Die große Testanalyse

Der Testauftakt in der Analyse: Wer in Valencia wirklich die Nase vorne hatte und wie die neuen Boliden funktionieren

(Motorsport-Total.com) - Der Testauftakt ist geschlagen. Bis auf McLaren, Force India, Virgin und HRT ließen alle Teams in Valencia die Katze aus dem Sack und zeigten ihre Hoffnungsträger für die Saison 2011. Die Zeitentabelle zeigt im Vergleich zum Vorjahr ein leicht verändertes Bild: Der Pole Robert Kubica, der die Früchte seiner Arbeit aufgrund des schweren Rallyeunfalls dieses Jahr leider nicht wird ernten können, sicherte sich im neuen Renault die Test-Bestzeit, zwei Zehntel dahinter rangiert Ferrari-Star Fernando Alonso, Weltmeister Sebastian Vettel fehlt eine halbe Sekunde.

Titel-Bild zur News: Mark Webber

Die große Unbekannte: Welches Team hat derzeit das schnellste Auto?

Doch jeder weiß: Ein flüchtiger Blick auf die Zeitentabelle ist nicht der Weisheit letzter Schluss. Die Teams testen wie jedes Jahr mit unterschiedlichen Spritladungen, daher ist es schwierig, ein realistisches Bild des derzeitigen Kräfteverhältnisses zu bekommen. Ferrari-Teamchef Stefano Domenicali hatte nach dem Test behauptet, dass man sogar selbst "im Dunkeln" tappe und die Stoppuhr noch keine Aufschlüsse gäbe. Wahrscheinlicher ist, dass man durchaus Anhaltspunkte hat, darüber aber nicht sprechen will.

Red Bull derzeit die Nummer 1

Anders die Strategie bei Red Bull: Auch wenn sich Vettel bisher in Zurückhaltung übte, prescht Dietrich Mateschitz' mächtiger Motorsport Konsulent Helmut Marko gegenüber 'Bild' vor: "Wenn jetzt das Rennen wäre, würden wir alle überrunden. Es ist beeindruckend, wie unser Auto durch die Kurven geht."

Sebastian Vettel

Motorsport Konsulent Helmut Marko sieht Red Bull derzeit klar im Vorteil Zoom

Einer, der in den vergangenen Jahren immer wieder einen guten Riecher dafür hatte, wie das Käftverhältnis bei den Tests aussieht, ist Ex-Jordan-Technikchef Gary Anderson. Und er war nach dem ersten Testtag gegenüber 'Autosport' schon der Meinung: "Red Bull macht da weiter, wo sie 2010 aufgehört haben. Eine 1:13.769 ist in Valencia am ersten Tag eine ziemlich schnelle Zeit - und Red Bull blufft nicht."

Auch die Zuverlässigkeit ringt ihm ein Kompliment ab: "Aus dem Stand mit einem neuen Auto 93 Runden zu fahren - da sollte man allen in Milton Keynes auf die Schulter klopfen und ihnen eine zusätzliche Dose Red Bull geben, um in Zukunft durch die langen Nächte zu kommen." Dass Vettel insgesamt aber doch eine halbe Sekunde hinter der Bestzeit liegt, ist laut Anderson kein Anlass zur Sorge: "Vettels Zeiten zeigen, dass Red Bull mit stabilen Spritladungen operiert, um die benötigten Daten zu sammeln." Nur einmal musste ein Versuch, den Auspuff in den Diffusor zu blasen, abgebrochen werden - das Auto überhitzte.

Der Auspuff war bei Red Bull Gegenstand vieler Spekulationen, wie Anderson bestätigt: "Es gibt Gerüchte, dass der komplizierte Renault-Auspuff ein Hinweis sein könnte, dass auch Newey eine ähnliche Idee hat." Schließlich verwendet auch Red Bull ein Renault-Aggregat - der Auspuff des Renault-Boliden, der vor den Seitenkästen herausragt, um die Strömung zum Heck zu verbessern, verblüffte Fans und Experten. Eine Schwäche des RB7 könnte der relativ hohe Reifenabrieb an der Hinterachse sein.

Ferrari noch zu langsam

In diesem Punkt hat sich Ferrari als Vorzeige-Team erwiesen. Den Roten ist es gelungen, dass der Bolide die Hinterreifen schont. Außerdem reagiert der F150 gutmütig auf Setupänderungen - viel mehr findet man jedoch nicht auf der Habenseite. Die Hauptkritik am neuen Ferrari ist, dass das Auto zu konservativ ist, keine besonderen Ideen aufweist. Daher fehlt auch der letzte Speed. Laut 'auto motor und sport' glaubt man intern, dass eine halbe Sekunde auf Red Bull fehlt.

Fernando Alonso

Der Ferrari geht gut mit den Reifen um, ist aber zu langsam Zoom

Anderson hätte sich von Ferrari einen "aggressiveren Zugang" gewünscht. Seine Kritikpunkte: der Frontflügel, die Seitenkästen und das Heck. "Ich hätte erwartet, dass der Frontflügel in den äußeren Bereichen komplexer ist - diese sind entscheidend, was den Luftstrom angeht. Die Seitenkästen sind zwar schön und ordentlich gemacht, doch der unterschnittene Bereich und die Seite des Autos sehen sehr harmlos aus. Auch der Einzug beim Cola-Heck ist nicht sehr aggressiv. Meiner Meinung nach hat Ferrari die Grenzen nicht genug ausgelotet."

Jetzt muss Ferrari hoffen, dass die geplanten Updates das Team zumindest an Red Bull heranbringen können. Vor allem bei der Heckpartie will man noch nachlegen, wie Technikchef Aldo Costa bestätigt: "Der gesamte Heckbereich wird bald schon völlig anders aussehen."

Renault: Der Auspuff-Genieblitz funktioniert

Ganz und gar nicht konservativ ging das Renault-Team über den Winter zu Werke. Das beweisen Kubicas Bestzeit und die Optik des neuen Boliden. "Renault hat sich weit hinausgelehnt", meint Anderson. Er versucht sich an einer Erklärung: "Sie haben beim Auspuff etwas Seltsames gemach -, oder sagen wir besser: etwas Innovatives. Da er an der Vorderseite der Seitenkästen herausragt - im unterschnittenen Bereich -, versuchen sie, dort die Luft zu beschleunigen, so ähnlich wie es ein Windabweiser tut. Der hilft dabei, große Luftmengen von der Unterseite des Chassis' hinaus zu spülen, wodurch der Frontflügel effizienter funktioniert."

Robert Kubica

Will Renault die Konkurrenz mit der Testbestzeit verunsichern? Zoom

Dadurch soll mehr Abtrieb generiert werden, doch es gibt auch Nachteile: "Da das Auspuff-Endrohr so lange ist, verliert man jede Menge Power im oberen Bereich. Ich glaube, da steckt mehr dahinter: Das Endrohr bläst wahrscheinlich in ein größeres Rohr. Wenn man diese Lösung zum Arbeiten bringt, dann hätte man alle positiven Aspekte auf dem Tisch, aber außer dem Packaging keine wirklichen Nachteile."

Anderson stuft die Renault-Idee dennoch als riskante Lösung ein: "Wenn der Auspuff und die neu angeordneten mechanischen Teile hinten funktionieren, dann kann Renault die Spitze einholen. Sie haben aber das Risiko, dass gar nichts funktioniert oder alles extrem unzuverlässig ist." Dies scheint allerdings nicht der Fall zu sein, wie Kubicas Bestzeit beweist. Und so groß können die Überhitzungs-Probleme auch nicht sein, zumal er 95 Runden drehen konnte.

Anderson hält es aber auch nicht für ausgeschlossen, dass Kubicas Bestzeit Teil einer Strategie ist, die Konkurrenz aus dem Konzept zu bringen: "Wenn jemand mit einer Innovation schnell ist, dann werden die Rivalen sich in die Fabrik zurückziehen und das Potenzial des Konzepts evaluieren. Das lenkt sie vom eigenen Paket ab - und eine Richtungsänderung zu einem so späten Zeitpunkt könnte Stillstand bedeuten, was in der Formel 1 ein Rückschritt ist." Sein Fazit: "Renault hat genau das erreicht, was man erreichen wollte. Sie haben mit einem neuen Konzept die schnellste Runde gedreht, alle verwirrt und dafür gesorgt, dass sich alle eine Woche lang am Kopf kratzen."

Mercedes: Schrillen die Alarmglocken?

Genau das sollte man auch bei Mercedes tun, meint der Technikexperte. Auch wenn man sich bei den Silberpfeilen noch in Zweckoptimismus übt, glaubt er nicht, dass intern alles so ruhig ist. "Wenn zwei Fahrer im hinteren Bereich mehr oder weniger die gleichen Zeiten fahren, wie bei Schumacher und Rosberg, sollten die Alarmglocken schrillen", sagt Anderson.

Michael Schumacher

Gary Anderson sieht bei Mercedes großen Anlass zur Sorge Zoom

Er erklärt die Gründe für sein Urteil: "Auf einer Strecke wie Valencia machen zehn Kilo einen Zeitunterschied von 0,25 Sekunden aus. Schumachers Zeit war 1,4 Sekunden langsamer als die von Kubica, das würde ungefähr 60 Kilo Sprit ergeben. Ich glaube nicht, dass irgendein Team sein Auto mit so einem Unterschied testet, weil man die Reifen zerstören würde und keine wirklichen Informationen bekommt, was das Auto macht."

Auch optisch sorgt der Mercedes W02 für Verwunderung: "Ich bin kein Fan eines Frontflügels mit nur zwei Elementen. Wenn der Abstand zum Boden so gering ist und die unvermeidliche Teilung der Luft beim Bremsen am Kurveneingang passiert, dann ist die Menge an Abtrieb, die man vorne verliert, viel größer als bei einem Frontflügel mit drei Elementen."

Da ausgerechnet Schumacher im Vorjahr stets über zu wenig Abtrieb an der Vorderachse geklagt hat, hofft Anderson nun "Schumacher zuliebe, dass dieser Frontflügel nur am Auto ist, damit es gut aussieht." Ein Irrglaube, denn nicht nur bei der Präsentation, sondern auch in Valencia rückte der W02 mit einem zweiteiligen Frontflügel aus. Jetzt muss man hoffen, dass der innovative Mercedes-Auspuff, den die Brawn-Truppe noch nicht gezeigt hat, dem Team hilft.

Williams besser als auf der Zeitentabelle

Apropos innovative Lösungen: Da ist auch Williams ganz vorne dabei. Technikchef Sam Michael weiß, dass die Teamführung dieses Jahr eine erhebliche Verbesserung fordert - kein Wunder also, dass Michael beim neuen Williams etwas riskierte. Vor allem die Heckpartie sorgte für hochgezogene Augenbrauen. Kein Heck ist so kompakt. Es macht fast den Anschein, als würde am Heck ein Teil fehlen. "Sie sind hinten weiter gegangen als alle anderen", sagt Anderson.

Rubens Barrichello

Das neue, kompakte Williams-Heck verblüfft die Konkurrenz Zoom

"Um den Luftstrom auf den niedrigeren Heckflügel zu leiten", erklärt er, "hat man das Getriebegehäuse geschrumpft, um die kleinstmögliche Struktur zu erreichen, auf der die Hinterrad-Aufhängung und der Zahnräder-Block montiert sind. Üblicherweise ist der obere Teil des Gehäuses leer, um den Motor mit dem Differential zu verbinden, die Gänge befinden sich in der unteren Hälfte. Williams hat sich also für eine tief angebrachte Zugstreben-Aufhängung entschieden und einfach die obere Hälfte des Gehäuses entfernt. Das Differential wird durch einen einfachen Pylonen verlängert, um an den hinteren Querlenker anzudocken."

Noch ist nicht ganz klar, wie schnell der neue Williams ist. Die Piloten hatten meist mehr Sprit im Tank als die Konkurrenz und wurden immer wieder von technischen Problemen gestoppt. Anlass zur Hoffnung ist aber die Zeit von Pastor Maldonado, dem nur eine gute Sekunde auf Kubicas Bestmarke fehlt. Daher sollte Rubens Barrichello mit der gleichen Spritmenge durchaus eine halbe Sekunde schneller sein als der Venezolaner.

Toro Rosso: Aufregendes Konzept - positive Anzeichen

Auf Risiko setzt auch Toro Rosso. Das Team aus Faenza hat alle mit den stark unterschnittenen Seitenkästen und dem doppelten Unterboden überrascht. Red-Bull-Berater Marko erklärte gegenüber 'auto motor und sport', was hinter der Strategie von Technikchef Giorgio Ascanelli steckt: "Toro Rosso musste riskieren, sonst können sie nie Plätze gut machen."

Sebastien Buemi

Toro Rosso setzt im zweiten Jahr als Konstrukteur auf Risiko Zoom

Anderson erklärt das Prinzip hinter der Toro-Rosso-Lösung: "Die Idee ist, die Seitenkästen anzuheben, um den Luftstrom auf den Diffusor zu leiten - das ermöglicht einen höheren Druck im Heck und mehr Abtrieb. Die Nachteile, dass weniger Platz für die Kühlung zur Verfügung steht und der Schwerpunkt höher ist, können wettgemacht werden." Besonders beeindruckend ist, dass die Ex-Minardi-Truppe erst in ihre zweite Saison als Konstrukteur geht - davor ließ man das Auto bei Red Bull Technology bauen. "Ein cleveres Konzept wie dieses verdient es, zu funktionieren", findet Anderson.

Doch ist dies der Fall? Sebastien Buemi fehlten auf Kubicas Bestzeit eineinhalb Sekunden - die Toro-Rosso-Piloten waren meist am Ende des Feldes zu finden. Dennoch scheint man beim Red-Bull-B-Team vom aerodynamischen Konzept überzeugt zu sein, die Ingenieure waren zufrieden. Bei so einem gewagten Prinzip ist dies ein gutes Zeichen.

Sauber: Key gibt Hoffnung

Etwas konservativer ist hingegen der neue Sauber angelegt. Zudem hatte man bei den Tests Probleme mit der Kraftübertragung. Anderson fällt auf, dass die Hinterrad-Aufhängung des neuen C30 stark der Ferrari-Aufhängung ähnelt.

Sergio Perez

Auf James Keys erstem Sauber ruhen die Hoffnungen des Schweizer Teams Zoom

Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass Motor und KERS aus Maranello stammen. Technikchef James Key schätzt Anderson noch aus seiner Zeit bei Jordan: "Er wird dieses Jahr einen Unterschied machen. Er ist ein sehr cleverer Kerl, kennt sich überall aus. Ich hoffe, dass er es hinkriegt, denn er hat für mich gearbeitet."

Lotus im Technikchaos

Bleibt noch der neue Lotus aus der Feder von Technikchef Mike Gascoyne. Der Bolide überraschte mit einer zweigeteilten Lufthutze, wie sie im Vorjahr Mercedes verwendet hat. Eine Lösung, bei der auch Anderson Bedenken bezüglich der Sicherheit hat: "Bei einem Überschlag ist dieses Design nicht so effektiv wie das konventionelle."

Heikki Kovalainen

Weit zurück, doch Kovalainen schwärmt vom neuen Lotus T128 Zoom

Abgesehen davon ist der Lotus T128 deutlich ausgefeilter als das Vorjahresauto, was auch keine große Kunst ist. Aufschlüsse über das wahre Potenzial waren jedoch kaum möglich, da die Servolenkung streikte und Teile fehlten - die Piloten waren lange zum Warten verdonnert.

Als es dann doch einmal klappte, zeigte sich Heikki Kovalainen hochzufrieden. Das ist auch Anderson nicht entgangen: "Ich habe gehört, dass Kovalainen schwärmt, wie toll sich das Auto im Vergleich zum Vorjahres-Modell anfühlt. Ich hoffe, dass seine Kommentare gerechtfertigt sind, denn für solche Aussagen werden Fahrer doch auch bezahlt." Insgesamt fehlten dem Finnen rund sieben Sekunden auf die Bestzeit.