• 08.07.2010 13:06

  • von Christian Nimmervoll & Dieter Rencken

Chapman: "Mein Vater wäre extrem frustriert"

Exklusiv: Clive Chapman und Tony Fernandes sprechen über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Formel-1-Traditionsteams Lotus

(Motorsport-Total.com) - In Valencia feierte Lotus seinen 500. Grand Prix in der Formel 1, wobei es freilich erst der neunte seit dem Wiedereinstieg unter neuer Führung war. Mit der alten Garagistencrew von Colin Chapman, die mit ihren Erfolgen und technischen Innovationen Geschichte geschrieben hat, hat Lotus neu allerdings nichts mehr zu tun.

Titel-Bild zur News: Lotus-Gruppenfoto zum 500. Grand Prix

Das Lotus-Team bestritt in Valencia seinen insgesamt 500. Grand Prix

Dennoch ist die Chapman-Familie stolz auf das neue Projekt, das von Teamchef Tony Fernandes und Mike Gascoyne geleitet wird: "Sie machen das großartig", lobt Colins Sohn Clive Chapman im Interview mit 'Motorsport-Total.com'. "Sie respektieren die Geschichte - und ich finde sogar, sie legen sich damit fast eine Bürde auf, denn dadurch entsteht eine riesige Erwartungshaltung. Das Medieninteresse ist gigantisch und die Mechaniker haben das Gefühl, dass sie für die Marke Lotus arbeiten. Das ist wunderbar."#w1#

Fernziel ist Erfolg in der Formel 1

"Mein Dad würde sich für das Team nicht schämen", widerspricht er Kritikern, die finden, dass Lotus mit den derzeitigen Leistungen dem Ruf der Traditionsmarke eher schadet. "Sie geben ihr Bestes, und zwar aus den richtigen Gründen. Sie sind nicht als Lückenbüßer hier und sie dienen nicht nur dem Egotrip einer einzelnen Person. Sie sind hier, um zu gewinnen. Auch das erinnert mich an meinen Dad, denn für ihn war immer der einzige Grund, ein Rennauto zu bauen, Rennen zu gewinnen."

Selbst für Fernandes hat Chapman einiges übrig: "Tony Fernandes ist meinem Vater als Charakter sehr ähnlich. Er ist ein Unternehmer, ein großartiger Motivator. Mike Gascoyne geht das Thema Technologie und Design sehr aggressiv an. Da wäre mein Dad nicht anders gewesen, denn für ihn war auch nichts unmöglich", sagt der Brite, der Fernandes eine der legendären Kappen seines Vaters geschenkt hat. "Die werde ich nach unserem ersten Sieg in die Luft werfen - genau so, wie es früher Colin Chapman gemacht hat", kündigt der hauptberufliche Airliner an.

Fernandes hat immer ein Leuchten in den Augen, wenn er von der Formel 1 spricht. Er gibt gerne Interviews, nimmt sich Zeit, wann immer es möglich ist. Die vergangenen Wochen war er aber gesundheitlich etwas angeschlagen: "Es ist nicht die Arbeit, sondern das viele Reisen und der Schlafmangel", sagt der Malaysier, der eigenen Angaben nach nur 20 Prozent seiner Zeit mit der Formel 1 verbringt und die restlichen 80 Prozent für AirAsia unterwegs ist - teilweise 40 Stunden pro Woche in der Luft.

¿pbvin|512|2465||0|1pb¿Den Vorwurf, sich zu wenig um Lotus zu kümmern, lässt er nicht gelten: "Es geht nicht um die Zeit, sondern um die Qualität der Zeit. In diesen 20 Prozent muss ich die richtigen Entscheidungen treffen", sagt Fernandes, der trotz der schwierigen Premierensaison vom ganz großen Durchbruch träumt: "Red Bull war auch mal hinten, aber jetzt fahren sie um die Weltmeisterschaft. Das muss auch unser Ziel sein."

"Wenn wir nach neun Rennen immer noch am gleichen Fleck stehen würden wie in Bahrain, würde ich mir Sorgen machen. Aber je länger die Saison dauert, desto besser unsere Performance - der Abstand zu den zwei anderen neuen Teams wird immer größer", betont er. "Das war das erste Ziel: diesem großen Namen Respekt erweisen. Oft werde ich gefragt, ob wir den Namen Lotus nicht verunglimpfen. Da antworte ich immer: Nein, denn als Lotus vor 16 Jahren ausgestiegen ist, waren sie ohnehin ganz hinten! Jetzt beginnen wir auf dem gleichen Level."

Derzeit geht es darum, sich vom hinteren Feld zu lösen und Teams wie Toro Rosso, Sauber und Williams anzugreifen. "Das ist Jahr eins", gibt Fernandes zu Protokoll. "Nächstes Jahr wollen wir zum Mittelfeld aufschließen. Mike und sein Team haben dafür 16 Monate Entwicklungszeit, genau wie alle anderen auch. Für dieses Auto waren es ja nur sechs Monate. Sie werden mehr Wissen haben und den Vorteil, dass sie sich schon seit mehr als zwölf Monaten kennen. Wir sind ja ein brandneu zusammengestelltes Team."

Teamgeist schon jetzt einzigartig

Die Atmosphäre bei Lotus war von Anfang an toll und "mit dem neuen Motorhome, das wir in Silverstone bekommen, haben wir dann alles, was ein Formel-1-Team braucht", so Fernandes, der zudem unterstreicht: "Die Fahrer sprechen schon davon, ihre Karriere bei uns beenden zu wollen, selbst der jüngere! Das zeigt, was für ein Teamgeist bei uns entstanden ist. Das war eigentlich mein Hauptziel für dieses Jahr. Nächstes Jahr dann das Mittelfeld und dann sehen wir weiter."

"Ich finde", ergänzt Chapman, "dass sie die Erwartungen gleich vom ersten Rennen in Bahrain an übertroffen haben. Als ich beim ersten Shakedown in Silverstone war, dachte ich noch: 'Niemals kriegen die das hin!' Aber sie haben es hinbekommen. Sie haben sich inzwischen als schnellstes der neuen Teams durchgesetzt, aber eigentlich war das ja schon in Bahrain der Fall. In Montréal waren sie zum ersten Mal fast schneller als ein etabliertes Team und in Valencia waren sie auch wieder nahe dran. Das ist der Meilenstein, der bald kommen wird."

Clive Chapman

Der kleine Clive Chapman lernte die Formel 1 schon im Kindesalter kennen Zoom

In der Weltmeisterschaft sind derzeit nur die drei neuen Teams noch ohne Punkte, Lotus liegt aber dank der besseren Einzelergebnisse außerhalb der Top 10 auf dem zehnten Platz. Diesen zu verteidigen, muss laut Chapman das große Saisonziel sein: "Es ist wegen finanzieller Vergünstigungen ungemein wichtig, dass sie unter die Top 10 der Konstrukteurs-WM kommen", unterstreicht der Sohn des legendären Lotus-Gründers.

Er selbst erfüllt übrigens keine aktive Rolle, unterstützt das Team aber moralisch. Bei seinem Besuch in Valencia zeigte er sich beeindruckt: "Ich war 1990 das letzte Mal bei einem Grand Prix. Alles ist viel professioneller geworden, bis ins kleinste Detail - und es gibt kaum noch Ausfälle wegen technischer Defekte. Aber als ich dann in die Garage ging, kam mir das alles sehr ähnlich vor. Die Aufgabenliste ist zwar viel länger als früher, aber die Mechaniker brauchen bei weitem nicht so lange dafür, weil die Teile für eine praktische Handhabung designt sind."

Seinem Vater Colin würde das heutige Lotus-Team gefallen, sagt Chapman. Was die Formel 1 als Sportart angeht, ist er sich aber nicht so sicher: "Mein Vater wäre extrem frustriert über das enge Reglement. Er war immer der Meinung, dass es gar keine Regeln geben sollte. Das, was ihn heute am meisten stören würde, wäre die Tatsache, dass er mit einer neuen Idee erstmal zur FIA gehen müsste", so der Brite, der zu Hause einen handgeschriebenen Zettel seines Vaters liegen hat, auf dem dieser ein Formel-1-Reglement mit gerade mal sechs Regeln verfasst hat.

Übrigens: Woher der Name Lotus eigentlich stammt, weiß niemand so genau. Der Legende nach hat Chapman sein Rennteam nach seiner Frau benannt, die heißt aber Hazel. Chapman jun. klärt auf: "Das ist ein Geheimnis meiner Eltern, das ich selbst nicht kenne. Ganz ehrlich: Meine Mutter hat es auch mir nie verraten. Eigentlich finde ich das auch ganz gut so, denn das ist eine sehr private Angelegenheit zwischen den beiden." Gut möglich also, dass Hazel Chapman dieses Geheimnis ins Grab mitnehmen wird...