Cockpit der Zukunft: Geschlossen, halboffen oder offen?
Simulationen und Tests mit komplett oder teilweise geschlossenen Cockpits für Formelautos hat es gegeben und stehen an, doch Restrisiken bleiben immer
(Motorsport-Total.com) - Die Ereignisse in der 180. Runde des IndyCar-Rennens in Pocono am vergangenen Sonntag lassen die Diskussionen um einen besseren Schutz der Piloten bei Rennen mit Formelautos - und somit Stand heute offenen Cockpits - neu aufflammen. Der tödliche Unfall von Justin Wilson war beileibe nicht der erste, bei dem der Helm und damit der Kopf des Fahrers einem enormen Schlag ausgesetzt wurde.
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Welche Lehren werden aus dem tödlichen Unfall von Justin Wilson gezogen? Zoom
Der am 19. Juli 2009 ebenfalls tödlich ausgegangene Unfall von Henry Surtees beim Formel-2-Rennen in Brands Hatch und der nur eine Woche später letztlich glimpflich ausgegangene Crash von Formel-1-Pilot Felipe Massa im Qualifying zum Grand Prix von Ungarn auf dem Hungaroring waren mahnende Beispiele. Gleiches gilt für den Startunfall beim Grand Prix von Belgien 2012 in Spa-Francorchamps, bei dem Fernando Alonso nur mit viel Glück einer Katastrophe entging. Ein weiteres Beispiel: Cristiano da Mattas Kollision mit einem Hirsch bei ChampCar-Testfahrten am 3. August 2006 in Elkhart Lake. Der Brasilianer überlebte den Einschlag des Tiers im Cockpit mit viel Glück.
Der fatale IndyCar-Unfall von Dan Wheldon am 16. Oktober 2011 in Las Vegas, wenngleich er vom Ablauf her völlig anders war, wäre möglicherweise glimpflich(er) ausgegangen, wenn der Kopf des Fahrers nicht nur durch den Helm, sondern durch ein geschlossenes Cockpit geschützt gewesen wäre. Wheldon zog sich die tödlichen Verletzungen zu, als er mit dem Helm gegen einen Metallpfosten des Fangzauns prallte. Unmittelbar zuvor war der Bolide des zweimaligen Indy-500-Siegers im Zuge eines Massenunfalls aufgestiegen und wurde in den Fangzaun geschleudert.
Mario Andretti: Hundertprozentige Sicherheit eine Utopie
Justin Wilson ist nun ein weiteres Todesopfer, das der internationale Formelsport zu beklagen hat, weil die Monocoques zwar Gliedmaßen und Rumpf der Piloten umschließen, aber eben nicht den Kopf. "Wir haben offene Cockpits und sind somit jedes Mal, wenn wir ins Auto steigen, der Gefahr ausgesetzt, dass so etwas passiert, wie es Justin passiert ist", wird Tony Kanaan von 'Associated Press' zitiert. Der IndyCar-Pilot in Diensten von Chip Ganassi Racing tätigte diese Aussage am Montag, bevor die Nachricht von Wilsons Tod nicht nur die IndyCar-Gemeinde erschütterte.
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Mario Andretti: Motorsport ohne Gefahr heißt Motorsport ohne Zuschauer Zoom
Mario Andretti, der sowohl während seiner aktiven Karriere als auch im Anschluss an diese zahlreiche Freunde und Kollegen auf der Rennstrecke verloren hat, merkt an: "Der Motorsport wird niemals zu 100 Prozent sicher sein. Wenn es so wäre, blieben die Tribünen leer. Wir sind in Bezug auf die Sicherheit sehr, sehr weit vorangekommen." So ist die 75-jährige US-Rennlegende angesichts des Wilson-Unfalls gegenüber 'Associated Press' "überzeugt, dass man sich auch mit diesem Thema in angemessener Form beschäftigen wird".
Genauso sieht es auch Jonathan Palmer, Ex-Formel-1-Pilot und zu Beginn der Rennfahrerkarriere von Justin Wilson dessen Manager. "Es ist gerade einmal drei Wochen her, dass ich mit Justin Wilson nach seinem zweiten Platz in Mid-Ohio gesprochen habe. Schier unglaublich, dass er jetzt nicht mehr da ist, weil er einen Unfall hatte, bei dem er unschuldiges Opfer war, indem er von einem Teil getroffen wurde, das vom Unfall eines anderen Fahrers stammte." Dass Wilson sein Leben auf diese Weise verloren hat, ist für Palmer "eine absolute Tragödie und es ist unerlässlich, dass die Bemühungen, um die Sicherheit im Motorsport zu verbessern, weitergehen".
Cockpitkuppel für das IndyCar-Chassis?
Natürlich beschäftigt man sich in den USA mit dem Thema, wie man den Kopf der IndyCar-Piloten besser schützen kann. Schon bald könnte es Tests mit dem aktuellen Chassis, dem Dallara DW12, geben. "Die Technologie ist da, um Simulationen und Live-Tests durchzuführen", so Craig McCarthy, Vorsitzender von Aerodine Composites, gegenüber 'Racer'. Zum Portfolio des in Indianapolis ansässigen Unternehmens zählen unter anderem komplett geschlossene Cockpitkuppeln, wie sie im Dragster-Sport verwendet werden.
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Das aktuelle Chassis, der Dallara DW12, wurde einst von Dan Wheldon evaluiert Zoom
Vor dem Hintergrund des jüngsten mahnenden Beispiels aus der IndyCar-Serie gibt McCarthy zu bedenken: "Leider war es nicht das erste Mal, dass so etwas passiert ist. Man kann nicht vor jeder möglichen Situation gefeit sein, aber man kann das Risiko reduzieren und genau darum geht es uns. Im Dragster-Sport haben wir ein System entwickelt, das es ermöglicht, die Kuppel sowohl von innen als auch von außen zu entfernen. Zudem haben wir Lösungen entwickelt, wie man einen Feuerlöscher durch spezielle Zugangskanäle einführen kann", so der Vorsitzende von Aerodine Composites.
Doch selbst wenn man damit die Gefahr, bei Feuer eingeschlossen zu sein, reduzieren würde, bleibt eine andere Frage unbeantwortet: Was passiert, wenn die Kuppel bei einem Crash deformiert wird, sodass die Mechanismen zum Öffnen beziehungsweise Entfernen nicht mehr funktionieren? Ein Fahrer, der in einer solchen Situation auf medizinische Hilfe angewiesen ist, dem aber nicht zeitnah geholfen werden kann, ist ein nicht wegzudiskutierendes Szenario, das gegen komplett geschlossene Cockpits bei Formelautos spricht.
FIA testet zwei Varianten halboffener Cockpits
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Die FIA-Tests mit geschlossenem Cockpit verliefen nicht zufriedenstellend Zoom
So hofft Ryan Hunter-Reay, der das rückblickend tragisch ausgegangene Pocono-Rennen der IndyCar-Serie am vergangenen Sonntag gewann, dass die Forschungen weiter vorangetrieben werden. Weil aber auch komplett geschlossene Cockpits bei Fahrzeugen ohne Türen, wie es Formelautos nun mal sind, nicht ohne Nachteil wären, bezieht sich die Hoffnung nicht zuletzt auf die Forschungen des Automobil-Weltverbands FIA. Laut Charlie Whiting, dem Sicherheitsdelegierten der FIA, stehen in Kürze Tests mit zwei verschiedenen Varianten eines besseren Kopfschutzes an, wobei die komplett geschlossene Kuppel nicht dazu gehört.
Von diesen Plänen weiß auch Hunter-Reay. "Es gibt Simulationen, die an eine Kuppel erinnern. Es ist aber keine komplett geschlossene Haube wie bei einem Kampfjet, sondern etwas, das uns mehr Schutz bieten würde, gleichzeitig aber die Tradition des Sports aufrechterhält", wird der IndyCar-Champion des Jahres 2012 von 'Associated Press' zitiert.
Doch selbst bei teilweise geschlossenen Cockpits würde der Kopf des Fahrers wohl die größte Gefahrenquelle im Formelsport bleiben. Mario Andretti merkt abschließend an: "Solange sich nicht alle - also FIA, IndyCar, Formel 1 - zusammentun und eine Lösung ausarbeiten, solange ist das die Gefahr, der wir ins Auge blicken. Es ist das Risiko, das leider zu unserem Sport dazugehört."