• 03.06.2014 14:48

  • von Gary Anderson (Haymarket)

"Eine Frage, Mister Anderson!": Ein Experte erklärt die Technik

Ex-Formel-1-Designer Gary Anderson über die Lösung des Überholproblems, die Verbrauchsdifferenzen der Mercedes-Jungs und eine Nähmaschine namens Yamaha

(Motorsport-Total.com) - Die neue Formel-1-Saison wird nach der großen Reglementnovelle dominiert von Technikfragen. Warum verbraucht Lewis Hamilton weniger Benzin als Nico Rosberg und wann werden die neuen Autos endlich so schnell sein wie die alten? Gary Anderson, früher Chefmechaniker bei McLaren, Designer bei Jordan, Stewart sowie Jaguar und heute TV-Experte der 'BBC' erklärt heute, warum die Formel 1 den Abtrieb halbieren sollte und warum sich die Formel 1 vor Neuerungen verschließt.

Titel-Bild zur News: Fernando Alonso

Gary Anderson in Aktion: Was sagt denn Fernando Alonso zur Ferrari-Krise? Zoom

Calixto Erico (Twitter): "Warum hat die Formel 1 Angst davor, verschiedene Grand-Prix-Formate auszuprobieren, wie umgedrehte Startaufstellung oder Sprintrennen?"
Gary Anderson: "Immer wenn jemand etwas in der Öffentlichkeit ausprobiert, dann riskiert er zu scheitern und sein Gesicht zu verlieren. Das ist der Hauptgrund, warum nichts passiert. Dinge müssen sich aus bestimmten Gründen ändern, was in der Öffentlichkeit debattiert werden muss. Die Formel 1 zahlt den Preis durch die Fans und Zuschauer selbst dafür, denn wenn sie aufhören zu schauen, dann verliert man die großen Sponsoren, und alles geht den Bach runter."

"Die große Frage ist: Was wollen Fans und Zuschauer? Wir hatten in den vergangenen Jahren viele Umfragen, aber die Leute, die für Änderungen sorgen können, scheinen jegliche Vorschläge zu ignorieren. Jeder - auch ich - hat eine Meinung, und ich würde gerne besseres Racing sehen. Um das zu erreichen, müssen die Autos rund 50 Prozent des aktuellen Abtrieblevels verlieren. Der Hauptfokus sollte darauf gelegt werden, die Komplexität des Frontflügels zu reduzieren. Das sollte den Autos erlauben, hintereinander herzufahren, ohne viel Abtrieb zu verlieren und zurückzufallen."

"Um diesen Verlust auszugleichen, sollte man die Breite der Hinterreifen erhöhen, um ähnliche Kurvengeschwindigkeiten im Bereich von 150 km/h zu erreichen. Mit weniger Abtrieb wären die Autos in schnellen Kurven langsamer, was sicherer wäre. Sie wären auch schneller in langsamen Kurven, was zu mehr Überholmanövern führen würde, da die Rennlinie nicht so wichtig wäre. Mit einem Einheitsreifenhersteller bedeutet das auch, dass ein Team wie Marussia denselben Griplevel wie Mercedes oder Red Bull vom Reifen bekommt. Die Aerodynamik-Budgets zu reduzieren, wird die Ausgaben drastisch senken."

"Zusätzlich würde ich auch gerne eine umgedrehte Startaufstellung nach Reihenfolge der Meisterschaft sehen. Wir hätten dann einen echten Weltmeister, der ein Auto in allen Situationen fahren kann - und nicht nur ein schnelles Auto von der Spitze weg fährt."

Kamui Kobayashi, Kimi Räikkönen

Die umgedrehte Startaufstellung könnte besonders in Monaco interessant sein Zoom

@foolish_savant (Twitter): "Fehlt Ferrari beim Design des Autos etwas der Weitblick? Seit 2010 sieht das Auto immer unbalanciert aus."
Anderson: "Weitblick ist etwas schwierig zu bemessen. Ich schätze, dass der Doppeldiffusor 2009 ziemlich visionär war, aber in Wirklichkeit ging es darum, eine Grauzone zu finden und sie auszunutzen. Die Regeln sind für alle gleich, und es ist die Interpretation der Regeln, die einem Team einen Vorteil gibt."

Was ist bei Ferrari los?

"Ferrari hat mich in den vergangenen paar Jahren verwirrt, da das Heck des Autos aufzugeben scheint. Um das zu bekämpfen, wird das Auto mit Untersteuern eingestellt, was im zweiten Teil des Swimming Pools in Monaco deutlich wurde. Der Frontflügel und der Nasenbereich sind die wichtigsten Aerodynamik-Teile, und wenn man sie nicht richtig hinbekommt, werden sie den Luftstrom beeinflussen."

"Bei der Naseninterpretation von 2014 fehlt etwas in diesem Bereich, denke ich. Entweder sagt der Windkanal nicht die Wahrheit, oder das Team war nicht in der Lage, ein Frontflügelkonzept zu erarbeiten, das die richtige Luftstromstruktur besitzt, um das Heck das Autos zum Leben zu erwecken."

James Frankland (Twitter): "Welche verbotene Technologie würdest du wieder einführen, um die moderne Formel 1 zu verbessern?"
Anderson: "Wenn ich die Technologie wieder einführen könnte, die wir in den vergangenen Jahren in der Formel 1 gesehen haben, und sie mit der Zeitspanne seit ihrem Verschwinden update, dann wären wir vielleicht einen Schritt von einem komplett elektronisch gesteuerten Auto entfernt. Der Fahrer würde den Systemen einfach nur einen Input geben, was er machen möchte - schneller, langsamer, links lenken, rechts lenken - und die Black-Box würde den besten Weg heraussuchen, um diese Inputs zu erreichen."

"Das wäre eine ingenieurstechnische Herausforderung, und Leute wie Adrian Newey würden sich die Hände reiben, aber die Buchhalter wären vielleicht nicht so glücklich. Ich bezweifle auch, dass es das Racing verbessern würde. Aber wie ich bereits oben gesagt habe, benötigt man eine enorme Reduktion bei der Aerodynamik. Das, kombiniert mit zusätzlichem mechanischen Grip von den Reifen, würde das Potenzial für Überholmanöver verbessern und für mehr Spektakel sorgen."


Fotostrecke: So funktioniert ERS

V8 noch lange im Vorteil?

@FakeGhostPirate (Twitter): "Wie lange wird es dauern, bis die neuen Autos so schnell wie die V8 sind? Wird das überhaupt jemals passieren?"
Anderson: "Ich bin mir nicht sicher, dass das jemals passieren wird. Wenn man den Motor für einen Moment außer Acht lässt, dann sind diese Autos 50 Kilogramm schwerer als im vergangenen Jahr. Das macht - je nach Strecke - vielleicht 1,5 Sekunden aus."

"Es gibt immer noch einen kleinen Verlust in Sachen Abtrieb, der vielleicht bei einer Sekunde liegt - wieder streckenabhängig. Die Reifen sind zudem haltbarer, was man nicht ohne Performance-Verlust hinbekommt - also sagen wir mal, dass das eine halbe Sekunde kostet. Wenn man das zusammennimmt, dann ist man auf einer 100-Sekunden-Runde drei Sekunden langsamer."

"Wenn man die diesjährigen Zeiten prozentual mit den letztjährigen Zeiten vergleicht, was die Streckenlänge egalisiert, dann sehen wir folgendes:"

Schnellste... Wochenend(WE)-Runde 13/14...Rennrunde 13/14...WE-/Renndifferenz 14
Australien... +4,036 Prozent... +3,588 Prozent... +3,472 Prozent
Malaysia... +2,668 Prozent... +3,898 Prozent... +4,099 Prozent
Bahrain... +0,926 Prozent... +0,006 Prozent... +4,155 Prozent
China... +4,055 Prozent... +3,712 Prozent... +2,123 Prozent
Spanien... +5,592 Prozent... +3,132 Prozent... +4,325 Prozent
Monaco... +2,876 Prozent... +2,483 Prozent... +3,277 Prozent
Durchschnitt... +3,359 Prozent... +2,803 Prozent... +3,569 Prozent

"Das zeigt, dass die generelle Performance der Power-Unit im Vergleich zum letztjährigen Motoren- und KERS-Paket ziemlich ähnlich ist. Die schnellste Runde des Wochenendes 2014 ist verglichen mit der schnellsten Rennrunde ebenfalls ziemlich konstant - außer in China, was aber am Wetter lag. Das zeigt, dass auf allen Strecken ein ähnliches Spritsparen im Rennen genutzt wird."

"Um deine Frage zu beantworten: Ja, ich sehe eine halbe Sekunde von der Aerodynamik in diesem Jahr kommen; und wenn Pirelli abenteuerlustiger mit den Reifen wird, kommt auch von da etwas. aber es wird nicht mehr als eine Sekunde in der Gesamtheit sein."

Schwachbrüstige Yamaha

M. Ludovic (Twitter): "Wie viel Hass verspürtest du auf die Yamaha-Motoren 1992?"
Anderson: "Alles im Leben ist ein Mittel zum Zweck. Ohne Yamaha hätte Jordan vielleicht nur ein Jahr existiert. Wir brauchten die kostenlosen Motoren unbedingt, aber in Wirklichkeit denke ich nicht, dass jemand gedacht hat, dass sie so schlecht sein würden."

"Das größte Problem war die Inkonstanz. Von einem Motor zum anderen, die eigentlich identisch waren, gab es große Performance-Unterschiede. Ich rede von 20 km/h Unterschied beim Topspeed und eine Sekunde Rundenzeit-Differenz! Man wusste nicht, was man hatte, bis man auf die Strecke ging. Das, gepaart mit Motoren, die 30 Sekunden nach dem Anfeuern festlaufen, hat es zu einer sehr beschwerlichen Saison gemacht."

Mauricio Gugelmin

"Nähmaschine": Der Jordan von 1992 musste mit dem Yamaha-Motor auskommen Zoom

Ich erinnere mich an Michael Schumacher, der, als er für uns im Cosworth-gepowerten Jordan 1991 in Spa gefahren ist, gesagt hat, dass er hinter einem Brabham-Yamaha den Berg zur Eau Rouge hochgefahren sei und nicht viel davon gehalten hat. Das ist vermutlich einer der Gründe, warum wir ihn für 1992 verloren haben: Er wusste, dass wir zu Yamaha gehen."

"Stefano Modena, der 1992 bei uns an der Seite von Mauricio Gugelmin fuhr, hat es den Yamaha-Jungs zusammengefasst. Er sagte, dass alles um einen herum passiert - viel Lärm und Drehzahl - aber es hat sich so angefühlt, als ob man einfach den Finger vor das Auto halten könnte und es somit einfach anhalten könnte. Es hatte kein Drehmoment und hat sich so angefühlt, als würde man eine Nähmaschine fahren. Ich habe in diesem Jahr öfter meine Beherrschung verloren, aber ich schätze, das hat mich zu einem belastbareren Menschen gemacht."

Jay Ell (Twitter): "Hast du eine Ahnung, warum Rosberg in den Rennen immer mehr Benzin zu verbrauchen scheint als Hamilton?"
Anderson: "Es scheint nicht nur so, er nutzt mehr Benzin, um die gleiche Rundenzeit zu fahren. Das ist eine Frage, die viele Leute stellen. Wenn ich an der Strecke Beobachtungen durchführe, dann merke ich, dass Lewis mehr Geschwindigkeit in den Kurvenscheitel nimmt als Nico."

"Er nutzt mehr Benzin, um die gleiche Rundenzeit zu fahren." Gary Anderson über "Spritmonster" Rosberg

"Ich glaube, dass er dazu in der Lage ist, weil er etwas früher als sonst vom Gas geht. Dadurch verliert man zwar einen Bruchteil in der Anbremszone, allerdings ist das Auto beim Bremsen stabiler und erlaubt dir, mit mehr Vertrauen in den Kurveneingang zu gehen, was bedeutet, dass man den Scheitelpunkt konstanter trifft."

Mehr Benzin oder weniger Benzin, das ist hier die Frage

"Man spart Benzin, weil man eher vom Gas geht, und man verbessert die Rundenzeit, weil man schneller an den Scheitelpunkt fahren kann. Wenn man das konstant machen kann, wozu Lewis in der Lage scheint, dann muss man vor dem Rennen nicht so viel Sprit mitnehmen. Auf den Bildschirmen sieht man, dass es rund drei Prozent, also drei Kilogramm von den 100 erlaubten, sind. Wenn man diese drei Kilo pro Runde weniger über ein 60-ründiges Rennen mitnimmt, dann ist das sechs Sekunden wert. Die meisten Teams fahren schon mit weniger Benzin als nötig los, um die Autos leichter zu machen."

Dermot Farrelly (Facebook): "Ich habe mich gefragt, ob man einen Vorteil hat, wenn man das Maximum an Benzin mitnimmt, um dann das Extrabenzin zu nutzen, um bei höchster Drehzahl für mehr Power beim Motor zu sorgen. Das würde doch auch mehr ERS-Power zurückgewinnen lassen."
Anderson: "Dermot, es ist die Durchflussmengenbegrenzung und nicht die Maximummenge, die Fahrer davon abhält, mehr Drehzahl zu benutzen. Bei 11.000 bis 11.500 Umdrehungen pro Minute - je nach Motor - kommt der Benzinfluss an sein Limit von 100 Kilogramm pro Stunde. Mehr Benzin im Tank zu haben, wäre daher nicht vorteilhaft."

"Bei diesen Umdrehungen hält man im Grunde den Motor mit dem Turbo zurück, der wiederum mit der MGU-H zurückgehalten wird. Das generiert dann elektrische Power, die direkt in die MGU-K geht. Darum schaltet ein Fahrer hoch und hält die Drehzahlen weit unter dem Maximum von 15.000 Umdrehungen. Es erlaubt dem Auto, an Geschwindigkeit zuzulegen, ohne den Durchfluss von 100 Kilogramm pro Stunde zu überschreiten. Das Auto mit weniger als den erlaubten 100 Kilogramm zu betanken, ist einfach nur ein Austausch von Gewicht gegen Rundenzeit."

Shane West (Facebook): "Können wir zurück zu Retro-Designs gehen, sodass Formel-1-Fahrzeuge wieder wie echte Formel-1-Auto aussehen? In den vergangenen Saisons waren sie einfach langweilig."
Anderson: "Ich wünschte, das wäre möglich. Wenn ich ein historisches Formel-1-Rennen besuche, dann sehen sie so aus, wie ein Rennauto aussehen sollte. Und die Fahrer konzentrieren sich und versuchen, Rundenzeit zu finden, anstatt die Box zu besuchen, wo 20 Ingenieure mit unzähligen Daten die magische Lösung suchen."


Fotos: Großer Preis von Monaco, Girls


"Es sind die Forschungs- und Designabteilungen der Teams, die dafür sorgen, dass die Autos so aussehen, wie sie aussehen. Wenn jemand (anderes als Adrian Newey) ein Auto mit Zeichenbrett und Stift designen würde und ab und zu jede zweite Woche mal den Windkanal besuchen würde, dann bezweifle ich, dass es sehr konkurrenzfähig sein würde."