• 28.10.2014 08:26

  • von Dominik Sharaf

2005: Ein US-Grand-Prix für die Ewigkeit

Die Michelin-Reifen sind in der Steilkurve von Indianapolis eine Zeitbombe: Infolge eines beispiellosen Possenspiels mit Teamchefs und FIA starten nur sechs Autos

(Motorsport-Total.com) - Wenn sechs Autos - von denen zwei praktisch in einer anderen Liga unterwegs sind - im Kreis fahren, dann interessiert das normalerweise keinen Menschen. Ganz anders am 19. Juni 2005 in Indianapolis als die Formel 1 einen ihrer ganz großen Skandale erlebt: Was in den Medien später auch als "Indygate" firmiert, macht den US-Grand-Prix zu einem unvergesslichen Rennen bei dem es völlig nebensächlich ist, dass Michael Schumacher siegt. Viel wichtiger ist der große Verlierer: Michelin.

Titel-Bild zur News: Start in Indianapolis 2005

Start in Indianapolis 2005: Aber nur sechs Autos rollen an die rote Ampel Zoom

Das Debakel der Franzosen, die neben Bridgestone der zweite Reifenausrüster sind und sieben der zehn Teams beliefern, nimmt zwei Tage zuvor seinen Anfang. Im Freien Training hat Ralf Schumacher in Kurve 13, der dem Traditionsoval entlehnten Steilkurve hin zur Start- und Zielgeraden, einen heftigen Unfall. Der damalige Toyota-Pilot schlägt nach einem Reifenschaden in die direkt an der Bahn stehende Mauer ein. Im Rennen soll für ihn Freitagsfahrer Ricardo Zonta einspringen. Michelin ist ratlos. Pneus in anderer Konfiguration werden in einer Nacht- und Nebelaktion eingeflogen, verursachen aber identische Probleme.

Weil der Grund für den Defekt unklar ist, wenden sich die Franzosen nach dem Qualifying an die FIA und Rennleiter Charlie Whiting. Wegen der enormen Belastungen in Kurve 13 übernimmt Michelin nach mehr als zehn gefahrenen Runden keine Garantie für die Funktionstüchtigkeit mehr - es sei denn, das Tempo im betroffenen Abschnitt wird reduziert. Whiting schließt eine von den Teams vorgeschlagene Schikane genauso aus wie die Anlieferung eines dritten Reifentyps. Dessen Aufziehen würde nach dem Qualifying einen Regelbruch bedeuten und die Disqualifikation aller Piloten nach sich ziehen.

Skurrile Pläne: Strecke mit "Strafrunde" oder Ersatzpersonal

Der Rennleiter will, dass die Teams ihre Piloten anweisen, in der Steilkurve vom Gas zu gehen oder ständig zum Reifenwechsel an die Box beordern (hochgerechnet würde das eine Strategie mit sieben Stopps bedeuten). Beides wäre aber eine sportliche Bankrotterklärung, weshalb Michelin in Person der an der Strecke verantwortlichen Repräsentanten Pierre Dupasquier und Nick Shorrock nicht zustimmt. Um 10:00 Uhr Ortszeit, vier Stunden vor dem geplanten Start, gibt es ein Meeting mit Whiting, Bernie Ecclestone und allen Teamchefs - außer Ferrari-Rennleiter Jean Todt.

Ralf Schumacher

Ralf Schumacher und sein Freitagscrash lösen alles aus - für ihn soll Zonta fahren Zoom

Die Michelin-Teams wollen unbedingt die Schikane durchdrücken und haben alles vorbereitet, scheitern aber am heutigen FIA-Präsidenten. Dessen Scuderia ist genau wie die Hinterbänkler Jordan und Minardi mit Bridgestone-Material unterwegs, welches keine Probleme macht. Todt lässt nach fast einer Stunde über Ecclestone ausrichten, dass er sich querstellt und auch nicht bereit ist, an einem Krisentreffen teilzunehmen. Auch der damalige FIA-Boss Max Mosley, in Indianapolis nicht vor Ort, macht klar, dass er bei jeder baulichen Veränderung der Strecke für eine Absage des Grand Prix sorgen würde.

In ihrer Not bringen die betroffenen Teamchefs von BAR, McLaren, Red Bull, Renault, Toyota, Sauber und Williams skurrile Pläne auf den Tisch: Es sollen in einem Rennen mit Schikane nur Bridgestone-Teams punkten können. Oder nur die Michelin-Autos den Umweg befahren. Alles schmettert die FIA ab. Also werden die Blüten noch wilder. Es soll einen nicht zur WM zählenden Grand Prix geben, bei dem in diesem Fall abgezogenes FIA-Personal (wie Whiting oder Safety-Car-Fahrer und 'Motorsport-Total.com'-Kolumnist Bernd Mayländer) ersetzt werden.


Fotostrecke: Triumphe & Tragödien in den USA

Es fliegen die Bierdosen - nur Monteiro jubelt

Die Einhaltung der Regeln soll über ein Gentlemen's Agreement gesichert werden. Die mittlerweile konsultierten Fahrer votieren nicht gegen diesen Plan, Michael Schumacher und Rubens Barrichello überlassen dem weiter abstinenten Todt die Entscheidung. Doch der ist zunächst gar nicht gefragt: Der Versuch des Renault-Teamchefs Flavio Briatore, Mosley am Telefon von den Plänen seiner Mitstreiter zu überzeugen, scheitert eklatant. Der Brite soll sogar damit gedroht, sämtliche Veranstaltungen in den USA bei einem Alleingang infrage zu stellen, streitet das aber später ab.

Jenson Button

Der Skandal ist komplett, als 14 Autos nach der Einführungsrunde in die Box abbiegen Zoom

Der Eklat ist unausweichlich: Jordan-Teamchef Colin Kolles will seine Autos ins Rennen schicken und bei einem Boykott doch nicht mitmachen, was Paul Stoddart von Minardi ebenfalls von dem Plan abbringt. Ferrari pocht ohnehin auf den geschenkten Doppelerfolg. In die Einführungsrunde geht das Feld nach einem scheinbar normalen Prozedere noch angeführt von Toyota-Pilot Jarno Trulli. Was dann kommt, wusste eigentlich jeder vorher, dennoch trauen die Fans ihren Augen kaum: Statt zurück in die Startaufstellung geht es für die 14 Autos mit Michelin-Reifen in die Boxengasse. Alle erklären das Rennen für beendet, sodass an der Ampel nur sechs Boliden stehen.

Einscheidende Konsequenzen: Aus für Michelin und den Grand Prix

Das Publikum ist stocksauer: Es fliegen Bierdosen und Wasserflaschen, Buhrufe ertönen. Was auf der Strecke passiert hat mit Unterhaltung nichts zu tun. Schumacher und Barrichello fahren locker den Doppelerfolg ein, eine Runde dahinter kommt der Portugiese Tiago Monteiro im Jordan zu seinem ersten und letzten Podiumsplatz vor Teamkollege Narain Karthikeyan. Gleich zwei Runden aufbügeln lassen sich die Minardi von Christijan Albers und Patrick Friesacher, werden dafür aber mit sieben WM-Zählern entlohnt. Die Podiumszeremonie findet ohne die Ehrengäste statt.

Fans in Indianapolis

Fans in Indianapolis: Auf den Tribünen gibt es geballte Wut und Frust pur Zoom

Natürlich hat das Debakel ein Nachspiel: Die FIA bestellt alle Beteiligten nach Paris ein, schließlich ist die Nicht-Teilnahme streng genommen ein Bruch des Concorde-Agreements, der Vereinbarung über den kommerziellen Formel-1-Rahmen. Der Motorsport-Weltrat befindet die Teams in erster Instanz sogar für schuldig, ohne ein Strafmaß auszusprechen, nimmt diese Entscheidung einen Monat später jedoch wieder zurück. Die offizielle Begründung lautet, dass es nach den Gesetzen des Staates Indiana eine Straftat der Bosse gewesen wäre, ihre Piloten dem Risiko auszusetzen.

Den Fans ist das egal: Eine Welle der Entrüstung geht durch die Motorsport-Welt, allen voran in den USA, wo die Formel 1 ohnehin keinen leichten Stand hat. Michelin versucht die Sache zu retten, indem allen Zuschauern die Erstattung des Ticketpreises angeboten wird. Für die darauffolgende Ausgabe des Rennens verteilen die Franzosen 20.000 Freikarten, doch es ist zu spät: In den USA wird nur noch zweimal gefahren, ehe der Abschied aus dem Infield des "Nudeltopfes" beschlossene Sache ist. Michelin hatte sich Ende 2006 bereits aus der Königsklasse verabschiedet. Sämtliche Spekulationen über ein Comeback erweisen sich in der Folge als weniger fruchtbar, doch immerhin schließt die Formel 1 mit einem neuen Event im texanischen Austin ihren Frieden mit dem US-Publikum.

Tiago Monteiro

Nur Jordan-Pilot Tiago Monteiro kann sich auf dem Podium überhaupt freuen Zoom

Übrigens: Dass das Possenspiel hinter den Kulissen überhaupt in die Geschichte einging, ist Stoddart zu verdanken, der drei Tage nach dem "Black Sunday" alles öffentlich machte.