• 28.04.2015 21:50

  • von Gary Anderson (Haymarket)

Frag Gary Anderson: Wie man Peter Warr in die Scheiße reitet

Der ehemalige Technikchef Gary Anderson erklärt unter anderem, warum die WEC die Formel 1 nie überholen wird und wie das Brake-by-Wire-System funktioniert

(Motorsport-Total.com) - Warum ist Renault schlechter als im Vorjahr? Wie funktioniert das elektronische Bremssystem und warum hört in der Formel 1 niemand auf die Meinung der Fans? Gary Anderson beantwortet im Folgenden einige interessante Fanfragen. Anderson war früher Chefmechaniker bei McLaren, Chefdesigner bei Jordan, Stewart sowie Jaguar und pflegt auch heute noch die besten Kontakte ins Formel-1-Umfeld. Deshalb kann Anderson viele Einblicke geben und nimmt sich in seinen Antworten kein Blatt vor den Mund. Also los, Mr. Anderson!

Titel-Bild zur News: Gary Anderson

Der erfahrene Technikexperte Gary Anderson beantwortet Fragen der Fans Zoom

@LauraLeslie23 (Twitter): "Warum ist der Renault-Antrieb in diesem Jahr weniger fahrbar und unzuverlässiger als 2014?"
Gary Anderson: "Renault wurde im Vorjahr von Red Bull sehr heftig kritisiert, dass sie Änderungen im technischen Management vornehmen sollen. Langfristig ist das vielleicht richtig, aber kurzfristig fürchte ich, dass Renault Rückschläge erleiden wird. Jeder Motorenhersteller muss mit wenigen Entwicklungstoken arbeiten. Man muss zuerst feststellen, wo seine Schwächen liegen und muss dann Lösungen für diese Probleme finden. Dass man diese Token hat, bedeutet, dass man disziplinierter als früher entwickeln muss."

"Die prinzipielle Antwort auf deine Frage ist, dass Renault die meisten Token für die Motorentwicklung falsch eingesetzt hat. Bevor man keine stabile und gut geordnete Mannschaft hat, dann wird jeder in seine eigene Richtung gehen. Das sorgt nur für Verwirrung. Wenn das passiert, dann sind für gewöhnlich die Entscheidungsträger nicht die richtigen Leute."

"Was die Fahrbarkeit betrifft, besteht der Antrieb aus dem Motor und dem Turbo. Zusätzlich kommt noch die Leistung vom ERS. Dass diese Komponenten reibungslos zusammenarbeiten, ist nicht einfach zu erreichen. Da Renault nach mehr Gesamtleistung gesucht hat, haben sie diese Balance komplett falsch hinbekommen. Das sorgte für eine spitze Leistungskurve, was kein Fahrer will. Man hat dadurch stark durchdrehende Reifen, und das zerstört deine Hinterreifen."

@StegTheDinosaur (Twitter): "Wir hatten die besten Fahrer, die schlechtesten Autos und die schockierendsten Momente. Gary, was sind für dich die lustigsten Formel-1-Momente?"
Anderson: "Das kann ich nüchtern nicht beantworten! Ich kann mich erinnern, dass Mark Hughes, Simon Arron, Tony Dodgins, David Kennedy, Declan Quigley und ich in Magny-Cours einen lustigen Abend mit einigen Gläsern Rotwein und einem Barbecue hatten. In Magny-Cours gab es sonst nicht viel zu tun, also wäre es bei einem anderen Rennen vielleicht nicht so lustig gewesen."

"Einer der lustigsten Momente war wahrscheinlich in Rio in den späten Siebzigern, als ich bei McLaren war. In jeder Garage gab es eine Toilette. Brasilianische Abwasserleitungen und James Hunt passten aber nicht zusammen. Er hatte die schreckliche Angewohnheit, diese Leitungen regelmäßig zu blockieren. Bitte probiert das nicht zuhause aus!"

"Aus irgendeinem unerfindlichen Grund war es als Chefmechaniker meine Verantwortung, die Leitungen in Ordnung zu bringen. Ich stülpte Plastik über die Toilette und verklebte es mit dem Klositz. Dann führte ich ein Luftrohr durch die Mitte der Plastikabdeckung und blies in den Abfluss mit einem Druck von 100psi. Es gab kein Problem, der Abfluss war sauber und für das nächste Mal bereit."


Fotostrecke: Die 10 ungewöhnlichsten Lackierungen

"Lotus - und ich meine das originale Lotus-Team - hatte die Garage nebenan. Am nächsten Tag kam einer von ihnen zu uns herüber. Er lachte sich zu Tode, also fragten wir ihn, was los sei. Er erzählte uns, dass am Vortag Peter Warr, der damals Lotus-Teammanager war, in der Toilette stand und pisste, als plötzlich die Toilette explodierte."

"Ich schätze, was auf der einen Seite abläuft muss auf der anderen wieder hinaus. Ich dachte aber nicht, dass es so nahe wäre. Also sagte ich zum Lotus-Mechaniker, dass man brasilianischen Installationen nicht trauen kann."

Kann es McLaren an die Spitze schaffen?

LenM4 (Twitter): "Könnte McLaren von einer großen Reglementreform einen Vorteil ziehen und an die Spitze kommen, so wie es Mercedes 2014 gelungen ist?"
Anderson: "Die Regeländerungen für 2014 behandelten in erster Linie den Motor und nicht das Chassis. Mercedes hat in dieser Abteilung die beste Leistung abgeliefert und die Chassis-Abteilung hat sehr gut mitgehalten."

"Als Honda Ende 2008 die Formel 1 verlassen hat, wurde es BrawnGP. Daraus wurde später das heutige Mercedes-Team. BrawnGP hat sich perfekt auf die Regeländerung angepasst und mit Jenson Button die WM gewonnen. Als das Team dann Merceses wurde, blieb man bis 2014 hinter den Erwartungen zurück. 2009 konnte das kleine Team von Ross Brawn unter seiner Führung sehr schnell auf die Regeländerung regieren."

Jenson Button

Das Wunder von 2009: BrawnGP wird über Nacht Formel-1-Weltmeister Zoom

"Es tut mir leid, aber ich glaube nicht, dass sich McLaren so gut auf etwas einstellen kann. Wenn man sich die vergangenen Regeländerungen ansieht, dann musste McLaren zu Saisonbeginn immer auf die Führenden aufholen. Ich weiß aber nicht genau, warum das so ist. Seit McLaren Adrian Newey an Red Bull verloren hat, haben sie scheinbar die Führungsfigur verloren. Das ist immens wichtig, wenn man aus Regeländerungen einen Vorteil ziehen will."

"Adrian hat die technische Abteilung bei McLaren geleitet. Es war wie bei vielen Firmen eine Art Pyramide. McLaren wollte aber eine breitere Führungsebene. Die unterschiedlichen Bereiche, die für den Bau eines aktuellen Formel-1-Autos benötigt werden, sollten die gleichen Kompetenzen erhalten. Das wurde gemacht, um die Abhängigkeit von einer Führungsposition auszuschließen. Ich glaube, dass das die Firma zu einem Öltanker gemacht hat, anstatt ein Speedboot zu sein. Wenn sich die Regeln ändern, muss man fähig sein, schnell darauf zu reagieren."


Fotos: McLaren-Technical-Centre in Woking


Auspuff bei Ferrari für Leistungsgewinn verantwortlich?

@AmirSalkicF1 (Twitter) "Wir haben von dem neuen Ferrari-Auspuff gehört. Macht das für die Leistung des Antriebs einen großen Unterschied?"
Anderson: "Bei den heutigen Antrieben sind so viele Teile nötig, dass alles sehr wichtig ist. Wenn wie bei Ferrari der Turbolader niedrig montiert ist, können die Auspuffrohre kürzer sein. Das bedeutet, dass die Abgasenergie zum Turbo verbessert ist. Das bedeutet wiederum, dass die MGU-H mehr Leistung generieren kann."

"Wenn man das Auspuffendrohr durch das Getriebe führt, wie das bei Ferrari der Fall ist, wird für sich alleine wenig Effekt haben. Es erlaubt dir beim Kühlsystem mehr Möglichkeiten, was wiederum der Gesamtperformance zugute kommt. Es geht um Details, jede Kleinigkeit zählt. Ferrari hat in diesem Jahr sehr gut gearbeitet, oder zumindest besser gearbeitet als Renault, denn sie haben die Lücke zu Mercedes verkürzen können. Es ist aber noch ein weiter Weg."

Sebastian Vettel

Ferrari hat im Heck des SF15-T einige interessante Detaillösungen entwickelt Zoom

Bruce Tomlin (Facebook): "Haben alle Crewmitglieder, die den Boxenstopp ausführen, auch andere Funktionen im Team, oder gibt es welche, die rein für die Boxenstopps an der Strecke sind?"
Anderson: "Diese Teammitglieder sind alle entweder Mechaniker, Reifenspezialisten oder Truckfahrer. Bei jedem Team sind zwischen 16 und 18 Leuten involviert. Sie werden aus einer Gruppe von bis zu 60 Personen ausgewählt, die zu allen Rennen reisen."

"Im Unterschied zur Vergangenheit haben die Teams realisiert, dass die körperliche und mentale Fitness für diesen Job sehr wichtig ist. Sie müssen alle trainieren und durch dieses Training sind in den vergangenen Jahren die Zeiten des Boxenstopps so dramatisch gesunken. Die Boxenstopps werden auch viel effizienter als früher trainiert. Es geht nicht darum, immer mehr Stopps zu trainieren, um immer schneller zu werden. Es geht um kleine Details bei der Konstanz und der Effizienz. Sie studieren sich selbst und analysieren, wo Zeit gespart werden kann."

Boxenstopp

Gary Anderson würde die Anzahl der Mechaniker beim Boxenstopp reduzieren Zoom

"Nachdem ich all das gesagt habe, denke ich, dass diese Boxenstopps mit knapp drei Sekunden viel zu schnell sind. Als Zuschauer erkennt man gar nichts mehr. Wenn ich etwas zu sagen hätte, dann würde ich die Personen für einen Boxenstopp auf sieben begrenzen. Eine Person pro Rad, Wagenheber vorne und hinten, und den Lollipop-Mann, der das Auto wieder losschickt. Mit dieser Gruppe würde ein Boxenstopp rund sieben Sekunden dauern. Es wäre genug Zeit, um zu sehen, was eigentlich passiert. Es würde auch die Rennstrategie verändern."

Mercedes-Bremsproblem in Bahrain

Michael Fulford (Email): "Mercedes hatte in Bahrain im Rennen Bremsprobleme. Kannst du uns genau erklären, wie das Brake-by-Wire-System funktioniert und was passiert, wenn das System ausfällt?"
Anderson: "Das ist eine Frage über eine Thema, das meiner Meinung nach ernsthafte Konsequenzen haben könnte. Jedes Team arbeitet unterschiedlich und an individuellen Systemen. So funktioniert das Ganze im Prinzip: Die ERS-Batterien werden beim Bremsvorgang durch die Hinterachse aufgeladen. Mit anderen Worten funktioniert es wie eine große Lichtmaschine. Diese funktioniert nur, wenn der Fahrer auf das Bremspedal steigt und Energie verwendet wird, um das Auto zu verzögern und um die Batterien aufzuladen."

"Das funktioniert nur an der Hinterachse, da die Vorderachse komplett hydraulisch arbeitet. Die Autos haben immer noch bei der Hinterachse ein hydraulisches Bremssystem. Als leistungsorientiertes Team will man Gewicht sparen. Mercedes hat die Größe des Hydrauliksystems für die Hinterachse dramatisch verkleinert. Während man das System auflädt, brauch man diese Bremsen nicht."

Nico Rosberg, Kimi Räikkönen

Wegen nachlassender Bremsleistung kämpfte Rosberg mit stumpfen Warren Zoom

"So wie bei modernen Flugzeugen gibt es in modernen Autos viele Sicherheitssysteme. Wenn ein System versagt, wechselt es in einen Modus, der dich nach Hause bringt. Wenn zum Beispiel die Batterien zu heiß werden, werden sie sich automatisch beim Bremsvorgang nicht mehr aufladen lassen. Damit hast du ein ineffizientes hinteres Bremssystem."

"Mit etwas Vorlaufzeit kann sich jeder Fahrer darauf recht gut einstellen. Aber wenn er das macht, fährt er dann ein Auto mit einem gravierenden Sicherheitsproblem? Bremsversagen darf man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Der Fahrer im Auto weiß davon Bescheid, aber die anderen Piloten nicht. Dieses Manko könnte man einfach aus der Welt schaffen."

Ist die WEC die bessere Formel 1?

Adrian Wells (Email): "Viele Leute sprechen darüber, dass die Langstrecken-WM viel populärer als die Formel 1 wird, weil die Rennen spannend sind und die Technik interessant ist. Glaubst du, kann die WEC die Formel 1 überholen?"
Anderson: "Die WEC ist eine großartige Serie und technisch ist sie sehr fortschrittlich. Wenn man bedenkt, dass die WEC-Autos 24 Stunden fahren müssen, dann zeigt das die Zuverlässigkeit und welch technisches Können dahintersteckt."

"Ein 24-Stunden-Rennen entspricht ungefähr 14 Grands Prix. Mir ist bewusst, dass alles für den geforderten Einsatz entwickelt wird, aber trotzdem ist das eine beachtliche Leistung. Zur Frage: Wird sie die Formel 1 als Topklasse im Motorsport überholen? Ich glaube nicht. Meiner Meinung nach würden sich die meisten Zuschauer die ersten 15 Minuten eines Rennens anschauen. Dann mähen sie den Rasen und kommen dann zurück vor den Fernseher und schauen das Rennende."

Marcel Fässler, Andre Lotterer, Benoit Treluyer

Vorsprung durch Technik: Ist die WEC die bessere Formel 1? Zoom

"Es liegt an den Fernsehstationen und den Kommentatoren, die Aufmerksamkeit der Zuschauer zu wecken. In einem Grand Prix mit 1:40 Stunden Dauer ist das möglich. Bei einem WEC-Rennen, das zwischen sechs und 24 Stunden dauert, ist das sehr schwierig."

"Wir sagen oft, dass sich die Formel 1 verändern soll und man auf die Zuschauer hören muss. Die Fans zahlen schlussendlich dafür. Es tut mir leid das sagen zu müssen, aber jene Leute die etwas verändern können, hören niemandem zu. Wenn sich daran nicht bald etwas verändert, werden die Zuschauerzahlen weiter sinken, das Geld von den Sponsoren wird schrumpfen. Wir sehen, dass die Formel 1 ein Opfer ihrer eigenen Dummheit wird."

Die Verantwortlichen hören nicht auf die Fans...

Michael Brown (Email): "Hast du dich damals als Technischer Direktor nur um dein Team gekümmert, oder auch so wie heute um die Fans?"
Anderson: "Als ich Technischer Direktor war, wurde ich von einem Team bezahlt, innerhalb des Budgets und des Reglements das schnellstmögliche Auto zu bauen. Ich habe immer versucht, die Ästhetik weit oben auf meine Prioritätsliste zu setzen."

"Ich habe immer mit der Einstellung gearbeitet, dass wenn das Auto gut aussieht, die Mechaniker stolz darauf sind. Wenn sie dann diese zusätzliche Liebe zu dem Auto haben, entdecken sie vielleicht etwas, das schiefgehen könnte. Wenn das Auto nicht gut aussehen würde, würden sie am Abend die Plane darüber werfen und schauen, dass sie so schnell wie möglich ins Hotel kommen."

Fans in CHina

Die Fans weltweit sind am Ende das Rückgrat der Formel 1 Zoom

"Ich glaube nicht, dass es die Aufgabe des Technischen Direktors ist, die Fans glücklich zu machen. Es ist die Verantwortung der FIA und der FOM. Sie müssen ein technisches und sportliches Reglement entwerfen, dass die Fans glücklich macht, denn sie sind die Kunden der Formel 1."

"Warum investieren Sponsoren für Logos auf den Autos und an den Rennstrecken? Wenn es auf einem anderen Produkt wie einer Waschmaschine oder einem Rasenmäher wäre, und das Produkt die Kunden nicht zufriedenstellt, dann würde es vom Markt genommen. Es würde ein neues Produkt vorgestellt werden. Wenn das nicht passiert, dann könnte diese Firma zusperren."


Fotos: Großer Preis von Bahrain, Girls


"Das Problem ist, dass die Verbände und die Teams glauben, die Formel 1 ist ihr Spielzeug und sie können tun, was sie wollen. Ich schätze, niemand von ihnen hat in den vergangenen Jahren auf die Umfragen der Fans gehört. Die großen Helden der Fans gibt es schon lange nicht mehr - den Jim Clark, die Jackie Stewarts, die Emerson Fittipaldis und die Ronnie Petersons, um nur einige zu nennen."

"Ich weiß nicht, ob sich das jemals verändern wird. Aber wenn in der Formel 1 wieder der Fahrer der Held sein soll, dann müssten viele technische Details bei den Autos entfernt werden."