• 01.05.2024 14:20

  • von J.Noble, Co-Autor: F.Nugnes, Übersetzung: N.Fischer

Im Opel Vectra vor dem Feld: So erlebte der Safety-Car-Fahrer Imola 1994

Der Safety-Car-Fahrer in Imola 1994 erinnert sich: Der Horror mit dem lahmen Opel Vectra und wieso ihm Ayrton Senna kurz vor dem Tod die Faust zeigte

(Motorsport-Total.com) - Der Tod von Ayrton Senna in Imola heute vor 30 Jahren ist in der Zwischenzeit bis ins kleinste Detail aufgearbeitet worden. Einer der weniger bekannten Aspekte des Geschehens am 1. Mai 1994 ist jedoch das Gefühl der Hilflosigkeit derjeniger, die sich im Safety-Car befanden, das das Formel-1-Feld zu Beginn anführte.

Titel-Bild zur News: Das Safety-Car vor Ayrton Senna beim Formel-1-Rennen in Imola 1994

Mit einem Opel Vectra wurde das Feld in Imola eingebremst Zoom

Das waren damals Safety-Car-Fahrer Max Angelelli sowie der spätere Formel-1-Renndirektor Charlie Whiting, die in einem völlig unterpowerten Opel Vectra saßen, der nicht schnell genug war, um vor einem Formel-1-Feld herfahren zu können. Sie sahen sich einer Situation ausgesetzt, in der kein Mensch jemals sein möchte.

Im Laufe der Ereignisse fühlten sie sich nicht nur machtlos, als der damalige Führende Senna sie dazu drängte, das Tempo zu erhöhen, sondern wurden auch noch jahrelang mit quälenden Gedanken zurückgelassen.

Whiting ist leider nicht länger unter uns, um seine Erfahrungen von damals mit uns zu teilen, doch in einem Video-Interview für den Mosley-Film, der vor einigen Jahren erschien, schilderte er seine glasklaren Erinnerungen an die Momente vor Sennas Unfall.

"Ich war Beobachter im Safety-Car", so Whiting, der damals der Technische Delegierte der FIA war. "Das war eine meiner kleinen Aufgaben."

"Damals hatte ich nicht wirklich viel mit den Autos während des Rennens zu tun, von daher saß ich einfach im Safety-Car. Und dann gab es diesen Unfall am Start mit Pedro Lamy, glaube ich. Also haben sie das Safety-Car herausgeholt und wir sind losgefahren."

"Senna führte das Rennen an. Und ich erinnere mich noch, als wäre es gestern gewesen: Wir fuhren durch die obere Schikane und Senna zog neben unser Auto."

"Er war einfach da, offenes Visier und sagte: 'schneller, schneller.' Und ich sagte: 'Können wir nicht. Wir können nicht schneller fahren. Das ist unmöglich.'"

"Die Bremsen wurden heiß, man konnte die Bremsen riechen, und der arme Fahrer hat im Auto sein Bestes gegeben. Am Ende der Runde kamen wir rein und eine Runde später hatte er seinen Unfall."

Unterpowert und übergewichtig

Die überhitzenden Bremsen und die fehlende Motorleistung hatte Angelelli schon gefürchtet, als er in Imola ankam.

Damals war er offizieller VW-Fahrer in der Deutschen Formel 3 und hatte zwei Jahre zuvor den italienischen Titel gewonnen. Er wusste also um die Anforderungen seiner Heimstrecke in Imola sehr gut Bescheid.

Er wusste ganz genau, dass die 204 PS des Opel Vectra, der 1.350 Kilogramm wog, nicht genug waren.

In einem neuen Buch namens "Senna: The truths", das von Franco Nugnes, einem Redakteur der italienischen Ausgabe von Motorsport.com, geschrieben wurde, erinnert sich Angelelli an den Horror, den er spürte, als er nach Imola kam und das Safety-Car gezeigt bekam.

Jos Verstappen und Max Angelelli

Angelelli bei einem Rennen der Formel 3 neben Sieger Jos Verstappen Zoom

"Als sie mir das Auto gezeigt haben, ist mir das Blut in den Adern gefroren", sagt er. "Es war nicht geeignet, um vor dem Formel-1-Feld zu fahren."

"Ich bin zu Charlie Whiting gegangen, dem Technischen Delegierten der FIA, und habe ihm meine Zweifel erläutert. Dass das Auto nicht kraftvoll genug war und darüber hinaus auch für diese Strecke kein adäquates Bremssystem hatte."

Angelelli fuhr mit dem Opel einige Trainingsrunden, doch dabei wuchsen seine Sorgen nur noch weiter: "Es war ein echtes Desaster", sagt er. "In den beiden Senken [in Acque Minerali und Rivazza] brauchte man einen Anker, um ihn zu bremsen."

"Am Ende der erst zweiten Runde überhitzten die Bremsen und das Pedal wurde weich, was den Bremsweg noch zusätzlich erhöhte. Ich war besorgt, sah aber, dass meine Angst keine Reaktion hervorrief."

Die Suche nach einer Alternative

Ernsthaft besorgt darüber, dass der Opel nicht annähernd gut genug war, um ein Safety-Car in der Formel 1 zu sein, ging Angelelli in das Fahrerlager des Porsche-Supercups, um zu schauen, ob dort ein passenderes Gefährt verfügbar sei, das er benutzen kann. Ihm wurde gesagt, das sei der Fall.

"Ich war stolz auf meine Wahl und machte mich daran, den Safety-Car-Schriftzug und die Kamera in das Cockpit des Porsche zu übertragen. Aber als am Samstagmorgen alles fertig war, erklärte man mir, dass ich den 911er nicht benutzen könne", sagt er.

Das Safety-Car vor Ayrton Senna beim Formel-1-Rennen in Imola 1994

Angelelli musste mit einem Opel Vectra vorliebnehmen Zoom

"Ich war noch jung und verstand offensichtlich bestimmte Dynamiken [in der Formel 1] nicht. Offensichtlich gab es kommerzielle Vereinbarungen, die ich nicht kannte. Für mich war der Opel Vectra einfach nicht als Safety-Car geeignet, also habe ich nach einem geeigneteren Auto gesucht, und das war der Porsche."

"Ohne mir weitere Erklärungen zu geben, sagte man mir, ich solle alles aus dem 911er ausbauen und den Vectra wieder zusammensetzen. Mir wurde klar, dass sich das, was eigentlich Spaß machen sollte, in einen Albtraum verwandeln könnte."

Kein Helm

Angelelli hatte keine andere Wahl, als beim Opel zu bleiben, und musste sofort ausrücken, nachdem der Lotus von Pedro Lamy am Start auf den stehenden Benetton von JJ Lehto aufgefahren war.

Die Entscheidung kam so schnell, dass Angelelli nicht einmal Zeit hatte, seinen Overall richtig anzuziehen oder einen Helm aufzusetzen - darum gibt es auch Bilder von ihm, wie er ohne Kopfschutz fährt.

"Es geschah alles ganz plötzlich", erinnert er sich. "Ich war nicht bereit, da ich weder den oberen Teil des feuerfesten Anzugs noch den Helm auf dem Rücksitz angezogen hatte."

"Der Unfall kam für mich überraschend, aber es war allein meine Schuld. Charlie Whiting erhielt den Befehl über Funk und sagte mir, ich solle losfahren: Um auf die Strecke zu kommen, mussten wir durch die Boxengasse fahren."


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"Charlie behielt die Kontrolle und diktierte die Anweisungen mit ruhiger Stimme. Ich kannte ihn recht gut, denn er war der Rennleiter von Macau, wo ich mehrere Jahre lang in der Formel 3 gefahren war."

"Er saß auf dem rechten Sitz und trug keinen Helm, weil er über ein Funk-Headset mit der Rennleitung verbunden war, um die Anweisungen auszuführen."

"Wir fuhren auf die Strecke, verlangsamten das Tempo und warteten darauf, dass die Autos hinter uns ankamen. Mit einem Blick in den Rückspiegel sah ich den Williams von Senna herankommen, der in Führung lag."

"Ich beschleunigte, aber da ich mir der Grenzen des Autos bewusst war, suchte ich nicht nach 100 Prozent Leistung, zumal ich nicht wusste, wie lange ich auf der Strecke bleiben musste, bevor das Rennen wieder aufgenommen werden konnte."

"Ich wusste, dass die Bremsen nicht mehr als ein paar Runden halten würden, also versuchte ich beim Bremsen konservativ zu sein. Und beim Beschleunigen trat ich das Gaspedal mit so viel Kraft, dass ich ein Loch in den Boden hätte machen können."

Das Auto fühlte sich an wie im Stillstand

Wenn Angelelli schon während der Trainingsrunden über seinen Opel besorgt war, dann war das nichts im Vergleich zu dem Horror, den er vor dem Formel-1-Feld verspürte. Denn da wurden die Unzulänglichkeiten des Autos schonungslos offengelegt.

"Imola hat den Vectra beim Beschleunigen nicht herausgefordert, zumindest bis wir zu den beiden Anstiegen kamen. Der kritischste Punkt war die Ausfahrt aus der Acque Minerali", sagt er.

"Auf der Fahrt zur Variante Alta fühlte sich der Opel an, als würde er steckenbleiben. Ich konnte nicht schneller als 130 km/h fahren."

Das Feld hinter dem Safety-Car beim Formel-1-Rennen in Imola 1994

Vor allem bergauf hatte der Vectra große Schwierigkeiten Zoom

"Senna, der das Feld anführte, fuhr an die Seite, wie er es später mehrmals tat, zeigte mir seine Faust und sagte, ich solle schneller fahren. Bei mir werden Erinnerungen wach, die ich hoffte, aus meinem Gedächtnis gelöscht zu haben: Charlie und ich waren die letzten, die Ayrton in die Augen sahen."

"Der Brasilianer war wütend und hatte mehr als Recht dazu. Sein Williams fuhr zu langsam und die Reifen werden Druck und Temperatur verloren haben."

"Whiting blieb still und forderte mich nicht auf, schneller zu fahren. Er war sich bewusst, dass der Vectra nicht genug Leistung hatte und dass inzwischen alle Warnlampen auf dem Armaturenbrett aufleuchteten."

"Als ich bergab in die Rivazza bremste, musste ich vorsichtig sein, also war die Geschwindigkeit ... lächerlich. Nach drei Runden kam ich trotz aller Vorsichtsmaßnahmen über den Randstein, auf die Wiese und mit zwei Rädern ins Kiesbett."

"An diesem Punkt habe ich mir Sorgen gemacht und zu Charlie gesagt: 'Schau, ich habe keine Bremsen mehr! Ich kann noch eine Runde fahren und dann müssen wir an die Box zurückkehren, weil ich nicht mehr kann: Es ist gefährlich. Wie würden wir dastehen, wenn das Safety-Car von der Strecke fahren würde?'"

Whiting kommunizierte die Nachricht an die Rennleitung, aber die Ansage kam, dass das Safety-Car draußen bleiben muss.


Fotostrecke: Safety-Car im Wandel der Zeit

"Ich fuhr weiter, wurde aber immer langsamer und langsamer", erklärt Angelelli. "Es wurde peinlich. Das ist nichts Persönliches gegen den Vectra, aber dieses Auto sollte nicht vor dem Formel-1-Feld fahren."

"Am Ende von Runde vier haben sie uns endlich die Anweisung gegeben, dass wir an die Box zurückfahren können, sodass das Rennen weitergehen kann. Ich habe den Opel in seiner Bucht geparkt und den Motor ausgemacht - und er ist nie wieder angegangen. Das Auto war tot."

"Als zwei Runden später der Unfall von Senna passierte, haben sie das Rennen sofort mit der roten Flagge gestoppt. Wir hätten nicht mehr fahren können."

Von Sennas Wut heimgesucht

Die Fernsehaufnahmen von Senna, der mehrfach mit den Armen in Richtung Safety-Car winkte, damit es schneller fährt, haben bei vielen zu dem Gedanken geführt, dass seine Langsamkeit ein Faktor für den folgenden Unfall des Brasilianers war. Und genau dieser Gedanke quälte auch Angelelli selbst.

"Ich werde Ihnen sagen, was ich erlebt habe: Jahrelang hatte ich Gewissensbisse wegen des Unfalls", sagt er. "Ich dachte, dass seine Reifen Druck verloren hatten und das Auto deshalb auf den Bodenwellen von Tamburello aufsetzte - dann war vielleicht etwas gebrochen, bevor er die Strecke verlassen hatte."

"Der Unfall ereignete sich zu Beginn der dritten Runde nach dem Neustart, also in der siebten des Rennens, und mir war nicht klar, ob die Reifen zu diesem Zeitpunkt wieder den richtigen Druck und die richtige Temperatur hatten, um guten Grip zu garantieren."


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"Um meine Zweifel zu beseitigen, rief ich nach dem Rennen Gianni Morbidelli an, der für Footwork fuhr. 'Mach dir keine Sorgen', sagte er mir. 'Wir sind Tamburello gleich mit Vollgas gefahren und das Aufsetzen auf dem Boden hat kein großes Problem bei der Kontrolle des Autos verursacht.'"

Der Einfluss von Angelelli auf die Ereignisse dieses Tages sollte später im Rahmen der Ermittlungen und des Gerichtsverfahrens nach Sennas Tod ins Fadenkreuz der Justiz geraten.

"Ich hoffte, dass es keine Reaktion geben würde, aber stattdessen musste ich mich verteidigen", sagt er. "Ich wurde von den Anwälten von Williams vorgeladen."

"Ich hatte das Gefühl, dass versucht wurde, die Aufmerksamkeit von den Geschehnissen abzulenken und die Rolle des Safety-Cars zu manipulieren - dass es zu langsam gewesen sei und einen Druckverlust in den Reifen verursacht habe, wodurch der Williams von der Strecke abgekommen sei."

Er fügt hinzu: "Ich kann nur sagen, dass ich in einer schwierigen Situation 100 Prozent des Potenzials aus dem Auto herausgeholt habe. Zuerst habe ich versucht, die Bremsen am Leben zu halten und dann das Tempo zu halten, das das Auto erlaubte."

Die Wunden heilen

Die Geschwindigkeit des Safety-Cars wurde als Faktor für den Unfall von Senna ausgeschlossen, doch das stoppte nicht die Gefühle, die Angelelli die nächsten Jahre beeinflussen sollten.

Zufällig arbeitete Sennas Renningenieur David Brown später mit Angelelli in der IMSA-Serie zusammen. Trotz der gemeinsamen Erinnerungen an den Event in Imola sprachen die beiden nie darüber, was an diesem Tag passiert war.


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"Das ist ein Thema, mit dem wir uns nie befasst haben", merkt Angelelli an. "30 Jahre sind nun vergangen. Vielleicht erinnere ich mich nicht mehr an alle Details dieses verfluchten Tages, aber ich erinnere mich an die tiefen Gefühle und die Narben, die er bei mir hinterlassen hat."

"Als ich sah, wie der größte Fahrer der Geschichte neben mir fuhr und mir mit der Faust sagte, ich solle schneller fahren, fühlte ich mich winzig. Ich wollte verschwinden, nie geboren werden."

"Für mich war es schrecklich: Es schien, als würde er aus dem Cockpit des Williams zu mir sprechen, so klar war die Botschaft, die er mir übermittelte."

"Ich verließ die Rennstrecke und hatte fast ein schlechtes Gewissen. Es war schrecklich. Morbidellis Worte waren tröstlich, aber sie haben mein Gewissen nicht beruhigt."

"Aber nach drei Jahrzehnten sind die tiefen Wunden der Seele langsam verheilt."