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Analyse: Ist Mercedes in Schwierigkeiten oder ist alles Teil eines Plans?

Bei den Formel-1-Tests in Bahrain traten am Mercedes W12 unerwartete Probleme auf, doch was bedeuten sie wirklich? Wir suchen nach Antworten

(Motorsport-Total.com) - Das Kräfteverhältnis des Formel-1-Feldes nach den Vorsaisontests akkurat zu beurteilen, war schon immer schwierig. Es gibt eine Vielzahl an Variablen, die niemand außer den Teams kennt, und das kann selbst die fundiertesten Vermutungen obsolet machen.

Titel-Bild zur News: Lewis Hamilton

Wie groß sind die Probleme im Weltmeisterteam Mercedes wirklich? Zoom

Trotzdem sind Spekulationen darüber, wer wo in der Hackordnung sitzt, immer faszinierend - und in diesem Jahr ist es noch faszinierender, weil man sich unweigerlich fragen muss, was wirklich mit Mercedes und dem W12 los ist. Als siebenfacher Champion war es immer das Team, das während der Vorsaisontests unter besonderer Beobachtung stand, denn wer hoch geflogen ist, kann umso tiefer fallen.

Es ist auch das Team, das bei einer Regeländerung am meisten zu verlieren hat, und davon gab es in den vergangenen Jahren einige. Aber wo es wirklich gegen den Hauptrivalen Red Bull steht, der 2020 das Saisonfinale in Abu Dhabi gewann, war schwer einzuschätzen, weil beide Teams verschiedene Wege eingeschlagen haben.

In der Realität haben Mercedes und Red Bull zwei sehr unterschiedliche Entwicklungsprogramme. Während sich das in Milton Keynes ansässige Team auf der Strecke zum Ende der vergangenen Saison steigerte, weil es weiter an der Verbesserung des RB16 arbeitete, hatte Mercedes seinen Fokus längst auf das Design für 2021 und später 2022 gelegt.

Dies war zweifellos eine bewusste Entscheidung, die getroffen wurde, um den Übergang in den Kostendeckel zu erleichtern und die Auswirkungen der leistungsabhängigen Begrenzung von Entwicklungswerkzeugen wie CFD und Windkanal zu berücksichtigen, die am 1. Januar 2021 in Kraft getreten ist.

Intern hatte man gehofft, dass dies Mercedes den nötigen Spielraum verschaffen würde, um die Auswirkungen der Regeländerungen zu untersuchen und Wege zu finden, die damit verbundenen Verluste wieder auszugleichen.


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Aber durch ein Getriebeproblem am ersten Tag des Tests geriet man ins Hintertreffen, die Gesamtlaufleistung war dadurch begrenzt. Insgesamt wirkte das Auto im Vergleich zu seinen Konkurrenten einfach unausgeglichen. Es offenbarte sich eine Instabilität des W12, die bei seinem Vorgänger nicht vorhanden war.

Was hat sich also geändert? Ist der Silberpfeil wirklich in Schwierigkeiten oder hat er sein Potenzial bis zum ersten Rennen absichtlich versteckt?

B-Spec-Auto in Bahrain?

Sowohl 2017 als auch 2019, als der Sport ebenfalls Regeländerungen durchlief, entschied sich Mercedes dafür, zum Vorsaisontest mit einem Basisauto anzureisen, das nicht über den neuesten Schnickschnack verfügte, aber es ermöglichte, Aero- und Reifendaten zu sammeln, Simulationen durchzuführen und ein echtes Gefühl dafür zu bekommen, wie sich das Auto aus operativer Sicht verhält.

Natürlich gab dieser Ansatz keinen wirklichen Aufschluss über die ultimative Leistung des Autos, aber das war auch nie wirklich der Plan. Die Absicht bestand darin, die Ressourcen in der Fabrik so zu bündeln, dass man zum ersten Rennen mit der aktuellsten Version des Autos anreisen konnte.

Schließlich verläuft die Entwicklung eines Formel-1-Autos nicht völlig linear, wobei eine Leistungssteigerung des Autos davon abhängt, dass alle Glieder der Kette einwandfrei laufen. Ein großes Bauteil wie ein Frontflügel oder ein Boden dauert zum Beispiel viel länger als ein Element für das Bargeboard-Cluster.

Und da jedes dieser Elemente auf das andere angewiesen ist, um die maximale Leistung freizusetzen, bedeutet das im Umkehrschluss, dass es zu Instabilitätsproblemen kommen kann, wenn man eines ohne das andere einbaut.


Fotos: Mercedes, Formel-1-Test 2021 in Sachir


Dieses Vorgehen entspricht dem Plan von Mercedes, die fortschrittlichste Version des Autos für das erste Rennen der Saison zur Verfügung zu haben, anstatt Teile nach und nach einzubauen. Es ermöglicht auch, für alle streckenspezifischen Upgrades, die für die ersten Rennen in der Pipeline sein könnten, im Plan zu bleiben.

"Das Haar in der Suppe", um es mit den Worten von Toto Wolff auszudrücken, ist die Tatsache, dass die Vorsaisontests für 2021 nur drei Tage dauerten, was dem Team nicht die übliche Zeit gab, das Basiswissen aus dem ersten Test zu sammeln und dann mit einem leistungsorientierteren Programm zum zweiten Test zurückzukehren.

Bedeutet das also, dass es beim diesjährigen Test kein Basis-Set-up gefahren ist und seine übliche Position gegen eine riskantere Strategie eingetauscht hat? Das werden wir erst sicher wissen, wenn der W12 zum ersten Freitagstraining aus der Garage rollt.

Es gibt jedoch eine Sache, die die Technikgemeinde beschäftigt, die uns einen Einblick in die Pläne des Teams geben könnte - wo hat Mercedes seine Token ausgegeben?

Die Verwendung der Token

Das Token-System wurde von der FIA eingeführt, um den Teams die Möglichkeit zu geben, Aspekte ihres Autos zu modifizieren, die andernfalls durch die Homologation, bei der ein großer Prozentsatz des Vorjahresautos auf 2021 übertragen wird, eingefroren würden. Sie erhielten jeweils zwei Token und eine Matrix, was von einer Saison zur nächsten geändert werden kann und was nicht.

Im Großen und Ganzen wissen wir, wofür der Rest des Feldes seine Token ausgegeben hat. Red Bull, Alpine und Ferrari haben Änderungen am Getriebe und der Hinterradaufhängung vorgenommen, um sich dem Design von Mercedes 2020 anzunähern.

Aston Martin änderte das Design seines Monocoques. Alpha Tauri und Alfa Romeo entschieden sich beide für eine neue Nase, während Williams für 2021 keinen Token ausgegeben hat, nachdem es bereits 2020 einen verwendete. Haas entschied sich dafür, alles zu übernehmen und sein Kontingent überhaupt nicht auszugeben.

Mercedes kann als Ausreißer betrachtet werden, da es die Informationen, wofür es seine Token einsetzte, anders als einige Rivalen nicht frei zur Verfügung gestellt hat. Es ist auch nicht offensichtlich, wo die Token verwendet worden sein könnten.


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James Allison, der technische Direktor von Mercedes, war ebenfalls ungewöhnlich zurückhaltend und weigerte sich zu verraten, wo Verbesserungen vorgenommen wurden: "Wir haben unsere Token ausgegeben, aber wir werden noch nicht verraten, wie wir sie verwendet haben. Das wird zu gegebener Zeit klar werden."

Diese Geheimniskrämerei führt uns zu der Theorie zurück, dass der W12, den wir bei den Tests gesehen haben, nur ein Schatten des Autos war, das beim ersten Rennen der Saison entfesselt werden und uns möglicherweise Gewissheit geben wird.

Der offensichtliche Kandidat für die Verwendung der Token ist eine neue Nasenkonstruktion. Dafür müsste man nicht nur beide Token ausgeben, sondern auch einen Crashtest bestehen, was ein weiteres Hindernis darstellt, das überwunden werden muss, wenn man alles rechtzeitig zum ersten Rennen am Auto haben will.

Interessanterweise hat Mercedes seit 2017 eine Variation desselben Nasenkonzepts im Einsatz. Damals war es das erste Team, das die mittlerweile allgegenwärtige "Cape"-Lösung nutzte. Damit ist das zentrale, schaufelartige Leitblech gemeint.

Eine Änderung dieser Größenordnung könnte einen signifikanten Einfluss auf die aerodynamische Leistung des Autos haben - etwas, von dem wir wissen, dass das Team während des ersten Tests damit zu kämpfen hatte, da das Auto in bestimmten Situationen hinten einbrach. Einige dieser Probleme schien man in den Griff bekommen zu haben, um das Testprogramm abschließen zu können.

Dennoch war deutlich zu sehen, dass das Auto beim Einlenken noch nicht so reibungslos lief wie beispielsweise der Red Bull. Der W11, auf dem der W12 aufbaut, hatte diese Schwächen allerdings nicht. Was hat sich also geändert?

Ein erzwungenes Facelift

Unabhängig davon, ob der W12, der während des Tests verwendet wurde, eine Basisversion oder eine genaue Repräsentation des Autos war, das wir beim ersten Rennen sehen werden, hat er uns einen Blick auf die Bereiche des Autos gewährt, die bei der offiziellen Präsentation noch verborgen blieben.

Als das Auto zum ersten Mal auf die Strecke ging, wurde sofort klar, warum Mercedes seine Karten nicht von Anfang offen gelegt hatte, denn das Auto verfügt über einige der ausgereiftesten Lösungen, die bisher zu sehen waren.

Das beginnt mit dem wellenförmigen Bereich im vorderen Teil des Bodens (siehe Bild). Die Lösung scheint es zu ermöglichen, dass ein Teil des Luftstroms von der Oberseite des Bodens mit dem überschüssigen Luftstrom auf der Unterseite des Bodens interagiert, der durch die erhöhte Kante des Bodens nach oben und nach außen geblasen wird.

Giorgo Piola

Der Unterboden des Mercedes W12 hat ein wellenförmiges Design erhalten Zoom

Diese Druckkollision führt zu einer eigenen Art von Turbulenz, die einen weiteren Schutz vor den unberechenbareren Luftverwirbelungen des Vorderreifens bietet, die bereits durch die Bargeboards und Deflektoren am Seitenkasten beeinflusst werden.

Die Teams sind immer auf der Suche nach Möglichkeiten, das Verhältnis zwischen all diesen aerodynamischen Flächen zu verbessern, weshalb wir oft kleine, sich wiederholende Änderungen sehen, um die gesamte Strömungsstruktur und Effizienz zu optimieren.

Der Boden weist auch jene Aussparung auf, die andere Teams bei ihren Designs für 2021 bevorzugt haben. Aber Mercedes ist nicht so weit gegangen, dies mit Bodenleitblechen in diesem Bereich zu kombinieren, um den Luftstrom hier zu regulieren.

Wenn wir uns jedoch den Bodenbereich vor dem Hinterreifen ansehen, ist das Team viel weiter gegangen als der Rest des Feldes, wenn es um den gesamten Designumfang seiner Lösungen geht. Zum einen befinden sich dort drei statt zwei Streben.

Giorgo Piola

Der 2020 verwendete Unterboden (im kleinen Bild) sah deutlich anders aus Zoom

Die zusätzliche Strebe (roter Pfeil) ist sowohl in der horizontalen als auch in der vertikalen Achse verdreht, was darauf hindeutet, dass man den Luftstrom aggressiv in Richtung des Spalts zwischen dem Hinterreifen und dem Diffusor leiten will.

Außerdem fällt in dem Bereich ein viel größeres aerodynamisches Bauteil am Rand des Bodens ins Auge, als bei der Konkurrenz zu sehen war. Die Oberfläche ist mit einer interessanten gezackten Form versehen und es sind zusätzlich Leitschaufeln darin untergebracht, um den Luftstrom über und um die Fläche des Hinterreifens zu leiten.

Was den Diffusor angeht, so hat das Team die notwendigen Änderungen an den Diffusor-Streben vorgenommen, wobei die Schlitze an den innersten Streben bis zur Diffusor-Decke verlängert wurden. Gleichzeitig gibt es einige subtile Änderungen am äußeren Abschnitt des Diffusors. So wurden die "Gurney"-ähnlichen Flaps, die um den Umfang des Hauptkörpers herum verlaufen, leicht angepasst.

Giorgo Piola

Der Direktvergleich des Diffusors von 2020 und 2021 zeigt einige Unterschiede Zoom

Das Band, das sie in der äußeren Ecke zusammenhält, ist nun zweigeteilt. Diese Änderung ist wahrscheinlich auf die zu erwartende Belastung zurückzuführen. Die Bänder sorgen für die Aufrechterhaltung des Spalts zwischen den einzelnen Klappen.

Es ist offensichtlich, wie viel Aufwand Mercedes in das Design der vom Reglement betroffenen Bereiche gesteckt hat. Aber ohne den vermuteten Einbau der neuesten Teile an anderen Stellen des Autos könnte dies die Ursache für die aerodynamische Instabilität während des Tests gewesen sein.

Operative Hindernisse

Die Karosserie des W12 ist wie ein gut geschnittener Anzug, sie sitzt an allen richtigen Stellen. Das Problem mit dem maßgeschneiderten Anzug ist, dass er ein wenig einschränkend sein kann, wenn man die Ellbogen ausfahren muss, und das ist der Punkt, an dem Mercedes in Bahrain auf ein Problem gestoßen sein könnte.

Die Größe des hinteren Kühlauslasses wird normalerweise von den Teams in Abhängigkeit von den Temperaturen und Bedingungen auf der jeweiligen Strecke verändert. Diese Änderung geht zu Lasten der aerodynamischen Leistung, ermöglicht es aber, dass die Power-Unit innerhalb ihrer Betriebsparameter bleibt.

Mercedes kam zum Test mit einem winzigen Kühlauslass am Heck des W12, ähnlich wie bei der Markteinführung des Autos. Und obwohl andere Kühlöffnungen am Auto während der drei Tage verändert wurden, schien diese nicht verändert worden zu sein.

Dies untermauert einmal mehr die Vermutung, dass Mercedes für das erste Rennen die aktuellste und streckenspezifische Variante des Autos zur Verfügung haben will. Das bedeutet allerdings auch, dass das Team bei den Longruns womöglich etwas Leistung geopfert hat, da es nicht in der Lage war, die Power-Unit ohne Probleme aufzudrehen.

Onboard-Aufnahmen der Autos mit Mercedes-Antrieb deuteten jedenfalls darauf hin, dass eine Begrenzung der Full-Power-Runs angesagt war, da diese Teams nicht immer den achten Gang nutzten, wenn es normalerweise von ihnen erwartet würde.

Das Worst-Case-Szenario für Mercedes ist, dass es mit mehr als einem Problem nach Bahrain zurückkehrt. Aber wenn man bedenkt, wie schnell das Team in den letzten Jahren auf Probleme reagiert hat, sollte man Mercedes auf keinen Fall abschreiben.