• 11.03.2011 13:39

  • von Lennart Schmid & Dieter Rencken

Thema Reifen: "Das fühlt sich nicht mehr wie Formel 1 an"

Die neuen Pirelli-Reifen sind derzeit das beherrschende Thema in der Formel 1 - Zahlreiche Piloten klagen über den starken Verschleiß der Gummiwalzen

(Motorsport-Total.com) - Das Thema Reifen hat die Formel 1 fest im Griff. Ab dieser Saison beliefert Pirelli sämtliche Formel-1-Teams und hat Bridgestone als Exklusivausrüster der "Königsklasse" abgelöst. Der italienische Hersteller fährt dabei eine andere Strategie als sein japanischer Vorgänger und möchte mit möglichst kurzlebigen Reifen für mehr Action auf den Rennstrecken sorgen. Bei den bisherigen Testfahrten hat sich gezeigt, dass manche Reifenmischungen nur wenige Runden halten, bis sie nahezu unbrauchbar werden.

Titel-Bild zur News:

Die neuen Reifen von Pirelli sorgen für reichlich Diskussionsstoff in der Formel 1

Selbst das Simulieren von Renndistanzen stellt die Fahrer und Teams vor große Probleme. "Ein Longrun ist so eine Sache", meint Adrian Sutil, der beim Test in Barcelona ein kleines Experiment wagte. "Wir haben versucht, eine Zweistopp-Strategie zu fahren, was eigentlich fast unmöglich ist. Es hat in den letzten zehn Runden nicht mehr hingehauen. Ich habe versucht, auf harten Pneus möglichst lange draußen zu bleiben."

"Aber man rutscht dann auf 1:31er- oder 1:32er-Rundenzeiten ab", fährt der Force-India-Pilot fort. "Wenn es ganz schlimm wird, dann geht es in Richtung 1:34 Minuten. Dann ist es absolut vorbei. Du kannst dich dann nicht so breit machen auf der Strecke. Die anderen fahren einfach so vorbei."

Laut Nick Heidfeld steigt das Verschleißproblem, je mehr Abtrieb die Teams bei den Testfahrten durch neue Teile und verbesserte Setups finden. "Du nimmst den Reifen dadurch viel härter ran, dadurch ist die Lebensdauer des Reifens niedriger. Das ist auch ein limitierender Faktor bei diesen Reifen", erklärt der Renault-Pilot.

Über- und Untersteuern ist heftiger denn je

"Es geht nicht nur um den Abbau", meint Heidfeld. "Wenn wir am Ende eines Stints aufhören, dann ist nicht nur die Oberfläche weg, es ist überhaupt kein Gummi mehr übrig. Das wird schlimmer, wenn du schneller wirst und mehr Abtrieb hast." Sutil ergänzt: "Es wird zu langsam, es lenkt nicht mehr. Alles wird ungenau, es ist kein präzises Lenken mehr möglich."

Nick Heidfeld

Nick Heidfeld beklagt, dass am Ende eines Stints die Reifen völlig am Ende sind Zoom

Sobald die Pirelli-Reifen am Ende sind, rutschen die Formel-1-Fahrzeuge heftig hin und her. "Über- und Untersteuern wird so extrem, solche Werte haben wir auf unserer Skala beim Debrief gar nicht", sagt Sutil. "Da sprechen wir sonst beim Untersteuern von Zahlen zwischen eins und fünf. Nun müssten wir schon acht nehmen, oder so. Das ist unglaublich. Irgendwann ist es so extrem, dass man in die Box fahren muss."

Maximal sieben Runden auf harten Reifen

Dass es künftig - wie von Pirelli gewünscht - zu mehr Boxenstopps während der Rennen kommen wird, steht für Sutil außer Frage. "Wenn sie wirklich auf drei bis vier Stopps aus waren, dann liegen sie tatsächlich genau im Plan." Auf harten Reifen seien in Barcelona gerade einmal sieben Runden möglich gewesen. "Dann konnte man auch mal Druck machen, musste nicht unbedingt super vorsichtig fahren. Damit macht das Fahren wieder etwas Spaß."

Dies gelte jedoch nur für die härteste der vier Gummimischungen. "Mit den anderen Mischungen macht es gerade mal zwei Runden lang Spaß, dann baut der Reifen extrem ab. Das fühlt sich nicht mehr wie ein Formel-1-Auto an", klagt Sutil. Rubens Barrichello ergänzt: "Man kommt an einen Punkt, an dem Reifen weg ist, und er kommt auch nicht wieder. Es hat also nichts mit Graining, oder so, zu tun."

Zahlreiche Reifenwechsel im Rennen unvermeidbar

"Letztlich ist die Situation für alle gleich. Man wird wohl drei bis vier Stopps pro Rennen machen müssen. Das wird vor allem in den ersten Rennen des Jahres eine interessante Show", meint Jaime Alguersuari. Als Fahrer könne man nur begrenzt Einfluss nehmen. "Wenn man nicht Vollgas gibt, dann überlebt der Reifen ein bisschen länger. Aber er wird nicht das ganze Rennen halten, er wird sich vorher verabschieden", weiß Barrichello.

Jaime Alguersuari

Jaime Alguersuari fragt sich, wie die Reifen auf hohe Temperaturen reagieren Zoom

Bis ein Reifenwechsel unausweichlich wird, ist es nur eine Frage der Zeit. "Irgendwann ist er hinüber. Es geht also nicht nur darum, ihn zu schonen. Man könnte es hinbekommen, dass der Reifen das ganze Rennen durchhält - wenn man zehn Sekunden langsamer fährt", scherzt Barrichello. Ein Überholmanöver mit abgefahrenen Reifen könne künftig ein ganzes Rennen ruinieren.

Teams trainieren Boxenstopps intensiv

Mehr Reifenwechsel sind zudem gleichbedeutend mit mehr Arbeit für die Teams an der Box. "Auf das Team kommen wohl acht Boxenstopps am Sonntag zu. Das heißt, dass 60 bis 70 Prozent des Rennens an der Box entschieden werden", glaubt Alguersuari. "Weil wir so viele Reifenwechsel haben werden, mussten wir die Boxenstopps natürlich entsprechend intensiv trainieren. Das wird zum Schlüsselfaktor in diesem Jahr. Die Strategie wird enorm wichtig."

Ross Brawn (Teamchef)

Ross Brawn macht sich als Teamchef Gedanken über die richtige Strategie Zoom

Mercedes-Teamchef Ross Brawn hat sich dazu selbstverständlich schon seine Gedanken gemacht. "Im Idealfall stellt man sein Auto und seine Fahrer so ein, dass sie mit der minimalen Anzahl an Boxenstopps die beste Rennzeit erzielen können. Ich denke, die meisten von uns werden es auf drei Reifenwechsel abgesehen haben", meint Brawn.

"Wenn man vier Mal an die Box muss, nimmt man die Reifen möglicherweise etwas zu hart ran. Dann wäre es wohl recht schwierig, die Zeit für den zusätzlichen Stopp wettzumachen", fährt der Teamboss der Silberpfeile fort. Brawn schließt Vierstopp-Strategien nicht kategorisch aus. "Sollte dein Rennplan vier Boxenstopps als schnellste Variante aufzeigen und du der Meinung sein, dass das dafür nötige Tempo drin ist, dann könnten wir durchaus auch Vierstopp-Rennen sehen."

Kaum Longruns bei den Tests

Die kurze Haltbarkeitsdauer der Reifen stellt die Teams aber nicht nur in den Rennen vor große Herausforderungen, sondern schon jetzt während der Testfahrten. "Grundsätzlich erschwert es die Setuparbeit", erläutert Sutil. "Man braucht extrem viele Sätze Reifen. Mit den harten Reifen kann man vielleicht zwei ähnliche Runs fahren, also ein bisschen Setuparbeit machen. Sobald man weiche Reifen wählt, hat man nur eine Runde, danach fällt er extrem zusammen. Die zweite Runde ist schon eine Sekunde langsamer und so weiter. Dann ist die Arbeit natürlich schwierig."

Adrian Sutil

Laut Adrian Sutil fahren die Teams bei den Tests nur selten Longruns Zoom

Brawn ist es deshalb wichtig, dass seine Fahrer möglichst oft mit leicht bedankten Autos üben, um schneller ein Gefühl für die Reifen zu entwickeln. "Die Eigenschaften der Pneus sind nicht linear und sie lassen unterschiedlich stark nach, je nach Benzinmenge. Es gibt einige recht große Unterschiede. Die Fahrer müssen die Gelegenheit haben, ein Gefühl für das Fahren bei wenig Sprit zu entwickeln, wie man sie anwärmt und wie man sie zum Arbeiten bringt", sagt Brawn.

Fragezeichen vor Melbourne

Je schwerer das Auto bedankt ist, desto schwieriger sei es, die Charakteristik der Reifen zu erkunden, da sie dann schneller verschleißen. Brawn ist sich deshalb sicher, dass die meisten Teams ihre Fahrer mit relativ leichten Autos auf die Strecke schicken. Renault-Pilot Heidfeld gibt sogar zu, in Barcelona bislang keinen einzigen Longrun gefahren zu sein.

Derzeit weiß noch niemand, wie gut er mit den neuen Reifen beim Saisonstart in Melbourne über die Runden kommen wird. "Niemand weiß bisher, wie die Pneus bei hohen Temperaturen funktionieren. Das kommt aber in den ersten Saisonrennen bestimmt auf uns zu", glaubt Alguersuari. "Wir haben nie außerhalb von Spanien getestet, daher gibt es große Ungewissheit bei allen Teams."

Situation ist für alle gleich

Bleibt die Frage, auf wie viele Reifensätze die Teams am Rennsonntag überhaupt noch zugreifen können, wenn der Verschleiß so groß ist. Brawn ist sich dessen bewusst, gibt aber Entwarnung: "Man muss die Reifen vorsichtig behandeln. In der Qualifikation werden wir ein paar Runden auf ihnen zurücklegen, also werden nach dem Zeittraining nicht mehr allzu viele frische Pneus übrig sein. Wir sollten insgesamt aber genug Reifen haben."

Felipe Massa

Training in der Box: Die Teams stellen sich auf deutlich mehr Reifenwechsel ein Zoom

Für die Fahrer bleibt nichts anderes übrig, als sich mit der Situation abzufinden. "Die Konstruktionen sind gemacht. Es ist ohnehin zu spät, das Paket noch einmal umzukrempeln. Wir müssen nun damit leben", meint Sutil. "Es ist für alle gleich. Das ist das einzig Positive daran. Das macht es wieder interessant."