Das große Interview mit Mike Gascoyne

Der Lotus-Technikchef über Twitter am Kommandostand, das Erbe des großen Colin Chapman, die ehrgeizigen Ziele für das zweite Formel-1-Jahr und vieles mehr

(Motorsport-Total.com) - "Bulldogge" wird Mike Gascoyne von einigen im Fahrerlager genannt. Knorrig, menschlich schwierig und selbstzufrieden soll er sein, sagt man. Doch im Interview mit 'Motorsport-Total.com' ist davon nichts zu spüren - im Gegenteil: Der 47-Jährige ist kumpelhaft-freundlich, beantwortet jede Frage ausführlich und wirkt dabei keineswegs gelangweilt, sondern aufrichtig am Gespräch interessiert.

Titel-Bild zur News: Mike Gascoyne

Mike Gascoyne: Als "Bulldogge" verschrien, im Interview ganz handzahm...

Wir zeichnen also ein ganz anderes Bild von Gascoyne als jenes, das zu seinen Toyota-Zeiten entstanden ist. Damals soll er sich in Köln wie eine verwöhnte Primadonna aufgeführt und sich schon mal mit den japanischen Vorständen angelegt haben - aber das ist Schnee von gestern. Man hat den Eindruck: Bei Lotus hat der Brite eine neue Heimat gefunden. Es wird wohl seine letzte in der Formel 1 bleiben, wie Gascoyne im Laufe unseres ausführlichen Interviews verrät...#w1#

Frage: "Mike, mir ist aufgefallen, dass du einen eigenen Twitter-Account hast."
Mike Gascoyne: "Das stimmt."

Twitter-Account von der Tochter eingerichtet

Frage: "Stimmt es, dass du den selbst fütterst, auch vom Kommandostand aus?"
Gascoyne: "Ja. Tony Fernandes (Lotus-Teamchef; Anm. d. Red.) ist es sehr wichtig, die Fans und die neuen Medien gut zu bedienen. Meine Tochter hat meinen Twitter-Account eingerichtet, weil sie fand, dass ich einen haben sollte. Ich war sehr überrascht darüber, wie schnell das Interesse gewachsen ist und wie viel Feedback wir bekommen haben. Daher haben wir das ausgebaut."

"Das Feedback von den Fans ist sehr positiv - die haben Spaß daran. Also ist es eine gute Sache. Klar, manchmal ist es stressig und dann ist es schwierig für mich, Nachrichten zu schreiben, aber die Fans nehmen dieses Angebot insgesamt sehr gut an. Als neues Team ist es uns sehr wichtig, den Fans zuzuhören und ihnen zu geben, was sie wollen. Daran sollte sich die ganze Formel 1 ein Beispiel nehmen."

Frage: "Wessen Idee war es, dass du twitterst?"
Gascoyne: "Wirklich die meiner Tochter. Ich habe dann bei den Wintertests damit angefangen. Bei den Wintertests sind die Tage lang und manchmal passiert nicht viel. Da erschien es mir vernünftig, den Leuten mitzuteilen, dass wir gerade dies oder jenes machen. Innerhalb von ein paar Tagen wurde klar, dass die Leute das verfolgen. Es dann auch während der Rennen zu machen, war nur logisch. Das Feedback nach dem ersten Rennen war unglaublich. Von da an ist die Sache weiter gewachsen."

Frage: "Ich habe von dir auch schon Tweets gelesen, in denen du den nächsten Boxenstopp im Rennen in zwei, drei Runden angekündigt hast. Werdet ihr das auch beibehalten, wenn ihr einmal vorne mitfährt?"
Gascoyne: "Das hoffe ich! Klar, wenn du in einem direkten Duell bist, eine Runde früher reinkommen willst, um dann in dieser Runde eine Sekunde zu gewinnen und den Gegner zu überholen, dann wirst du das nicht drei Runden vorher ankündigen."

Lotus-Fabrik

Juni 2010: Die Lotus-Fabrik in Hingham funktioniert mit jedem Tag effizienter Zoom

"Aber ich habe gelernt, dass die Öffentlichkeit das versteht. Und in unserer derzeitigen Position können wir sehr offen sein, weil von den Gegnern kaum jemand darauf achtet, was wir machen. Wenn du schon ein Rennen hast, wo du weißt, dass du den Leuten nicht verraten kannst, was du planst, dann ist es gut, wenigstens nach dem Rennen zu schreiben und zu erklären, warum das so war. Dann haben die Leute noch mehr Einblick und verstehen, warum man nicht alles verraten kann."

Frage: "Wie gibst du die Nachrichten ein? Mittels Laptop, Handy?"
Gascoyne: "Ich habe meinen Laptop am Kommandostand. Wenn Zeit bleibt, tippe ich eine Nachricht."

Safety-Car wichtiger als Twitter

Frage: "Du schreibst ziemlich oft, obwohl du sicher viel zu tun hast. Nervt dich das nicht manchmal?"
Gascoyne: "Nein, denn ich habe einen Sportdirektor und einen Chefingenieur an meiner Seite, die eigentlich alle Entscheidungen treffen. Ich bin nur der erfahrene Kerl, der ihnen Ratschläge geben kann. Wenn ein Safety-Car rauskommt, schreibe ich natürlich nicht erst meine Twitter-Nachricht fertig, sondern dann haben die Boxenentscheidungen klar Vorrang. Aber die zwei Jungs an meiner Seite müssten eigentlich auch ohne mich auskommen - und wenn sie ohne mich auskommen, dann schaffen sie es auch, wenn ich zwischendurch mal 30 Sekunden lang eine Nachricht eintippe."

"Es hat ein Rennen gegeben, wo das Wetter ein paar Mal gewechselt hat. Da war ich die meiste Zeit ruhig. Ich habe dann geschrieben: 'Sorry, ich war beschäftigt!' Die Leute akzeptieren das, denn wenn es kein Pressesprecher für einen macht, kommt so etwas eben vor. Gleichzeitig musst du natürlich auch akzeptieren, dass du manchmal Kritik dafür ernten wirst, wenn du deine Meinung äußerst. Die Menschen haben eben unterschiedliche Meinungen, aber das ist normal."

Frage: "Die Formel 1 versucht gerade, die Fans mehr an sich zu binden und mehr Fans zu gewinnen. Findest du, dass dafür soziale Netzwerke wie Twitter oder Facebook intensiver genutzt werden sollten?"
Gascoyne: "Wir versuchen das, aber wir können noch viel weiter gehen. Ich ermuntere beide Renningenieure dazu, sich bei Twitter anzumelden, um den Fans mitteilen zu können, was sie mit ihren Fahrern vorhaben. In diesem Bereich kann man viel machen. Das sollten alle Teams nutzen."

¿pbvin|512|2465||0|1pb¿Frage: "Im Dezember habe ich mit Tony Fernandes darüber gesprochen, dass er vieles anders machen will. Zum Beispiel erwähnte er, dass es in der Fabrik keine reservierten Parkplätze für die Teamchefs oder die Fahrer gibt..."
Gascoyne: "Ich muss zugeben, dass ich einen reservierten Parkplatz hatte, aber den haben wir aufgelöst. Das ist eben Tonys Philosophie, die er auch bei AirAsia (Fernandes' Airline; Anm. d. Red.) verfolgt. Ich habe kein Problem damit. So sollte es doch sein."

Frage: "Toyota war ein großer Konzern. Genießt du es, jetzt wieder zurück zu den Wurzeln zu gehen?"
Gascoyne: "Sehr! Als ich mir vor diesem Projekt Gedanken über die letzten vier oder fünf Jahre gemacht habe, fand ich heraus, dass ich lange keine Freude mehr hatte."

Frage: "Aber zumindest hat die Gage gestimmt..."
Gascoyne: "Ja, aber Geld ist nicht alles. Ich habe bei Toyota mit vielen guten Leuten zusammengearbeitet, aber es gab auch viel Frust. Mir ist bewusst, dass ich den Ruf habe, ein schwieriger Charakter zu sein, aber eigentlich war ich in allen Teams sehr beliebt. Das mag vielleicht nicht für die Managementebene gegolten haben, aber für alle anderen Kollegen."

Bei den Kollegen meist recht beliebt

"Okay, bei Force India und Toyota ist der Erfolg ausgeblieben, aber die meisten unserer Lotus-Mitarbeiter kommen von Force India und Toyota. Anscheinend arbeiten also doch einige Menschen ganz gerne mit mir. Für uns ist es natürlich auch großartig, erfahrene Mitarbeiter zu haben. Aber um wieder zum Punkt zu kommen: Dieses Projekt hat meinen Enthusiasmus und meine Freude an der Formel 1 neu geweckt. Und wenn dem so ist, dann schert sich doch kein Mensch mehr um die Vergangenheit..."

Frage: "Ist es dir wichtig, in die Fußstapfen von Colin Chapman zu treten?"
Gascoyne: "Niemand kann je in die Fußstapfen von Colin Chapman treten, denn er war ein unglaublich innovativer Kerl - nicht nur als Ingenieur, sondern auch was Marketing und so weiter angeht. Es war aber auch eine andere Ära, denn damals gab es viele Bereiche, über die sich noch niemand Gedanken gemacht hatte. Also war es einfacher, innovativ zu sein. Wir müssen uns aber der immensen Tradition der Marke Lotus bewusst sein und müssen diese pflegen."

"Als wir unseren Einstieg bekannt gegeben haben, wurde das Projekt von vielen als reine Marketingübung abgestempelt. Aber je länger wir dabei sind, desto mehr werden wir für das respektiert, was wir im vergangenen Jahr geleistet haben. Du darfst nicht vergessen: Vor einem Jahr um diese Zeit hatten wir noch nicht einmal den Startplatz. Lotus bestand aus drei Mitarbeitern. Wenn du jetzt diese Organisation siehst, dann haben wir wohl keinen schlechten Job gemacht, oder? Ich meine, Colin Chapman hätte das gutgeheißen."

"Als wir unseren Einstieg bekannt gegeben haben, wurde das Projekt von vielen als reine Marketingübung abgestempelt." Mike Gascoyne

"Clive Chapman (Colin Chapmans Sohn; Anm. d. Red.) und seine Mutter Hazel unterstützen uns sehr. Wir unternehmen viel mit seinem Classic Team Lotus. Kürzlich hatten wir den T127 bei einer von Clives Veranstaltungen. T127 ist übrigens übereinstimmend mit der früheren Lotus-Typenbezeichnung - hätten wir das Auto nicht so genannt, wäre es kein Lotus gewesen. Die Lotus-Gruppe hat uns das gestattet. Die Unterstützung, die wir von früheren Lotus-Fans erfahren, ist gigantisch. Ein bisschen Lotus von früher ist schon noch da, aber Colin Chapman kann leider nicht mehr dabei sein, weil er nicht mehr am Leben ist. Das ist mit Bruce McLaren nicht anders. Dafür gibt es viele Beispiele. Man sollte also in die Zukunft schauen."

"Außerdem sind wir in Norfolk stationiert. Für mich ist das etwas Besonderes, denn ich bin dort aufgewachsen und fünf Meilen von der Lotus-Fabrik entfernt zur Schule gegangen. Wenn ich am Ende meiner Karriere sagen kann, dass ich zum Schluss in Norfolk gearbeitet, Lotus in die Formel 1 zurückgebracht und mit dem Team ein paar Siege gefeiert habe, dann werde ich ein sehr glücklicher Rentner sein."

Frage: "Ihr wisst noch nicht, wie die Pirelli-Reifen nächstes Jahr sein werden. Macht das nicht das Design des neuen Autos sehr schwierig?"
Gascoyne: "Eigentlich nicht. Ich werde das oft gefragt, aber vor einem Jahr hatten wir um diese Zeit noch nicht einmal einen Startplatz. Du bekommst aber keinerlei Informationen, solange du keinen Startplatz hast. Vor einem Jahr hatten also die anderen elf Teams alle Informationen über die Reifen vorliegen, nur wir nicht. Jetzt habe ich sie nicht, aber die anderen auch nicht. So gesehen ist die Situation für uns sogar besser."

Keine Zweifel an Pirellis Kompetenz

Frage: "Und was hältst du generell von Pirelli?"
Gascoyne: "Pirelli ist ein großes Unternehmen. Sie sind seit vielen Jahren im Motorsport aktiv - okay, zuletzt nicht in der Formel 1, aber ein globales Unternehmen wie Pirelli weiß schon, was es zu tun hat. Ich bin sehr zuversichtlich, dass sie das hinbekommen und ein großartiges Produkt liefern werden."

Frage: "Stimmt es, dass ihr die Entwicklung des T127 schon eingestellt habt?"
Gascoyne: "Die Windkanalarbeit steht in der Tat seit knapp drei Monaten still, weil wir uns auf das nächstjährige Auto konzentrieren. Das Verbot des Doppeldiffusors bewirkt große Änderungen. Trotzdem hat das neue Auto interessanterweise schon jetzt mehr Anpressdruck als das alte, selbst ohne Doppeldiffusor. Der hat ungefähr zehn Prozent des gesamten Anpressdrucks ausgemacht, vielleicht sogar mehr. Wir sind daher sehr zuversichtlich für nächstes Jahr."

"Ich möchte aber betonen: Wir hatten es sehr schwer, weil wir als letztes neues Team den Startplatz bekommen haben, aber ein neues Team bist du nur ein Jahr lang. Nächstes Jahr sind wir kein neues Team mehr, sondern ein Formel-1-Rennstall wie jeder andere auch. Dem müssen wir gerecht werden. Ich bin aber sehr zuversichtlich, dass uns dieser Schritt gelingen wird."

"Nächstes Jahr sind wir kein neues Team mehr." Mike Gascoyne

Frage: "Lotus stand früher immer für revolutionäre Ideen. Können wir 2011 einige innovative Neuerungen von euch erwarten?"
Gascoyne: "In der Formel 1 ist es heutzutage schwierig, mit solchen Dingen daherzukommen. Wir sind auch ein neues Team, insofern konzentrieren wir uns lieber darauf, die Ressourcen in jenen Bereichen zu maximieren, die am meisten Performance bringen. Die Tage des doppelten Unterbodens sind vorbei - das war die Ära, als noch ein Designer das ganze Auto entwickelt hat. Heute gibt es Designteams mit hunderten Mitarbeitern. Aber wer weiß, vielleicht fällt uns ja was ein?"

Frage: "Wenn wir schon beim Thema sind: Der F-Schacht ist doch eine sehr innovative Idee, die auf dem Mist eines einzelnen McLaren-Mitarbeiters gewachsen ist..."
Gascoyne: "Ja. Es gibt immer noch solche Einfälle. Wir haben versucht, diesbezüglich aufzuholen, aber derjenige, der gewinnt, ist niemals der, der seine Gegner kopieren muss. Der Sieger hat immer seine eigenen Ideen. Ich hoffe, dass wir in den nächsten Jahren eine solche Führungsrolle einnehmen können."

Frage: "Du hast immer gesagt, dass du für das erste Jahr ein sehr konservatives und zuverlässiges Auto bauen möchtest. Ist die Herangehensweise für nächstes Jahr anders?"
Gascoyne: "Ja. Nächstes Jahr werden wir viel mehr an die Grenzen gehen. Du musst wissen: Im Vorjahr hatten wir um diese Zeit keinerlei Informationen, was die Kühlung, die Bremsen, die hohe Benzinlast, die Reifen angeht. Da war es sehr schwierig, alle Basisparameter des Autos richtig hinzubekommen. Ich finde, dass wir keinen schlechten Job gemacht haben."

Alle wichtigen Ziele erreicht

"Abgesehen von der Zuverlässigkeit des Hydrauliksystems, das nicht in unserer Hand liegt, haben wir alle Ziele erreicht. Wir haben uns vorgenommen, das beste der neuen Teams und zuverlässig zu sein. Beim ersten Rennen waren wir das einzige neue Team, das beide Autos ins Ziel gebracht hat - wir haben die Autos ja nur in der letzten Runde angehalten, um das Getriebe checken zu können. Wir waren seither auch immer schneller als die anderen neuen Teams und sind näher ans etablierte Feld herangerückt."

"Allerdings muss ich zugeben, dass es schön gewesen wäre, etwas näher an den etablierten Teams dran zu sein. Ich hätte nie angenommen, schneller als ein etabliertes Team zu sein, aber eine halbe Sekunde Abstand wäre mir lieber gewesen. Jetzt fehlt uns immer noch eine Sekunde. Ich hätte auch gerne mehr Rennen beendet, aber da spielte uns die Hydraulik oft einen Streich. Das sind unsere zwei Schwächen, aber ansonsten haben wir immer einen sehr professionellen Eindruck hinterlassen und an allen Fronten gute Arbeit geleistet. Aber klar ist auch, dass wir im zweiten Jahr von Anfang an gegen Toro Rosso, Force India und Sauber kämpfen müssen. Das ist der nächste Schritt."

Frage: "Gibt es das Designbüro in Köln eigentlich noch?"
Gascoyne: "Nein, das wurde geschlossen, aber das war von Anfang an nur eine Interimslösung. Das Problem ist: Wenn du neue Leute einstellst, gibt es meist Fristen von drei, sechs oder zwölf Monaten. Wenn du aber im September von der FIA angenommen wirst und sechs Monate warten musst, dann solltest du eigentlich schon in Bahrain sein, aber du hast noch nicht einmal Mitarbeiter! Also haben wir das Design des ersten Autos an ein externes Büro abgegeben, aber der Plan war von Anfang an, später unser eigenes Designbüro in Norfolk aufzubauen."

Christian Nimmervoll und Mike Gascoyne

'Motorsport-Total.com'-Chefredakteur Christian Nimmervoll und Mike Gascoyne Zoom

Frage: "Wie viele Angestellte habt ihr in Norfolk?"
Gascoyne: "160, 170 Leute. Wir wollten eigentlich auf 180 kommen, aber wir haben auch noch 45 bis 50 Mitarbeiter im Windkanal in Italien. Langsam erreichen wir den Personalstand, den wir geplant hatten. Das dauert noch ein bisschen, denn viele Mitarbeiter kommen erst noch zu uns. Die stehen schon unter Vertrag, müssen aber zum Beispiel Fristen ihrer vorherigen Verträge einhalten. Aber langsam kommen wir hin. Vor einem Jahr waren wir noch zu dritt! So gesehen dürfen wir für nächstes Jahr zuversichtlich sein."

Frage: "Heikki Kovalainen hat mal erzählt, dass an seinem ersten Tag bei Lotus nur Tony Fernandes, du und deine Freundin da waren..."
Gascoyne: "Am ersten Tag waren wir zu viert: Der Generaldirektor, der Produktionsleiter, ich und meine Freundin Silvi, die jetzt Marketingleiterin ist. Silvi war Personalchefin, Marketing und PR in Personalunion. Wir drei setzten uns zusammen und vereinbarten: 'Ich designe das Auto, der Produktionsleiter produziert es und der Generaldirektor macht alles andere. Mehr haben wir nicht, also finden wir uns damit zurecht.' Die Geschichte ist wirklich wahr. Das war am 14. September 2009."

Lieber guter Chef als guter Individualist

Frage: "Du wirst oft als Technischer Manager und weniger als Technischer Direktor, der selbst Hand anlegt, bezeichnet. Stört dich das?"
Gascoyne: "Nein. Ich habe schon sehr früh gelernt, dass es nicht darauf ankommt, was du als einzelner Designer leisten kannst, sondern darauf, was deine 50 bis 70 Mitarbeiter leisten können. Denn wenn diese 50 bis 70 Designer nicht hundertprozentig arbeiten, dann werde ich diesen Unterschied niemals alleine kompensieren können. Daher sehe ich es als meine Aufgabe, sicherzustellen, dass die Mitarbeiter effizient zu Werke gehen."

"Ich könnte dir schon zu jedem Bereich des Autos sagen, wie ich es machen würde, am Auto befindet sich aber keine meiner Lösungen, weil in jedem Bereich einer meiner Designer eine bessere Idee hatte als ich. Heißt das, dass ich das Auto nicht designt habe? Das sehe ich anders. Ich gebe den Designern die Werkzeuge, die sie benötigen, ich gebe die Ziele vor, passe diese an, wenn notwendig. Aber eine Einzelperson kann nicht die Arbeit so vieler Mitarbeiter übernehmen. Die Tage, an denen ein Chefdesigner am Zeichenbrett das neue Auto entwickelt hat, sind vorbei."

"Bei Lotus leite ich die Fabrik, aber ich verbringe jeden Tag ein paar Stunden mit den Aerodynamikern und sitze in allen Meetings. Ich spreche jeden Tag mit dem Chefaerodynamiker ab, was sie gerade im Windkanal testen. Ich würde also nicht sagen, dass ich nicht selbst Hand anlege, aber jeder moderne Manager auf diesem Niveau muss managen und sicherstellen, dass alle anderen effizient arbeiten. Das ist viel wichtiger als die eigene Designkapazität."

Lotus-Boxenstopp

Auch dank Mike Gascoyne ist Lotus zu einem echten Rennteam gereift Zoom

Frage: "Würdest du dich als Inspiration deiner Mitarbeiter bezeichnen?"
Gascoyne: "Ich hoffe, dass ich das bin. Bei uns weiß jeder - von der Putzfrau bis hinauf zum Chefingenieur -, dass ich die Standards vorgebe. Ich bin der netteste Kerl der Welt, solange die Mitarbeiter das erledigen, was ich ihnen auftrage. Wenn ich freitags ins Hotel fahre und nicht mehr angerufen werde, dann erwarte ich, dass ich am Samstag um 10:58 Uhr an die Strecke kommen kann und beide Fahrer in fahrbereiten Autos sitzen."

"Wenn dem so ist, fein. Aber wenn nicht, dann kann ich ziemlich unbequem werden. Es kommt gar nicht darauf an, ob ich da bin oder nicht, denn die Jungs wissen auch in meiner Abwesenheit, was sie zu tun haben. Wenn sie es nicht tun, können sie mich anrufen und wir finden gemeinsam einen Weg oder eine Lösung für das Problem. Aber gar nichts zu unternehmen, das ist keine Option."

Frage: "Kommen wir zu den Fahrern. Jarno Trulli kennst du schon sehr lange, von Jordan, Renault und Toyota. Wie bewertest du seine Leistungen in dieser Saison?"
Gascoyne: "Jarno hatte anfangs Probleme mit dem Auto und mit den Reifen. Wir haben ihm kein zuverlässiges Auto gegeben."

Trulli: Ein klassischer "Wohlfühl"-Fahrer

"Das Tolle an Jarno ist, dass er schneller als jeder andere fahren kann, mit dem ich je gearbeitet habe, wenn er sich in einem Auto wohlfühlt. Also müssen wir ihm dieses Gefühl geben, was uns bisher nicht oft genug gelungen ist. Der zweite Run in Hockenheim war ein gutes Beispiel dafür. Jarno wusste aber bereits vor dieser Saison, dass es nicht einfach wird."

"Heikki hat auch großartige Arbeit geleistet, denn es ist für Grand-Prix-Sieger nicht einfach, in ein Nachzüglerteam zu wechseln. Sie sehen das aber als langfristiges Projekt. Die Tatsache, dass sie ihr Vertrauen in mich und das Team setzen, spricht Bände für das Team. Wir sind mit unseren Fahrern sehr zufrieden. Wenn sie nicht vom Auto im Stich gelassen werden, machen sie keine Fehler und bauen keine Unfälle. Außerdem sind wir immer vor den anderen neuen Teams. Dazu tragen auch unsere erfahrenen Fahrer bei."

Frage: "Du sagst, dass ihr das Auto näher zu Jarno bringen wollt. Das finde ich interessant, denn bei Toyota war es früher so, dass Jarno am Saisonbeginn meist schneller war als Ralf Schumacher, aber dann wurde das Auto umgebaut und plötzlich war es genau andersrum..."
Gascoyne: "Ich meine ja nicht unbedingt technische Änderungen, sondern dass er sich wohlfühlt. Er muss dem Auto vertrauen können, um das Maximum herauszuholen."

"Wir bedienen beide Fahrer genau gleich. Wenn einer etwas anderes will als der andere, machen wir beides - da gibt es keine Priorität. Rennfahrer bilden sich aber auch manchmal irgendwelche Dinge ein, dass zum Beispiel dies und jenes getan wurde, um dem anderen Fahrer zu helfen. In Wahrheit tut man alles nur, um das Auto schneller zu machen - erst im zweiten Schritt stimmt man es auf die Bedürfnisse der Fahrer ab. Ich bin mir übrigens sicher, das ist bei Rosberg und Schumacher oder bei McLaren genauso."


Fotos: Lotus, Großer Preis von Ungarn


Frage: "Glaubst du, dass Jarno noch auf dem Höhepunkt seiner Motivation ist?"
Gascoyne: "Ja. Er ist ein professioneller Rennfahrer, der weiß, dass er pushen muss. Ich finde nicht, dass er anders ist als bei den anderen Teams. Und wenn ich das so sehen würde, würde ich es ihm sagen."

Frage: "Heikki hatte bei McLaren an der Seite von Lewis Hamilton eine sehr schwierige Zeit. Zählst du ihn zu den meistunterschätzten Fahrern der Formel 1?"
Gascoyne: "Heikki hat eine Menge Talent. Erst Fisichella im ersten Jahr bei Renault, dann Hamilton - er hatte nicht die leichtesten Teamkollegen. Bei uns ist er viel entspannter, er fühlt sich wohl und weiß, dass er unterstützt wird. In diesem Umfeld blüht er richtig auf. Wir sind mit Heikki sehr zufrieden und er hat dieses Jahr bewiesen, wozu er in der Lage ist."