• 08.09.2015 10:57

  • von Dieter Rencken (Haymarket)

Warum sinken die Formel-1-Zuschauerzahlen in Europa?

Hohe Antrittsgelder gefährden Traditionsrennen, hohe Ticketpreise vertreiben die Fans - Das Geldbusiness der Formel 1 ruiniert die Rennen in Europa

(Motorsport-Total.com) - Das Formel-1-Fahrerlager von Monza beschäftigte sich mit der Frage, ob der "Tempel der Höchstgeschwindigkeit" auch nach 2017 als Grand Prix erhalten bleibt - ganz zu schweigen von 2022, wenn der Kurs im alten Königlichen Park nördlich von Monza sein hundertjähriges Jubiläum feiert. Die Rechteinhaber der Formel 1 würden gut daran tun, sich darüber Gedanken zu machen, weswegen die Rennen sinkende Zuschauerzahlen in ganz Europa zu verzeichnen haben. Nie trat dies mehr zu Tage als im aktuellen Jahr, in dem auf dem Kontinent weniger Grands Prix als je zuvor gefahren werden, wenn man sich ihren Anteil im Rennkalender anschaut.

Titel-Bild zur News: Fans

Immer weniger Fans pilgern in Europa zu den Formel-1-Rennen Zoom

Bei den verbliebenen Rennen wurde es verpasst, die Fans aus den Nachbarstaaten so anzusprechen, wie man es hätte erwarten können. Die Reiserouten und die logistischen Möglichkeiten verhalten sich in Europa so, dass die französischen Fans seit dem Ausscheiden des Formel-1-Grand-Prix von Frankreich im Jahre 2008 die Möglichkeit haben, recht einfach und (relativ) günstig zu einem der vier umliegenden Rennen reisen zu können. Also könnte man erwarten, dass jedes Rennen in Spanien, Monaco, Großbritannien und Belgien mit 20.000 Fans mehr zu rechnen hat, wenn man davon ausgeht, dass Magny-Cours an Renntagen fünfmal so viele Zuschauer hatte.

Ebenso verhält es sich mit Deutschland, wo man zu Hochzeiten der Formel 1 auf beiden Kursen zusammen 200.000 Menschen an die Rennstrecken brachte. Auf dieser Basis hätten Österreich, Ungarn und Belgien wenigstens 40.000 Leute mehr erreichen können, vor allem da Sebastian Vettel in Rot fährt, und da Nico Rosberg der einzige Mann im Feld ist, der es regelmäßig schafft, Lewis Hamilton herauszufordern. Dazu kommt noch die Dominanz von Mercedes. Sieben der zehn Fahrer, die sich in Spa-Francorchamps für Q3 qualifizierten, fuhren deren Triebwerke.

Fans fahren kaum in Nachbarländer

Somit hätte es der Ardennenkurs leicht auf 100.000 zahlende Kunden bringen können, geht man von den 60.000 Zuschauern aus, die es anziehen könnte - addiert mit (den niedrig angesetzten) möglichen 40.000 zusätzlichen Zuschauern aus Frankreich und Deutschland. In der Realität sieht dies allerdings anders aus. Nur 53.000 Fans zahlten, um sich das Rennen anzuschauen, obwohl man die fantastischen Rennen von Silverstone und Budapest im Gepäck hatte (um damit zu werben; Anm. d. Red.). Letzteres war ein Abstaubersieg Vettels.

Ebenso Monza hätte von den Tifosi geflutet werden müssen, seit das Rennen in San Marino nicht mehr stattfindet. Am wenigsten hätte sich das Nachbarrennen in Monaco der italienischen Fans annehmen sollen, die sich in Ferraris ruhigeren Tagen zu dem Event gesellten. Nicht einmal der schlimmste Analyst könnte diese Zahlen so weit beschönigen. Natürlich gab es auch Höhepunkte wie in Silverstone. Jedoch - wie immer - erzählen die Zahlen des Promoters, die von 140.000 Besuchern am Sonntag sprechen, nicht die ganze Geschichte.

Laut Insidern lösten 120.000 Besucher in Silverstone eine Karte. Weitere 10.000 waren Personal der Formel 1, hauptsächlich Teamangestellte, die zum Heimrennen mit Tickets versorgt wurden. Zudem kamen Mitglieder des British Racing Drivers Club, Streckenposten und so weiter. Dann darf man auch nicht vergessen, dass Silverstone eine Kampagne anfuhr, bei der es 44 Prozent Nachlass auf Eintrittskarten gab, als das Rennen näher rückte. Natürlich steckt hinter den billigeren Tickets eine gewisse Moral, doch das funktioniert nur, wenn die Rechteinhaber mitspielen.


Fotostrecke: Monza-Podium: So emotional ist Italien

Eine oberflächliche Analyse zeigt, dass Europa, das Herz der Formel 1, als Region circa 750 Millionen weitgehend wohlhabende Einwohner hat und in den letzten zehn Jahren rund 50 Prozent der Leute verloren hat, die zu einem Rennen gehen. Man schaue sich den europäischen Teil des Formel-1-Kalenders von 2005 an und legt die geschätzten Zuschauerzahlen am Sonntag zugrunde:

San Marino: 80.000 Zuschauer (Ferrari-Faktor)
Spanien: 120.000 Zuschauer (Alonso-Faktor)
Monaco: 60.000 Zuschauer
Europa (Nürburgring): 100.000 Zuschauer (Schumacher-Faktor)
Frankreich: 100.000 Zuschauer (Renault-Faktor)
Großbritannien: 100.000 Zuschauer (Lokalhelden David Coulthard und Jenson Button)
Deutschland (Hockenheim): über 100.000 Zuschauer (Schumacher-Faktor)
Ungarn: 100.000 (Ferrari-Faktor) Zuschauer
Belgien: 60.000 Zuschauer
Insgesamt: 890.000 Zuschauer

Zusätzlich kann man durchaus noch 30.000 Zuschauer beim Grand Prix der Türkei 2005 dazu zählen, wenn man davon ausgeht, dass die Mehrheit der Fans, die das Eröffnungsrennen besuchten, Europäer waren. Somit schaffte es die Formel 1 2005, eine Million Fans in Europa anzusprechen. Dies kann man mit den aktuellen Zahlen vergleichen:
Spanien: 70.000 Zuschauer
Monaco: 50.000 Zuschauer
Österreich: 75.000 Zuschauer (Red-Bull-Faktor)
Großbritannien: 110.000 Zuschauer (Lewis-Hamilton-Faktor)
Ungarn: 65.000 Zuschauer
Belgien: 55.000 Zuschauer
Italien(geschätzt): 65.000 Zuschauer
Insgesamt: 490.000 Zuschauer

Ein Jahrzehnt später - zugegeben mit drei Rennen weniger (vier, wenn man Istanbul mit dazurechnet) - werden etwa 400.000 weniger Europäer bei einem Formel-1-Rennen sein als noch 2005. Haben Formel-1-Polit-Glamour-Austragungsorte, die die bereits kaputten europäischen Rennen ersetzt haben, den Ausfall aufgefangen? Nicht, wenn die Türkei, Südkorea oder Indien als Maßstab gelten. Alle drei Events existieren bereits nicht mehr. Ebenso kämpft Abu Dhabi darum, 50.000 Zuschauer pro Jahr anzuziehen - mit Gimmicks wie den doppelten Punkten zum WM-Finale.

Deutschland nicht im Kalender

Dabei ist es nicht unrealistisch, dass Deutschland seine Veranstaltung dauerhaft verliert, wenn man die Stimmen aus dem Formel-1-Hauptquartier in London vernimmt. Auch Monza könnte bei seinem Vorhaben versagen, obwohl der Organisator, Ex-Formel-1-Pilot Ivan Capelli, alles Mögliche unternimmt. Dann könnte der gesamte Kontinent innerhalb von zwei Jahren unter 400.000 Zuschauer pro Jahr fallen. Um das ins Verhältnis zu setzen: Vor zehn Jahren hatte man allein in Deutschland 200.000 Zuschauer.

Die Zukunft von Monza, dem ältesten und traditionsreichsten Rennen, hängt einzig und alleine davon ab, ob die Veranstalter mit Bernie Ecclestone, dem Geschäftsführer der Formel-1-Gruppe (FOG), die die kommerziellen Rechte hält, einen neuen Vertrag abschließen können. FOG ist eine Tochtergesellschaft von CVC Fund IV, ein Investmentkonsortium, das von CVC Capital Partners kontrolliert wird. Man wendete sich von den Ursprungsländern ab und zog weiter, wo die Wiesen grüner sein sollen.

Hockenheim

Hockenheim wird 2016 wieder in den Formel-1-Kalender zurückkehren Zoom

Stimmt das? Man braucht nicht weiter zu blicken als in die Türkei, Südkorea, Indien oder den Stand mit dem Börsengang in Schanghai. Auf der anderen Seite wurde der Vertrag mit Malaysia um drei Jahre verlängert. Prompt wurde das Rennen mit der glamourösen Nachtveranstaltung in Singapur gekoppelt. Laut verlässlichen Quellen will Malaysia nun mit Abu Dhabi tauschen und künftig das Saisonfinale abhalten. Die Gespräche dazu sollen bereits laufen.

Die FOG-Strategie, die Austragungskosten in stark rückläufigen Märkten drastisch zu erhöhen, muss hinterfragt werden. Am besten kann man das mit einem Autohersteller vergleichen, der auf fallende Absatzzahlen in einem pessimistischen Markt mit erhöhten Preisen reagiert. Wenn der Preis eines populären Mittelklasseautos einem Rolls-Royce entspricht und man sich dann wundert, warum die Händler keine Kunden haben.

"Wir wollen nicht mehr nachlassen, als wir es bei anderen Leuten tun", hat Ecclestone in der vergangenen Woche darauf geantwortet, ob die Forderungen an Monza exorbitant hoch seien. "Wir wollen das gleiche wie bei anderen Kursen."

Nico Rosberg

Die Zukunft der berühmten Monza-Traditionsstrecke ist noch nicht gesichert Zoom

Alles schön und gut, aber es gibt noch andere Wege, um die gesetzten Ziele zu erreichen - die überteuerten Ticketpreise bei den Europarennen zum Beispiel zu reduzieren. Es ist eine Tatsache, dass sich Familien keine Tickets für Grands Prix leisten können. Wenn sie es können, dann können sie diese Ausgabe aber nicht rechtfertigen.

Nürburgring zahlt für die WEC nur einen Bruchteil der Formel 1

Die neuen Eigentümer des Nürburgrings bezeichneten die Formel-1-Preise als unrealistisch - deswegen wurde das Rennen aus dem Kalender gestrichen - trotzdem hatten sie keine Probleme das WEC-Rennen zu promoten. 62.000 zahlende Zuschauer, 40.000 davon am Renntag, passierten die Tore, um den Porsche-Triumph gegen Audi zu sehen.

Es stimmt, dass diese Zahl nur zwei Dritteln der Zuschauermenge beim letzten Formel-1-Rennen in der Eifel im Jahr 2013 entspricht. Auf der anderen Seite mussten für die WEC nur 20 Prozent des Formel-1-Antrittsgeldes bezahlt werden. Es ist auch richtig, dass die Fernsehübertragung der sechs Stunden nur einen Bruchteil der Formel-1-Zuschauerzahlen erreichte. Da die Rennpromoter aber nichts von den TV-Geldern erhalten (weder in der Formel 1 noch in der WEC), können ihnen die TV-Quoten doch egal sein? Es funktioniert auch andersherum.

Romain Dumas, Neel Jani, Marc Lieb

Das WEC-Rennen auf dem Nürburgring war für die Veranstalter ein voller Erfolg Zoom

Man brauch keine fundierte Ausbildung als Bankmanager, um zu realisieren, dass erhöhte Preise in einem fallenden Markt nur eines bedeutet: die eventuelle Bankrotterklärung des Promoters. Außer die Geldkoffer werden aus anderen Quellen gefüllt. Zum Beweis muss man in die Türkei blicken, wo der ehemalige Formel-1-Kurs nun ein Parkplatz ist. Oder Indien, wo der Buddh-Kurs hauptsächlich Weideland für Tiere ist. Sürkorea? Versinkt in der Ödnis.

Warum sollen Steuerzahler Fonds finanzieren?

Trotzdem, eine Gruppe an Investmentbankern mit kurzfristigem Interesse - wie solche Investments normalerweise sind - werden wahrscheinlich nicht die Antrittsgelder senken (und darüber hinaus auch nicht die Ticketpreise). Dazu hat Ecclestone die Lombardei und die Städte Monza und Mailand unter Druck gesetzt, den Grand Prix von Italien zu subventionieren, indem er den lokalen Motorclub durch die Mangel gedreht hat.

Es stellt sich aber trotzdem eine Frage: Warum sollte der italienische Steuerzahler in die Taschen von Donald Mackenzie, dem Mitbegründer und Vorsitzenden von CVC, sowie den Nutznießern von Ecclestones Familien-Fond einzahlen? Warum sollten die Investoren in Fund IV - wie das Kalifornische Rentensystem oder das Rentensystem für Lehrer in Texes - von Steuern aus der Lombardei finanziert werden?

Bernie Ecclestone und Donald Mackenzie

CVC-Boss Donald Mackenzie und Formel-1-Zampano Bernie Ecclestone Zoom

Das Gegenargument lautet immer, dass ein Grand Prix enorme ökonomische Vorteile für eine Region bedeutet. Südkorea und Indien würden dagegen sprechen, aber es besteht kaum Zweifel, dass zehntausende spendable Besucher bei den Politikern willkommen sind. Abgesehen von den zehn Millionen, die direkt in Fund IV laufen...

Spa zieht perfekt Besucher aus Nachbarländern an

Die Zahlen nach dem Grand Prix von Belgien, die von den Kommunen Malmedy und Stavelot (in deren Einflussgebiet die Spa-Strecke liegt) bereitgestellt wurden, sind aufschlussreich. In den vergangenen sechs Jahren haben die Kommunen rund 40 Millionen Euro in die Veranstaltung investiert. Alleine sechs Millionen in diesem Jahr. Auf der anderen Seite werden jährlich Umsätze von rund 45 Millionen Euro gemacht.

Auf den ersten Blick sieht das nach einem guten Geschäft aus. Man darf diese Zahlen aber nicht als Tatsachen ansehen. Nur rund ein Fünftel (9 Millionen) fließen über Steuern zurück an die öffentliche Hand. Von dieser Zahl ist der Anteil der ausländischen Besucher entscheidend. Die Ausgaben der Belgier wären ein Nullsummenspiel innerhalb des Landes. Dadurch halbiert sich der Vorteil.

Lewis Hamilton, Sergio Perez

2003 und 2006 fehlte Spa-Francorchamps wegen Finanzierungsproblemen Zoom

Das wird signifikant, wenn man es mit einer anderen Viertagesveranstaltung am gleichen Wochenende vergleicht: Dem 100 Kilometer entfernten Pukkelpop Musikfestival, das 1985 gegründet wurde. Erst in den vergangenen zehn Jahren wurde Pukkelpop ein Publikumsmagnet. In diesem Jahr waren mehr als 200.000 Leute aus 75 Ländern präsent. Im Laufe des Wochenendes wurden rund 70 Millionen Euro ausgegeben, hauptsächlich lokal.

Das Interesse aus dem Ausland war höher als für den Grand Prix und ein Großteil der Einnahmen floss in die öffentliche Hand. Außerdem erhalten die Promoter keine bis wenig öffentliche Gelder. Pukkelpop ist eines von vier großen jährlich veranstalteten Musikfestivals in Belgien. Es ist die Nummer zwei hinter dem weltbekannten Rock Werchter.

Gemeinsam generieren die jährlichen Festivals in Belgien 200 Millionen Euro, wobei gleichzeitig die Kosten nicht einmal annähernd so hoch sind wie für einen Grand Prix. Dazu kommt, dass durch die Veränderung in der Musikkonsumation durch Streamingdienste oder iTunes Festivals immer populärer wären, denn die Künstler sind wieder zu mehr Auftritten gezwungen.


Fotostrecke: F1 Backstage: Monza

Auch wenn so viele Musikfestivals für einen Sommer in Belgien relativ einzigartig sind, steht auch jeder Rennpromotor vor einer ähnlichen Konkurrenz im eigenen Territorium - egal in welcher Form und oft bei niedrigeren Eintrittskosten. Diese Tatsache muss von FOG und CVC in Zukunft beachtet werden, angefangen mit Monza. Die Konsumenten, die Fans, haben mehrere Möglichkeiten, ihre Euros an den Mann zu bringen.

Wenn man diesen Trend verpasst, wird die Popularität in den Mutterländern der Formel 1 weiterhin sinken. Es könnte passieren, dass es 2025 weniger als vier Grands Prix pro Jahr in Europa gibt, sollte das Interesse weiter sinken. Killt man das Interesse in Europa, dann killt man die Formel 1. CVC, du bist gewarnt.

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