• 25.08.2008 00:34

  • von Michael Noir Trawniczek

Video-Feature: Reporter im Rallye-Cockpit

Die Zeitschrift 'Rally & more' wagte ein Experiment: Ein Motorsportreporter bestreitet seine erste Rallye an der Seite einer erfahrenen Co-Pilotin

(Motorsport-Total.com) - Als Motorsportjournalist darfst du ins Fahrerlager, sprichst mit den Protagonisten, atmest die Atmosphäre im Servicepark und auf den Sonderprüfungen, im Presseraum hast du ein meist perfektes Zeitenservice und natürlich gibt es die Onboardkameras in den Boliden - doch letztlich berichtest du nur "von außen". Freilich: Computerspiele ermöglichen das nahezu perfekte Erlebnis einer Rallye-Teilnahme - doch wie stellt sich das in der Realität dar? Das österreichische Motorsportmagazin 'Rally & more' wollte es wissen. Ich wurde quasi "an die Front" geschickt, ins Cockpit des firmeneigenen Suzuki Swift Sport.

Titel-Bild zur News: Michael Noir Trawniczek

Michael Noir Trawniczek am Steuer des Suzuki Swift Sport bei der Weiz-Rallye

Mit diesen von Zellhofer Motorsport aufgebauten Cup-Autos (Vierzylindermotor, 155 PS) wird in Österreich der Suzuki-Motorsport-Cup ausgetragen - dazu gehört auch die Weiz-Rallye, die zu 95 Prozent auf Asphalt stattfindet, der Rest besteht aus Schotterstraßen. Meine aktiven Motorsporterfahrungen beschränken sich auf vier Jahre im Kartsport, allerdings liegt das mehr als 20 Jahre zurück. Es stellt sich bald heraus, dass ich davon so gut wie nicht profitiere, weil Rundstrecke und Rallye sich in etwa verhalten wie ein Popsong zu einer Jazzsession - es ist also der viel zitierte "Sprung ins kalte Wasser".#w1#

Bianca auf dem heißen Sitz

Du hast also einen Rallyeboliden, der noch dazu von Profis wie dem Heuer-Racing-Team betreut wird. Doch das genügt natürlich nicht. Du brauchst einen Co-Piloten - der größte Fehler wäre es, einen Rookie auf den Sozius zu setzen. Jenes mutige Wesen, das sich auf den heißen Sitz eines unerfahrenen Schreiberlings begeben hat, heißt Bianca Porzelt, weist als Co-Pilotin ihres Bruders Manuel bereits Rallye-Erfahrungen auf und sitzt bei den Rundstreckenrennen selbst am Steuer des kleinen Swift. Im Nachhinein verstehe ich gut, warum es heißt: "Das Gehirn sitzt im Rallyeauto auf dem Beifahrersitz." Der Co-Pilot oder besser die Co-Pilotin liest nicht nur aus dem "Gebetsbuch" - es geht um die Organisation, den Ablauf, um Zeitkarten, Stempel, Verbindungsetappen und um Zuspruch für den Piloten...

Der "Schrieb" ist die Lebensversicherung der Rallyepiloten. Er wird bei der Besichtigung der Sonderprüfungen erstellt. Es geht, vereinfacht gesagt, um Kurvenradien, Entfernungen und Besonderheiten auf und neben der Strecke. Bei der ersten Durchfahrt diktiert der Pilot - und das ist alles andere als einfach. Meine Distanzeinschätzungen sind ein Witz, sie stimmen garantiert nicht. Ich sage einmal 70, dann wieder 150 Meter - und in Wahrheit waren es vielleicht 100 und 300. Bianca sagt: "Wichtig ist, dass du ein eigenes System entwickelst, das in sich verlässlich ist. Es sind deine Entfernungen - die werden bei einem Neuling nicht stimmen, aber der Unterschied zwischen den Distanzen sollte passen." Im Endeffekt sagt mir mein Schrieb nur, ob die nächste Kurve bald oder sehr bald kommt.

Cutten ist Pflicht

Bei einer Asphaltrallye werden die Kurven geschnitten, dabei wird viel Dreck auf die Fahrbahn geschleudert. "Da bist du gezwungen zu cutten, dich quasi einzuhaken, denn sonst schlitterst du auf den herausgecutteten Steinen wie auf Murmeln von der Strecke", warnt mich Bianca. Daher ist es auch ganz besonders wichtig, rechtzeitig zu bremsen. Andreas Aigner, derzeit WM-Leader in der PWRC, hat mir verraten: "Bei meiner ersten Rallye habe ich die Ansage zum Teil nur wie ein Gebrabbel am Rande wahrgenommen, da ich mit dem Fahren massiv beschäftigt war." Ob Andi Aigner, Manfred Stohl oder Heckschleudernliebhaber Niki Glisic - sie alle haben uns geraten, den Schrieb möglichst simpel zu gestalten, ihn auf das Wesentliche zu reduzieren. Bianca betont die "Achtung!-Achtung!"-Befehle vor den wichtigen Bremszonen perfekt, sodass ich sie eigentlich nicht überhören kann.

Bianca Porzelt und Michael Noir Trawniczek

Bianca Porzelt und Redakteur Michael Noir Trawniczek im Servicepark Zoom

Wenn der Schrieb erstellt ist, wird ein Kontrolllauf absolviert - die Besichtigung erfolgt ja im PKW. Einmal überhöre ich ein "Achtung! Achtung!" - gar nicht gut! Ich quietsche mich ein, verpasse die scharfe Rechtsabzweigung - auch wenn bei dem Kontrolllauf die Straßenverkehrsordnung gilt, habe ich gesehen, was passiert, wenn man die Ansage aus den Ohren verliert.

So ein Besichtigungstag verläuft wie im Nu. Du hetzt von einer SP zur nächsten, Pausen gibt es de facto nicht. Danach in den Servicepark, das Team bereitet den Wagen vor. Sitzjustierung, Prüfen der Sprechanlage, Beklebung des Autos. Dann zur technischen Abnahme. Noch nie zuvor bin ich mit dem Swift im Renntempo gefahren - ich habe zum Beispiel keine Ahnung, wie lange der Bremsweg ist. Das "Renntempo" ist für mich abstrakt...

Zudem sprechen die erfahrenen Piloten von einer "schnellen Rallye" - sie sind überzeugt davon, dass es am Samstag "viele Abflüge" geben wird. Die beim Abendessen vernommenen Unfallstorys aus 20 Jahren Rallyegeschichte geistern nicht lange in meinem Kopf - ich schlafe bald ein, wache jedoch vor dem Wecker wieder auf.

Die 100-jährige Eiche

Der Tag der Rallye, es wird ernst: Mit Startnummer 102 verlassen wir zirka 90 Minuten nach dem ersten Piloten den Servicepark. "Kommt mir heil wieder zurück", sagt Teamchef Thomas Heuer. Verbindungsetappe zur ersten SP. Noch ohne Helm. Dann die Hiobsbotschaft: Zwei schwere Unfälle auf SP1, inklusive Rettungseinsatz. Die Prüfung wird neutralisiert, das heißt: Straßenverkehrstempo. Wir rollen an einem auf dem Dach liegenden Auto vorbei, die Feuerwehr ist da. So kann ich mich zwar noch einmal an das Auto gewöhnen, dennoch wird einem noch einmal klar, dass es kein Computerspiel ist. Dass, wie der österreichische Rallyepilot Markus Benes zu sagen pflegt, die "100-jährige Eiche" am Straßenrand lauert.

Zu spät gebremst

SP2 wird unsere erste echte Prüfung. Hektisches Helmaufsetzen, angurten. Start per Handzeichen. Und los geht's. Eine Befreiung. Ich kann Biancas "Achtung"-Befehle wahrnehmen - wir wollten es zunächst bewusst gemütlich angehen, uns von SP zu SP langsam steigern.

Doch in einer Kurve bremse ich zu spät, der Wagen beginnt auf dem Dreck zu schlittern. Noch dazu rutschen wir auf einen Abhang zu, dort geht es steil bergab. Ich korrigiere, bremse bewusst nicht, um nicht mit blockierenden Rädern unkontrolliert in Richtung Abhang zu schlittern. Gerade als Bianca sagt, ich soll auf die innen liegende Wiese hinsteuern, erlange ich die Kontrolle über den Wagen zurück. "Das war eine Mischung aus Glück und Können", sagt Bianca später zu meinem Abfangmanöver. Mein Albtraum wäre beinahe wahr geworden: Gleich am Beginn der Rallye abzufliegen - und dann hast du nichts mehr zu schreiben! Die Warnung zeigt Wirkung - ich versuche wieder runder zu fahren. Früher bremsen, so kann ich auch früher wieder aufs Gas steigen. Eine saubere Linie ist angesagt.

Im Ziel

Michael Noir Trawniczek

Der Suzuki Swift sieht harmlos aus, hat es aber durchaus in sich... Zoom

Die Mittagspause ist kurz. Man stärkt sich, man ist aufgewühlt. Am Nachmittag steht bei der eintägigen Veranstaltung auch eine abenteuerliche Bergprüfung auf dem Programm - ein zirka acht Kilometer langer Rundkurs, drei Runden - sind in Summe 24 Kilometer im Renntempo, das geht rein! Zumal die Berg- und Tal-Prüfung zweimal absolviert wird. Zunächst will ich erneut zu viel, fahre zu grob. "Da fährst du unweigerlich zu schnell in die Kurven rein und bremst in der Kurve, was gefährlich ist", sagt Bianca. Beim finalen Durchlauf der Berg-SP möchte ich nichts mehr riskieren. Stattdessen konzentriere ich mich wieder auf die runde Fahrweise. Die Zeitentabelle bestätigt: Die rundere Fahrweise ist eindeutig schneller, wir haben uns gegenüber der ersten Fahrt gesteigert. Und jetzt macht es auch mehr Spaß, da ich jetzt das Gefühl der Kontrolle über den Wagen verspüre. Er fährt nicht mehr mit mir, sondern ich mit ihm. Im Cockpit ist es heiß. Manfred Stohl erzählte mir, er würde drei Kilogramm bei einer Rallye verlieren. Schwitzend fahren wir ins Ziel der letzten Prüfung - geschafft!

Erst jetzt schauen wir bewusst auf die Ergebnisse: Am Ende belegen wir Rang 69 von 99, bei 72 Autos im Ziel. Wichtig war, dass wir ins Ziel gekommen sind. Ich habe den Rallyesport einmal aus der Cockpitperspektive erleben können und dabei viele Dinge erfahren und erlebt, die "von außen" unmöglich gewesen wären. Zudem stieg meine ohnehin bereits vorhandene Hochachtung vor diesem "Motorsport ohne Auffangnetz". Beim Schneiden des Videos, beim Studieren der Onboardaufnahmen entdecke ich Schalt- und Fahrfehler, erlebe zugleich diese unbändige Freude wieder, die einen übermannt, wenn man im Renntempo durch die Wälder bolzt. Was bleibt, ist die Lust auf mehr...

Eine Kurzversion der Videodokumentation finden Sie hier: zum Video!

Die ausführliche Dokumentation finden Sie bei den Kollegen von rally-more.at.

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