Helme gestellt werden müssen." Peter Bürger

Frage: "Wir haben mit Dr. Helmut Marko gesprochen, der damals wegen eines Steins sein Auge verloren hat. Sind die Helme heute robust genug, um solchen Aufschlägen zu widerstehen?"
Bürger: "Ja. Denn sein Unfall war die Basis, um das Visier-Reglement zu ändern. Es sind natürlich traurige Geschichten, aber im Normalfall werden die Regeln nach solchen Unfällen geändert. Denn durch diese Unfälle zeigt sich erst, welche weiteren Anforderungen an die Helme gestellt werden müssen. Dinge, die man zuvor nicht gewusst hat."

"Niemand weiß genau, welche Kräfte auf die Schale gewirkt haben, was genau passiert ist, mit welcher Geschwindigkeit die Feder aufgeschlagen ist. Deshalb ist es im Moment sehr schwierig, dazu etwas zu sagen. Selbst wenn die Leute sagen, dass die Aufschlagskraft auf das Visier einem Gewicht von einer Tonne entsprochen hat - das kann sein, es können aber auch nur 500 Kilogramm gewesen sein. Das ist alles sehr spekulativ, deshalb würde ich darüber im Moment gar nichts sagen."


Fotos: Großer Preis von Ungarn


Frage: "Es ist also fast unmöglich, genau zu sagen, mit welchem Schwung und welcher Geschwindigkeit die Feder aufgeschlagen ist?"
Bürger: "Ja, das ist unmöglich."

"Vor zehn Jahren hätte die Feder seinen Kopf vielleicht völlig durchschlagen." Peter Bürger

Frage: "Es ist keine Frage, dass es ein tragischer, ungewöhnlicher Unfall war, den niemand so vorhersehen konnte..."
Bürger: "Man muss es andersherum sehen: Vor zehn Jahren hätte die Feder seinen Kopf vielleicht völlig durchschlagen und sie hätte viel mehr Schaden angerichtet als heute. Alle drei Hersteller, die Formel-1-Helme anbieten, arbeiten mit dem extrem hohen FIA-Standard. Und auch wenn der Helm beschädigt ist, hat er seine Aufgabe erfüllt: Er hat Felipe davor bewahrt, sich noch wesentlich schwerere Verletzungen zuzuziehen als die, die er erlitten hat. Es gibt auch eine positive Seite, die man bei solchen Dingen sehen kann. Man kann sagen, dass sein Kopf sehr gut geschützt war."

Frage: "Sie haben von drei Herstellern gesprochen, ich habe gehört, dass es vier Helmproduzenten gibt, die eine Formel-1-Lizenz haben..."
Bürger: "Ich denke, dass es da sogar derzeit noch mehr gibt. Aber es werden nur drei Marken eingesetzt."