Reifendruck-Regel: Nachteil für Ducati und langweiligeres Racing?

Ab Silverstone wird der Mindestreifendruck in der MotoGP zentral überwacht, doch Fahrer schlagen Alarm: Das Limit sei zu hoch angesetzt, das Racing gefährdet

(Motorsport-Total.com) - Das neue Kontrollsystem für den Reifendruck in der MotoGP feiert an diesem Wochenende beim Grand Prix von Großbritannien in Silverstone seine Premiere. Es wird sowohl im Sprint am Samstag als auch im Sonntagsrennen zum Einsatz kommen, wie die FIM-Stewards vorab bestätigten.

Titel-Bild zur News: MotoGP-Feld auf dem Sachsenring

Werden die MotoGP-Rennen aufgrund der Reifenregel weniger spannend? Zoom

Weil das System mitten in der Saison eingeführt wird und noch neu ist, werden technische Verstöße nicht sofort mit einer Disqualifikation bestraft. Stattdessen greift bis auf Weiteres ein abgestufter Strafrahmen, der wie folgt aussieht:

- 1. Vergehen: Verwarnung
- 2. Vergehen: 3-Sekunden-Zeitstrafe
- 3. Vergehen: 6-Sekunden-Zeitstrafe
- 4. Vergehen: 12-Sekunden-Zeitstrafe

Das neue System soll sicherstellen, dass alle MotoGP-Motorräder die von Michelin festgelegten Werte für den Mindestreifendruck auch tatsächlich einhalten.

Der Reifendruck ist ein sehr empfindlicher Parameter und die Messwerte schwanken während eines Rennens und sogar an verschiedenen Stellen der Rennstrecke stark. Die Sensoren müssen in dieser ersten Phase des Systems vor und nach dem Rennen überprüft werden, um sicherzustellen, dass sie richtig eingestellt sind.

Zuvor hatten die Teams ihre eigenen Sensoren von verschiedenen Anbietern, um den Reifendruck zu überprüfen. Jetzt gibt es ein einheitliches System für das gesamte Starterfeld. Es sieht vor, dass die Reifen während eines Mindestprozentsatzes der Runden in einem Sprint oder Rennen einen bestimmten Druck aufweisen müssen.

Der Mindestdruck variiert von Vorder- zu Hinterreifen und kann sich von einigen Strecken zu anderen ändern. Festgelegt wird er von Reifenausrüster Michelin.

In Silverstone erstmal nur Stichproben

Für Silverstone erklärt Piero Taramasso: "Der auf 1,88 Bar festgelegte Zielwert für den Vorderreifen und der auf 1,68 Bar festgelegte Zielwert für den Hinterreifen müssen während 30 Prozent des Sprints und 50 Prozent des Grands Prix eingehalten werden."

"Nach dem Sprint und nach dem Rennen am Sonntag werden einige Motorräder stichprobenartig überprüft, um zu sehen, ob sie den Mindestreifendruck einhalten."

Taramasso fügt hinzu, dass der technische Direktor der MotoGP entscheiden wird, welche Fahrer für die Kontrollen ausgewählt werden, während später in dieser Saison ein automatisches System zur Reifenüberwachung implementiert wird.

Das Problem: Im Laufe der bisherigen Saison klagten viele Fahrer immer wieder darüber, dass die Reifen vor allem im Verkehr überhitzen. Dadurch sinkt das Gripniveau - das Überholen wird schwieriger und auch die Sturzgefahr steigt. Deshalb starteten einige Teams mit etwas geringeren Reifendrücken ins Rennen.

Schon im Vorjahr stand vor allem Ducati im Verdacht, den vorgegebenen minimalen Luftdruck im Vorderreifen zu unterschreiten. Deshalb, so die Vermutung jetzt, könnte die neue Regelung den amtierenden Weltmeister besonders hart treffen.

Ex-Ducati-Pilot Jack Miller, der mittlerweile für KTM fährt, sagt: "Von der Ducati weiß ich definitiv, dass es kritischer war. Auf der KTM merke ich es nicht so sehr."

"Ich hatte natürlich Bedenken, als ich von den Regeln und Strafen und so weiter hörte, aber sie haben mich nur beruhigt. Sie sagten: 'Macht euch keine Sorgen, wir sind absolut sicher.' Also drücken wir die Daumen, dass sie Recht haben und wir ohne Probleme und ohne Drama innerhalb dieses Fensters arbeiten können."

Entsteht ein Wettbewerbsnachteil für Ducati?

Angesprochen auf die Möglichkeit, dass die Regelung für Ducati nachteilig sein könnte, sagt der amtierende Weltmeister Francesco Bagnaia: "Es gibt immer Dinge, die sich zu deinen Gunsten oder zu deinen Ungunsten auswirken können. Aber wir werden verstehen lernen, wie wir am besten damit umgehen."

Er glaubt, dass die Regel die Art und Weise, wie die Fahrer die Rennen angehen, verändern wird. "Das Limit ist ziemlich hoch angesetzt, und wenn man über dem Limit ist, ist es einfacher zu stürzen. Und wenn der Druck zu niedrig ist, wird man bestraft."

Francesco Bagnaia

Francesco Bagnaia grübelt: Ist Ducati jetzt womöglich im Nachteil? Zoom

"Es ist also schwierig, auch weil man das weder in der Garage noch auf dem Motorrad kontrollieren kann. Wenn man von vorne startet und komfortabel führt, ist der Druck niedrig. Wenn man von hinten startet, steigt der Druck an und man kann nicht überholen."

Dabei stört Bagnaia vor allem eine Sache. Das neue System wurde eingeführt, um das Risiko von Reifenschäden zu vermeiden, die durch dauerhaftes Unterschreiten des vorgeschriebenen Mindestdrucks verursacht werden. Doch der Italiener sagt: "Es wird als Sicherheitsmaßnahme erklärt, aber es ist nicht sicher."

"Wir hatten nie Probleme mit (niedrigem) Reifendruck. Für den Hinterreifen ja, aber für den Vorderreifen? 1,9 ist der bestmögliche Druck. Ist er niedriger, wird das Motorrad instabil, ist er höher, wird das Motorrad instabil. Aus meiner Sicht ist es also nicht sicherer. Aber sie haben sich entschieden", so Bagnaia weiter.

Zu hoher Mindestdruck birgt mehr Gefahr

Ähnlich äußert sich sein Markenkollege Johann Zarco aus dem Pramac-Team. "Sie sagen, es sei für die Sicherheit. Aber ist es fast das Gegenteil der Fall", mahnt der Franzose.

"Wenn der Reifen zu heiß wird und der Druck zu hoch, stürzen wir. Deshalb bin ich dieses Jahr in Jerez gecrasht. Vielleicht gibt es einige Motorräder, die mit höherem Druck arbeiten, also ist es eventuell weniger ein Vorteil für Ducati. Ich weiß es nicht."

Es könnte also "vielleicht" ein Wettbewerbsnachteil sein, mutmaßt Zarco. "Aber ich fahre jetzt seit vier Jahren Ducati, also weiß ich nicht, wie die anderen Motorräder darauf reagieren." Er selbst sei während der Saison größtenteils im legalen Bereich gefahren, lag aber manchmal "aus irgendeinem Grund ein bisschen darunter".

Sowohl für die Fahrer als auch für die Show sieht er in dem System ein Problem: "Wir werden im Rennen jetzt noch eine weitere Sache zu managen haben. Das führt dazu, dass man sich nicht voll und ganz auf das konzentrieren, was man zu tun hat."

"Es wird seltsam sein und ich fürchte, dass das Rennen dadurch an Wert verliert, weil es eher ein Rennen wird, das man managen muss, als ein Rennen, bei dem man alles geben muss, um zu sehen, wer der Beste ist. Wir werden zu Robotern werden müssen, um Rennen zu fahren, wie es in der Formel 1 bereits der Fall ist."


Fotostrecke: MotoGP 2023: So würde es in der WM ohne Sprintrennen stehen

Auch Aprilia-Pilot Aleix Espargaro kritisiert das neue System genau dafür. "Es ist eine sehr gute Idee, um die Rennen langweiliger zu machen", sagt er zynisch.

"Wir werden Motorräder sehen, zwischen denen eine Sekunde liegt - zu 100 Prozent. Ich habe es bereits nach Assen deutlich gemacht. Dort war ich schneller als Brad (Binder), aber ich konnte nicht näher an ihn herankommen, um ihn zu überholen, weil er super spät bremst und weil mein Reifendruck viel zu hoch war."

"Also verbrachte ich das ganze Rennen mit einer Sekunde Abstand hinter ihm, bis zur letzten Runde, als ich näher herankam, um zu versuchen, ihn zu überholen. Und das ist es, was ihr sehen werdet", warnt Espargaro vor den Auswirkungen der Regel.

Neue Regel "nicht gut für die Meisterschaft"

"Das ist ganz generell einfach nicht gut. Ich spreche nicht von Aprilia, Ducati oder Yamaha. Es ist nicht gut für die Meisterschaft. Ich verstehe, dass Michelin auf Sicherheit bedacht ist. Perfekt, wir auch. Aber das Limit, das sie gesetzt haben, ist zu hoch."

"In der ersten Runde, die ich in Deutschland gefahren bin, hatte ich vorne 1,55 bar. Jetzt liegt das Limit bei 1,87 bar. Damit ist der Spielraum zu klein. 1,78 oder 1,8 wären okay. Ich würde noch weniger sagen, aber ich verstehe auch, was Michelin will. Doch 1,87 bar ist verrückt. Ab 1,9 funktioniert das Bike nicht mehr."

Mit diesen Bedenken sei Espargaro an Michelin herangetreten. "Ich sagte, was passiert, wenn ich in Barcelona in Kurve 1 mit 2,2 bar ankomme? Wie stoppe ich das Motorrad? Wie vermeide ich es, mit jemanden zu kollidieren? Wir brauchen mehr Spielraum."

Darauf hofft auch Bagnaia. "Wenn der Druck das Limit übersteigt, ist das kein Problem, wenn es nur ein bisschen ist", erklärt der Ducati-Fahrer. "Aber wenn man 2,0 überschreitet, und es ist sehr einfach, 2,0 zu überschreiten, wird es sehr schwierig, das Motorrad zu stoppen, und sehr schwierig, die Linien zu halten."

"Das konnte man in meinem Rennen in Jerez deutlich sehen, wo ich dicht an den vorderen Fahrern dran war und sie nur ein oder zwei Runden lang ziehen ließ, um den Druck im Vorderreifen abzubauen, und dann wieder zu überholen versuchte. Dabei war ich immer mehr oder weniger am oberen Limit des Reifendrucks."

"Es wird also nicht einfacher für uns, aber in der Sicherheitskommission haben wir unseren Standpunkt dargelegt, und die Entscheidung fiel dennoch auf die Einführung dieser Reifendruckregel. Wir müssen uns also anpassen", sagt Bagnaia.