Neue Reifen: Red-Bull-Rivalen toben, profitiert Mercedes?

Nach Pirellis Entscheidung, in Kanada mit neuen Reifen auf die Red-Bull-Kritik zu reagieren, tobt die Konkurrenz - Gary Anderson sieht Mercedes als Top-Profiteur

(Motorsport-Total.com) - Lotus-Teamchef Eric Boullier schäumt im Reifen-Streit der Formel 1 vor Wut und hat indirekt Sebastian Vettels Red-Bull-Rennstall wegen der angekündigten neuen Pneus attackiert. "Es gibt nicht viele Sportarten, in denen derart grundlegende Änderungen mitten in der Saison vorgenommen werden", sagte der Franzose, "man stelle sich nur mal vor, dass im Fußball die Ausmaße des Spielfeldes in der Halbzeit geändert werden, nur weil ein Team nicht so schnell laufen kann wie die Konkurrenz."

Titel-Bild zur News: Lewis Hamilton, Reifen, Reifenschaden, Lauffläche

Wenn sich die Lauffläche ablöst... Pirelli will mit neuen Reifen ein PR-Debakel verhindern Zoom

Einheitshersteller Pirelli hatte zuletzt angekündigt, dass ab dem übernächsten Rennen in Kanda (9. Juni) neue Reifenmischungen geliefert werden. "Es ist klar, dass Pirelli aus einigen Richtungen unter Druck stand und sich in einer schwierigen Situation befand", sagte Boullier. Besonders Vettels Team Red Bull und Mercedes hatten auf neue Reifen gedrängt, weil ihre Wagen im Vergleich zu Lotus und Ferrari große Probleme mit den Gummis haben.

Die Änderungen seien "frustrierend", meinte Boullier: "Es ist jede Saison so, dass einige Teams mit ihren Designs einen besseren Job machen und einige Fahrer sich an die geänderten Anforderungen von Auto und Reifen besser anpassen können." Beim vergangenen Rennen in Barcelona hatte Vettel das Tempo von Fernando Alonso im Ferrari und "Reifen-Flüsterer" Kimi Räikkönen (Lotus) nicht halten können und war nur auf Platz vier gefahren. In der WM-Gesamtwertung hat der Heppenheimer nach fünf von 19 Läufen nur noch vier Punkte Vorsprung auf Räikkönen und 17 auf Alonso.

Ferrari reagiert mit Polemik

Auch in Maranello hält sich die Freude über die Entscheidung Pirellis, neue Reifen zu bringen, verständlicherweise in Grenzen, schließlich gilt der Ferrari als konstantestes Auto im Feld, das auch mit den Gummis besser haushält als die meisten Autos der Konkurrenz. In Barcelona war Alonso eine Klasse für sich. Die PR-Abteilung reagiert nun mit einer neuen Ausgabe des berühmten "Pferdeflüsterers" - eine Kolumne auf der Ferrari-Webseite, über die man die Teammeinung gerne etwas zugespitzt verlautbart.

In der Kolumne stellt sich Ferrari gegen die Kritik an den 82 Boxenstopps in Barcelona, die einer der Auslöser für die neuen Reifen waren, und wirft den Kritikern ein "schlechtes Gedächtnis" vor. "Vielleicht funktionieren aber auch die Gehirnzellen, die die Erinnerung steuern, selektiv - abhängig von den Ergebnissen, die von den Besitzern auf der Strecke erreicht werden", wirft der "Pferdeflüsterer" den Pirelli-Kritikern vor, nicht im Interesse der Formel 1 zu handeln.

Warum blieb Red Bull vor zwei Jahren stumm?

Ferrari spielt auf die Kritik von Red Bull an, dass das Rennen durch rund vier Boxenstopps pro Fahrer nur schwer zu verstehen gewesen sein soll: "Es ist schade, dass diese ehrenwerten Seelen vor zwei Jahren stumm geblieben sind - auf eben diesem Catalunya-Kurs und in Istanbul, als fünf von sechs Fahrern, die bei diesen Rennen auf dem Podest standen, genau die gleiche Anzahl an Boxenstopps absolviert haben wie Alonso und Massa am vergangenen Sonntag in Spanien." Zur Erinnerung: Vettel siegte damals in Spanien vor den beiden McLaren-Piloten, in Istanbul gab es einen Red-Bull-Doppelsieg vor Alonso im Ferrari.

Sebastian Vettel

Barcelona 2011: 77 Stopps, Vettel siegt - keine Beschwerde von Red Bull Zoom

Mit einem weiteren Beispiel will der "Pferdeflüsterer" untermauern, dass vier Stopps nichts Ungewöhnliches sind und bestenfalls von der Konkurrenz als Vorwand missbraucht werden, um einen Vorteil herauszuholen: In Magny Cours 2004 stellte Ferrari-Star Michael Schumacher die Strategie während des Rennens von drei auf vier Stopps um - "das war der Schlüssel, der den F2004 des mehrfachen Weltmeisters an Renault-Fahrer Fernando Alonso, der nur drei Stopps machte, vorbei brachte", argumentiert man.

Damals sei der Reifenhersteller "mit Lob überschüttet worden, weil er es uns ermöglicht hat, das Maximum aus dem Auto herauszuholen. Heute muss man sich hingegen fast schämen, wenn man sich wie immer zu einer Strategie entschließt, um das Maximum aus dem zur Verfügung stehenden Paket herauszuholen".

Ex-Jordan-Technikchef und 'BBC'-Experte Gary Anderson stützt sich auf das gleiche Argument wie Ferrari. Er wundert sich über die Aussagen von Red-Bull-Boss Dietrich Mateschitz und Teamchef Christian Horner, dass die Rennen aufgrund der vielen Boxenstopps die Fans verwirren und die Formel 1 somit kein echter Rennsport mehr sei. Der Ire zieht ebenfalls das Barcelona-Rennen 2011 als Beispiel heran und wirft Red Bull vor, rein interessensgeleitet zu argumentieren: "2011 siegte Vettel in Spanien. Er hat ebenfalls vier Mal gestoppt, und es gab insgesamt 77 Boxenstopps im gesamten Rennen. Damals gab es keine Beschwerden von Red Bull".

Anderson: Kritik an Pirelli nicht gerechtfertigt

Zudem wundert er sich über das Argument, dass die Piloten in den Rennen wegen der rasch abbauenden Reifen angeblich nicht mehr pushen können. Um der Sache auf den Grund zu gehen, vergleicht er die Pole-Position-Zeiten und die Schnellsten Rennrunden in Barcelona seit 2010. Ihm fällt auf, dass sich nicht viel geändert hat: 2010 - als Bridgestone noch die Reifen lieferte - betrug der Unterschied 4.362 Sekunden, 2011 5.756 Sekunden, 2012 4.543 Sekunden und 2013 5.499 Sekunden.

"Es ist aus PR-Sicht nicht gut für das Unternehmen, wenn die Reifen im weltweiten TV auseinanderfallen." Gary Anderson

"Das widerlegt zwei Haupt-Kritikpunkte", meint Anderson. "Dass die Pirelli-Reifen die Möglichkeiten der Fahrer, in den Rennen zu pushen, dramatisch beeinträchtigt haben und, dass sich das 2013 deutlich verschlimmert hat." Er glaubt, dass sich Pirelli trotzdem zu diesem Schritt hinreißen hat lassen, weil dieses Jahr bereits ein kleiner Schnitt im Reifen dazu führt, dass sich die Lauffläche ablöst: "Es ist aus PR-Sicht nicht gut für das Unternehmen, wenn die Reifen im weltweiten TV auseinanderfallen."

Schumacher zeigt Verständnis für Ärger der Red-Bull-Rivalen

Auch Ex-Formel-1-Pilot Ralf Schumacher versteht den Ärger derer, die Autos gebaut haben, die mit den Pirelli-Reifen zurecht kommen und nun andere Reifen vorgesetzt bekommen. "Wenn man 100 Millionen investiert, um ein Auto zu bauen, dann verstehe ich Lotus und die anderen schon, die jetzt einen Vorteil haben und ihn nicht hergeben wollen. Red Bull hätte auch die Chance gehabt, ein Auto zu bauen wie Lotus. In den Jahren davor ist Red Bull auch nicht hergegangen und hat gesagt: 'Ich bin so schnell, und wir geben was ab, weil die Meisterschaft langweilig wird'", erklärt der Deutsche im Gespräch mit 'Motorsport-Total.com' und den Kollegen von 'Sportradio360.de'.

Ralf Schumacher

Ralf Schumacher findet die Änderungen während der Saison fragwürdig Zoom

Er findet aber auch, dass die Reifen zu wenig haltbar sind und einen zu großen Einfluss auf die Rennen haben: "Die Boxenstopp-Arie kann keiner mehr nachvollziehen. Und wenn dann plötzlich Autos drei oder sechs Runden vor Schluss von hinten durchs Feld pflügen, weil sie fünf Sekunden schneller fahren können, dann ist das sicherlich zu viel."

Er will die Schuld aber nicht Pirelli in die Schuhe schieben: "Einerseits hat man verlangt, die Rennen spannender zu machen, andererseits hackt man schon seit dem vergangenen Jahr auf Pirelli herum. Es sei jetzt mal dahingestellt, ob die das technisch besser umsetzen könnten oder nicht, aber es war ja so verlangt. Jetzt muss man auch einmal Geduld haben, denn auch in der Formel 1 ist nicht alles perfekt."

Was ändert Pirelli?

Bleibt die große Frage, wer jetzt von den neuen Reifen ab Kanada am meisten profitieren wird. Das hängt zunächst davon ab, was Pirelli überhaupt ändert. Ändert man die Form der Vorderreifen, so würde dies Auswirkungen auf die Aerodynamik haben und könnte bei den Teams für zahlreiche Nachbesserungen an den Boliden sorgen. Beim Hinterreifen würden sich die aerodynamischen Folgen in Grenzen halten.

"Der große Verdacht ist, dass sie die Vorderreifen so lassen werden und die Hinterreifen so ändern, dass sie mehr wie im Vorjahr sind." Gary Anderson

Anderson geht davon aus, dass Pirelli bei den Hinterreifen Hand anlegen wird: "Der große Verdacht ist, dass sie die Vorderreifen so lassen werden und die Hinterreifen so ändern, dass sie mehr wie im Vorjahr sind. Sie könnten sogar soweit gehen und den Vorjahresreifen verwenden." Durch die steiferen Seitenwände der aktuellen Pneus löst sich bei einem Reifenschaden rasch die gesamte Lauffläche ab - im Vorjahr hatte der Reifen einfach Luft verloren. Aus PR-Sicht wäre also ein Rückbau der Hinterreifen ebenfalls die logische Variante.

Anderson vermutet: Mercedes wird profitieren

Geht es nach Anderson, könnte Mercedes der große Gewinner sein, während Red Bull mit dieser Änderung nur bedingt geholfen wäre. Eine weniger steife Konstruktion der Hinterreifen "könnte Mercedes helfen, denn dadurch wären Hinterrad-Aufhängung und Reifen mehr in Harmonie und die Traktion würde sich verbessern, wodurch die Belastung der Hinterreifen nachlassen würde." Dass die "Silberpfeile" der steifen Konstruktion der Hinterreifen entgegenwirken wollen, zeigt sich auch daran, dass man teilweise mit wenig Luftdruck fährt - das war in Barcelona mit freiem Auge erkennbar.

"Wenn die Vorderreifen nicht geändert werden, dann würde das Red Bull in dieser Situation nichts bringen." Gary Anderson

Vettel litt in Barcelona hingegen unter Problemen mit den Vorderreifen. "Sie wurden zu heiß, und er musste langsamer machen, damit sie nicht überhitzen und abbauen", weiß Anderson. "Wenn die Vorderreifen also nicht geändert werden, dann würde das Red Bull in dieser Situation nichts bringen."