Saisonanalyse Teil 33: McLaren-Mercedes

Lesen Sie im 33. Teil unserer täglichen Saisonanalyse-Serie den Rückblick auf das Jahr des McLaren-Mercedes-Teams

(Motorsport-Total.com) - Keine Reifenwechsel mehr erlaubt, Motoren für zwei Rennwochenenden - die Formel 1 hatte 2005 zumindest in Ansätzen Eigenschaften einer Langstreckenmeisterschaft. Während beispielsweise Renault den Kompromiss zwischen Zuverlässigkeit und Performance perfekt in den Griff bekam, scheiterte McLaren-Mercedes genau an dieser Gratwanderung.

Titel-Bild zur News: Kimi Räikkönen vor Juan-Pablo Montoya

Die "Silberpfeile" rollten 2005 meistens erheblich schneller als die Konkurrenz

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass der Satz "To finish first, you first have to finish" ausgerechnet von Ron Dennis stammt. Seine "Silberpfeile" waren in der zurückliegenden Saison spätestens ab dem Europaauftakt die mit Abstand schnellsten Autos im Feld, verpassten WM-Ehren unterm Strich aber dennoch relativ deutlich. Angesichts der sportlichen Krise in den vergangenen Jahren darf man in Woking und Stuttgart trotzdem halbwegs zufrieden Bilanz ziehen.#w1#

Vom der Missgeburt MP4-18 zum Siegerauto MP4-20

Der MP4-20 trug noch Elemente jenes Konzepts in sich, welches 2003 in Form der kläglichen Missgeburt MP4-18, die nie bei einem Grand Prix am Start war, erstmals das Licht der Welt erblickt hatte. Der MP4-19 war eine konsequente Weiterentwicklung dieser Basis, die erst siegfähig wurde, als die Designer mit einer B-Variante ab Saisonmitte 2004 die gröbsten Schwächen ausradieren konnten. Für 2005 war damit aber immerhin endlich wieder einmal Land in Sicht.

McLaren-Mercedes dominierte gemeinsam mit Renault die Wintertestfahrten, galt daher von vornherein als Anwärter auf Grand-Prix-Siege und die Weltmeisterschaft. Darüber hinaus holte man mit Juan-Pablo Montoya, dessen Vertrag bereits vor dem ersten Rennen 2004 in trockenen Tüchern war, einen ausgewiesen schnellen Mann an Bord. Für viele Experten ist die Kombination des Kolumbianers mit Kimi Räikkönen die potenziell beste Fahrerpaarung der Königsklasse.

Nur 19 Punkte bei den ersten drei Überseerennen

Trotz dieser hervorragenden Ausgangsposition sammelten die "Silberpfeile" bei den drei Überseerennen zu Saisonbeginn lediglich 19 Punkte, während Renault vor der Rückkehr des Trosses nach Europa schon 36 Zähler auf dem Konto hatte. In Australien hatte die britisch-deutsche Truppe im Qualifying Pech mit dem Wetter, im Rennen dann brachen die seitlichen Barge-Boards weg. In Malaysia deutete Räikkönen mit der schnellsten Runde erstmals das Potenzial des MP4-20 an, ohne aber auch nur einen einzigen Punkt nach Hause zu holen.

In Bahrain fuhr der Finne dann immerhin erstmals auf das Podium, doch für weit mehr Wirbel sorgte damals der angebliche Tennisunfall Montoyas, bei dem er sich eine Schulterverletzung zugezogen hatte, die ihn für zwei Grands Prix außer Gefecht setzte. Im Fahrerlager freilich wurde gemunkelt, dass es sich in Wahrheit um einen Motorradunfall gehandelt haben soll, was Montoya jedoch vertuschen wollte, um nicht bei seinen Chefs in Ungnade zu fallen.

Für den Kolumbianer sprang in Bahrain Testfahrer Pedro de la Rosa ein, weil der 1,86 Meter große Alexander Wurz nicht schnell genug ins relativ klein geratene Cockpit des neuen "Silberpfeils" eingepasst werden konnte. De la Rosa lieferte aber eine unerwartet gute Performance ab, qualifizierte sich als Achter und sorgte im Rennen mit einigen beherzten Überholmanövern für Spektakel. Belohnt wurde der Spanier mit der schnellsten Runde und dem fünften Platz.

MP4-20 ging mit den Reifen schonender um als die Konkurrenz

In diesem ersten Saisonabschnitt hatten die meisten Teams noch ihre liebe Not mit dem veränderten Reifenreglement, weil sie die Konstanz nicht das ganze Rennen hindurch aufrechterhalten konnten. Nicht so McLaren-Mercedes: Adrian Neweys bester Wurf seit Jahren ging mit dem schwarzen Gold so schonend um, dass es den Fahrern eher schwer fiel, auf kürzere Distanzen ausreichend Temperatur in die Pneus zu bekommen.

Was von den Verantwortlichen im Nachhinein als "zu konservatives Vorgehen" bezeichnet wurde, konnten die Ingenieure in Woking rechtzeitig zum Europaauftakt in den Griff bekommen: Beim vierten WM-Lauf in Imola - diesmal mit Wurz anstelle von Montoya, der mit solider Leistung und nach BAR-Honda-Gewichtsaffäre starker Dritter wurde - fuhr Räikkönen eine halbe Sekunde vor dem Rest des Feldes auf die Pole Position, und wenn ihn nach nur neun Runden nicht eine gebrochene Antriebswelle außer Gefecht gesetzt hätte, wäre er wohl auf dem obersten Treppchen gelandet.

Signifikante Modifikationen des MP4-20 ab Barcelona

"Es ist noch nicht zu spät. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie schnell man einen Vorsprung verlieren kann." Kimi Räikkönen

Für den Grand Prix von Spanien in Barcelona legte das Team die erste größere Ausbaustufe des MP4-20 vor, die eine weitere Verbesserung der Performance brachte. Räikkönen feierte damit mehr oder weniger mühelos den ersten Saisonsieg, während Montoyas Comeback - schon im Training warf der übermotiviert wirkende 30-Jährige seinen "Silberpfeil" einmal weg - eher unglücklich verlief: siebenter Startplatz, Siebenter dann auch im Rennen.

Räikkönen hatte zu jenem Zeitpunkt bereits 27 Punkte Rückstand in der Fahrer-WM, was angesichts des Punktesystems, welches eher Zuverlässigkeit als schieren Speed belohnt, und wegen Fernando Alonsos Eichhörnchentaktik natürlich kaum aufzuholen war. Als er jedoch zwei Wochen später in Monaco eine weitere überragende Vorstellung ablieferte und damit gleich fünf Zähler von Alonsos Polster wegknabbern konnte, glaubten viele plötzlich wieder an ein Wunder.

In Deutschland hat Räikkönen einfach kein Glück...

Am Nürburgring, wo er 2003 schon einmal einen WM-Titel verloren hat, wurde der Finne einmal mehr von seinem Deutschland-Fluch eingeholt, der sich diesmal besonders drastisch auswirkte: Gegen Rennmitte leistete sich Räikkönen einen Verbremser, bei dem sein rechter Vorderreifen an einer Stelle abgewetzt wurde. Die dadurch entstandenen Vibrationen wurden immer schlimmer, ehe der Pneu in der allerletzten Runde endgültig platzte und den nach dem Unfall gar nicht mehr so coolen "Iceman" spektakulär ins Kiesbett beförderte. Besonders bitter: Ausgerechnet Alonso erbte die zehn Punkte für den Sieg.

Montoya, am Nürburgring nach einer Startkarambolage mit Mark Webber noch farbloser Siebenter, trumpfte dann beim folgenden Grand Prix von Kanada in Montréal erstmals groß auf, weil er sich langsam, aber sicher besser mit dem MP4-20 anfreundete. Nach dem Doppel-K.O. von Renault lag der Kolumbianer sogar vor Räikkönen in Führung, was den Herren auf dem silbernen Kommandostand angesichts der WM-Situation überhaupt nicht gefallen haben dürfte.

Eine Safety-Car-Phase bot sich dann regelrecht an, um die Reihenfolge der beiden McLaren-Mercedes-Fahrer quasi kosmetisch und ohne großes Aufsehen zu ändern, doch weil Montoya beim Herausfahren aus der Box die rote Ampel übersah und sich auch noch relativ keck ins Feld hineinmogelte, wurde er von Rennleiter Charlie Whiting mit der schwarzen Flagge disqualifiziert. Immerhin fuhr stattdessen Räikkönen die zehn Punkte nach Hause.

Motorschäden in den Trainings sorgten für Strafversetzungen

Kimi Räikkönen

2005 blieb Kimi Räikkönen mehr als einmal mit technischem Defekt stehen Zoom

Nach dem Michelin-Totalkollaps in Indianapolis wurde der "Iceman", der 2005 vom Speed her in der Form seines Lebens war, in Magny-Cours und Silverstone jeweils von einem Motorschaden im Training gebremst. Zwar konnte er den Schaden der Strafversetzungen in der Startaufstellung mit einem zweiten und einem dritten Platz in den Rennen noch in Grenzen halten, doch Weltmeister wird man so eben heutzutage nicht mehr...

Wenigstens brachte Silverstone den ersten Montoya-Triumph, nachdem der Kolumbianer am Start den Gasfuß gegen den zu jenem Zeitpunkt schon auf Sicherheit fahrenden Alonso ganz weit unten hatte stehen lassen. Auch in Hockenheim war der flamboyante Südamerikaner schnell unterwegs, doch mit seinem Patzer in der letzten Kurve des Qualifyings, durch den er als Letzter ins Rennen gehen musste, verspielte er wieder viel vom eben erst gewonnenen Kredit. Sein "Silberpfeil" war dennoch schnell genug für Rang zwei beim Deutschland-Grand-Prix.

Räikkönen war in Hockenheim auf klarem Siegeskurs

Räikkönen musste indes das nächste Kapitel seines deutschen Fluchs miterleben, als in der 35. Runde - den Sieg vor Augen - wieder einmal der Hydraulikteufel zuschlug. Die Pleiten-, Pech-, und Pannenserie des 26-Jährigen riss auch in der Folge nicht ab: In Monza musste erst wieder einmal der Motor gewechselt werden, und im Rennen machte er zum zweiten Mal nach dem Nürburgring Bekanntschaft mit zerfetztem Michelin-Gummi - Platz vier.

Im letzten Saisonabschnitt war McLaren-Mercedes weiterhin das schnellste Team, doch irgendwie sollte es einfach nicht sein - Montoyas Kollisionen mit Überrundeten in Istanbul und Spa-Francorchamps sowie der lose gewordenen Gullydeckel beim letzten Rennen in Shanghai seien hier stellvertretend für diverse unglückliche Zwischenfälle genannt. Dass die "Silberpfeile" 2005 statistisch gesehen dennoch am drittzuverlässigsten waren, glaubt man daher erst auf den zweiten Blick.

Der Fahrer-WM-Titel wurde beim Grand Prix von Brasilien endgültig verloren - und es liest sich aus silberner Sicht fast wie ein grausamer Witz, dass im selben Rennen der erste Doppelsieg seit mehr als fünf Jahren eingefahren wurde. Immerhin durfte man bis zuletzt auf den finanziell lukrativen Trostpreis, also die Konstrukteurs-WM, hoffen, denn zum Finale nach Shanghai fuhren Räikkönen/Montoya sogar mit zwei Punkten Vorsprung auf Alonso/Fisichella.

Neun Punkte fehlten bei den Konstrukteuren zum Titel

"Wir verdienen Kritik, aber von einem groben Versagen kann man nicht sprechen." Ron Dennis

Was dort geschah, ist bekannt und muss an dieser Stelle wohl nicht mehr näher erläutert werden, doch noch heute fragen sich viele, wie das Rennen wohl ohne Gullydeckel und ohne Safety-Car-Phasen verlaufen wäre. Unterm Strich fehlten McLaren-Mercedes jedenfalls neun Punkte auf den ersten Platz in der Teamwertung - und so blieb für die überragenden "Silberpfeile" 2005 in beiden Wertungen nur Silber...

Hoch anzurechnen ist vor allem Mercedes-Sportchef Norbert Haug, dass während der Saison nie nach Ausreden gesucht wurde, sondern die Fehler auch öffentlich klar auf den Tisch kamen. Für 2006 gilt es daher, die Zuverlässigkeit zu verbessern, gleichzeitig aber den sensationellen Speed des MP4-20 auf das neue Auto zu übertragen. Sollte dies tatsächlich gelingen, so hätten die anderen Teams wohl eine mehr als bloß harte Nuss zu knacken.

Gegen die britisch-deutsche Truppe spricht eigentlich nur, dass man mit Stardesigner Adrian Newey, der Anfang nächsten Jahres zu Red Bull wechseln wird, und Motorenbauer Mario Illien zwei wichtige Leute verloren hat. Dafür sollten die Vorteile der relativ neuen und hochmodernen Traumfabrik in Woking, die sogar über einen unterirdischen Windkanal verfügt, 2006 noch mehr greifen als bisher - und wer weiß: Vielleicht wird ja aus Silber doch schon bald Gold...

Analyse der 'F1Total.com'-Experten:

Marc Surer: "McLaren-Mercedes hatte ein sehr schnelles, aber auch unzuverlässiges Auto. Sie sollten bei Ferrari oder Renault ein paar Leute für die Qualitätskontrolle abwerben! Es sind so viele verschiedene Dinge kaputtgegangen, aber von der Schnelligkeit her hat Adrian Newey ein sensationelles Auto gebaut. Normalerweise müssten sie das Team der nächsten zwei, drei Jahre sein, denn die Aerodynamik wird ja durch das Reglement nicht verändert. Es könnten aber auch Teams wie Renault, Toyota oder Ferrari wieder aufschließen. Abstürzen werden sie 2006 jedoch sicher nicht."

Hans-Joachim Stuck: "Obwohl sie den WM-Titel nicht erreicht haben, sind sie für mich das momentan stärkste Team. McLaren-Mercedes ist eine sehr stringent geführte Truppe mit Topleuten wie Ron Dennis und Norbert Haug. Norbert ist für mich sowieso der Vater aller Rennleiter! Das Klassenziel 2005 haben sie nur wegen der schlechten Zuverlässigkeit nicht erreicht."

Statistiken zur Saison des McLaren-Mercedes-Teams:

Teamwertung: 2. mit 182 WM-Punkten (Gesamtübersicht)
Anzahl der gefahrenen Rennen: 18 (Gesamtübersicht)
Anzahl der Siege: 10 (Gesamtübersicht)
Anzahl der Pole Positions: 7 (Gesamtübersicht)
Durchschnittlicher Startplatz: 4,4 (Gesamtübersicht)
Anzahl der schnellsten Rennrunden: 12 (Gesamtübersicht)
Bestes Ergebnis Qualifying: 1.
Bestes Ergebnis Rennen: 1.
Gefahrene Führungsrunden: 591 (Gesamtübersicht)
Ausfallsrate: 10,5 Prozent (Gesamtübersicht)
Testtage: 55 (Gesamtübersicht)
Testkilometer: 35.963 (Gesamtübersicht)
Test-Tagesbestzeiten: 33 (Gesamtübersicht)

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