• 19.10.2010 18:47

  • von Pit Lane

WM-Vorentscheidung? Dass ich nicht lache!

"Man kann mit Sicherheit behaupten, dass nur noch drei Fahrer im Titelrennen sind", schreibt der 'Guardian' - Kolumnist Pit Lane argumentiert dagegen

Titel-Bild zur News: Pit Lane

Über so manche Schlagzeile in den Medien kann ich derzeit nur laut lachen!

Liebe Freunde des WM-Fünfkampfes,

als ich diese Woche im Lufthansa-Flieger von London nach München saß, nutzte ich die Zeit, um mich ein bisschen durch die Pressestimmen nach Suzuka zu klicken. Zu lesen bekam ich dabei heimische UK-Analysen wie "Man kann mit Sicherheit behaupten, dass nur noch drei Fahrer im Titelrennen sind" ('Guardian') oder, in Bezug auf McLaren, "Jeder weiß, dass es eigentlich vorbei ist" ('Times').

"Viel Glück für die Zukunft, vielleicht im nächsten Jahr", schreibt mein Kollege Martin Samuel von der 'Daily Mail', und in der 'Sun' steht: "Die Titelhoffnungen von Lewis Hamilton und Jenson Button liegen nach dem Schock von Japan zerfetzt am Boden. Hamilton gab bereits zu, dass er nach dem schlimmsten Formel-1-Wochenende seiner Karriere jedes der verbliebenen drei Rennen gewinnen und darauf hoffen muss, dass seine Rivalen nicht ins Ziel kommen."

Dazu fällt mir nur ein: Was für ein unglaublicher Unsinn! Ja, mag schon sein, dass meine Landsmänner Lewis und Jenson 28 beziehungsweise 31 Punkte Rückstand auf WM-Leader Mark Webber haben, aber das McLaren-Dreamteam deswegen schon abzuschreiben, ist verfrüht. Ich wundere mich doch sehr darüber, dass sich die Zeitungsjournalisten genau wie diverse TV-Analysten und Experten vom neuen Punktesystem so an der Nase rumführen lassen...

Auch für euch reduziert sich die Formel-1-WM 2010 anscheinend schon auf einen Dreikampf, denn auf unsere Frage, wer Weltmeister wird, antworten 33,00 Prozent mit Fernando Alonso, 32,35 Prozent mit Mark Webber und 25,33 Prozent mit Sebastian Vettel. Nur 7,14 Prozent sehen noch eine Chance für Hamilton, gar nur 2,18 Prozent tippen auf Button (dem ich persönlich den Titel am meisten gönnen würde, weil er die Eier hatte, neben Lewis zu McLaren zu wechseln, und sich teamintern ganz gut behauptet hat).

¿pbvin|512|3195||0|1pb¿Zur Verdeutlichung meiner Argumente sollten wir vielleicht einfach mal den aktuellen WM-Stand genauer betrachten - und zwar nicht nur nach aktuellem Punktesystem gerechnet, sondern auch nach jenen bis einschließlich 2009 beziehungsweise bis einschließlich 2002. Spätestens dann sollte nämlich jedem klar werden, wie eng es drei Rennen vor Schluss immer noch zugeht.

Aktuelles System (25-18-15-12-10-8-6-4-2-1):

01. Webber (220)
02. Alonso (206)
03. Vettel (206)
04. Hamilton (192)
05. Button (189)

System bis 2009 (10-8-6-5-4-3-2-1):

01. Webber (88)
02. Vettel (84)
03. Alonso (83)
04. Hamilton (79)
05. Button (77)

System bis 2002 (10-6-4-3-2-1):

01. Webber (70)
02. Alonso (67)
03. Vettel (64)
04. Hamilton (61)
05. Button (55)

Ich erinnere an 2007: Damals hatte Lewis nur zwei statt drei Rennen vor Schluss zwölf Punkte Vorsprung auf seinen McLaren-Teamkollegen Alonso und sogar 17 auf Kimi Räikkönen im Ferrari. Mit dem Faktor 2,5 multipliziert, um das heutige Punktesystem annähernd zu replizieren, hätte Hamilton vor drei Jahren also sogar 30 beziehungsweise 43 (aufgerundet von 42,5) Punkte Vorsprung gehabt - und trotzdem wurde am Ende Kimi Champion!

Button fehlen derzeit 31 Zähler auf die Spitze, sein Rückstand ist also um 28 Prozent geringer als jener von Räikkönen 2007 - und er hat noch eine Chance mehr, Boden gutzumachen. Insofern halte ich es für den allergrößten Blödsinn, diese Weltmeisterschaft schon für entschieden zu erklären. Ich sage: Da ist noch alles offen - und erfreuen wir uns doch an einem in der Formel-1-Geschichte fast einzigartigen Fünfer-Schlagabtausch, anstatt diesem auf Biegen und Brechen die Spannung in Abrede zu stellen!

Noch ein Rechenbeispiel, das noch gar nicht so lange her ist: 2008 war drei Rennen vor Schluss von einem WM-Thriller die Rede, als Hamilton (84), Massa (77), Kubica (64) und Räikkönen (57) um den Titel fighteten. Damals lag die Streuung vom Ersten bis zum Vierten bei 32 Prozent, heute trennen den Ersten (Webber) nur 14 Prozent vom Fünften (Button). Macht für mich unterm Strich 100 Prozent Spannung!


Fotos: Baufortschritt in Yeongam


Aber wenn ich schon euch unter die Nase reibe, dass ihr nicht zu vorschnell urteilen solltet, dann könnt ihr euch wenigstens damit trösten, dass es echten Insidern nicht anders geht. So hat zum Beispiel Alex Wurz vor Suzuka zur Tageszeitung 'Österreich' gesagt: "Alles spitzt sich auf ein Duell Alonso gegen Webber zu." Nach seinem Sieg liegt Vettel allerdings punktegleich mit Alonso an zweiter Stelle - und viele sehen in ihm wegen des besten "Momentums", wie wir Briten sagen, jetzt den Topfavoriten.

Auch Niki Lauda meinte vor Suzuka, dass nur noch Webber und Alonso im Titelrennen sind. "Die anderen haben, fürchte ich, keine Chance mehr", so seine Analyse. Vettel habe "zu viele Fehler gemacht. Das hat schon beim WM-Start begonnen, als er gesagt hat: Für mich zählt nur der Titel. So was kannst du dir denken, sagen darfst du es aber nie!" Nach Vettels souveränem Sieg in Suzuka klang "Niki Nazionale", wie ihn meine österreichischen Freunde nennen, schon wieder ganz anders...

"Die anderen haben keine Chance mehr." Niki Lauda

Tatsache ist, dass ein einziges Rennen den WM-Stand komplett auf den Kopf stellen kann. Lass McLaren in Südkorea, auf für alle neuem Terrain, einen Doppelsieg einfahren - und schon sieht die Welt ganz anders aus. Tatsache ist aber schon, dass sich die McLaren-Champions Hamilton und Button wohl keinen Fehler mehr leisten können. Die Top 3 und insbesondere natürlich Webber, der mit 14 Punkten Puffer ausgestattet ist, haben da etwas mehr Spielraum für ein schwächeres Wochenende.

Über alles andere will ich im Gegensatz zu diversen anderen Journalisten und Experten nicht spekulieren, denn das wäre totales Casino. Klar, man kann sagen, dass Red Bull das beste Auto und die beste Punktesituation hat, aber die Briten aus Milton Keynes, die sich als Österreicher ausgeben, haben schon oft bewiesen, wie man vermeintlich sichere Erfolge in den Wind schießen kann - und Ferrari war auch so konstant wie meine Erfolge beim Roulette. Daher freue ich mich lieber auf eines der spannendsten WM-Finale aller Zeiten - und vielleicht auf einen Weltmeister, mit dem kaum noch jemand gerechnet hätte...

C'est la vie!


Pit Lane

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