• 20.11.2013 17:02

Lotus-Mann Chester: "Größten Änderungen meiner Karriere"

Lotus-Technikchef Nick Chester im ausführlichen Interview über das neue Reglement: Wie Techniker, Fahrer und Fans die kommende Saison erleben werden

(Motorsport-Total.com) - 2014 geht die Formel 1 mit den neuen V6-Turbomotoren mit 1,6 Litern Hurbraum, die die 2,4-Liter-V8-Sauger ablösen werden, in eine neue Ära. Doch das neue Reglement birgt noch viel mehr Aspekte, die den Ablauf der Rennen, das Erscheinungsbild der Boliden und den Sport an sich nachhaltig verändern werden. Lotus-Technikchef Nick Chester gibt in einem ausführlichen Interview über das neue Reglement einen umfassenden Überblick, was die Fans 2014 erwarten dürfen.

Titel-Bild zur News: Nick Chester

Lotus-Technikchef Nick Chester ist Nachfolger von James Allison Zoom

Frage: "Nick, was sind die größten Änderungen für die kommende Saison, was das Reglement angeht?"
Nick Chester: "Es gibt so viele Änderungen, da weiß ich gar nicht, wo ich anfangen soll. Natürlich stellt der Motor eine große Änderung dar. Wir wechseln vom etablierten V8-Motor, den wir so gut kennen und mit dem wir so lange gearbeitet haben, zu einem V6-Turbomotor mit 1,6 Litern Hubraum und Direkteinspritzung. Dieses Triebwerk hat eine ganz andere Größe und einen anderen Aufbau als das, was wir derzeit verwenden. Das gilt auch für die Kühlungsanforderungen, die den Bau des Autos im Heck signifikant verändern."

Frage: "Die Kühlungsanforderungen scheinen derzeit ein heißes Thema zu sein."
Chester: "Man muss die Luft kühlen, die in den Motor strömt, wenn sie einmal durch den Turbo durch ist, was eine ziemlich große Anforderung ist. Die Energie-Rückgewinnungssysteme sind merkbar leistungsstärker als die 2013er-Systeme und benötigen daher viel mehr Kühlung für die Batterien und die Motoren. Die Kühlung könnte kommendes Jahr durchaus ein entscheidender Faktor werden, wenn es darum geht, wie effizient das System sein kann, was dann wiederum eine direkte Auswirkung auf die Performance der Aerodynamik haben wird."

"Die Kühlung könnte kommendes Jahr durchaus ein entscheidender Faktor werden." Nick Chester

"Der bislang letzte Wechsel von V10- auf V8-Motoren war natürlich entscheidend, was die Kühlungsanforderungen angeht, aber sicher nicht im gleichen Maße wie die Veränderungen 2014. Wir sind weit davon entfernt, ein existierendes Paket zu überarbeiten, denn die neuen Anforderungen beim neuen Antriebsstrang sind so speziell, dass wir ein komplett neues System und infolge dessen auch ein neues Aerodynamikpaket entwickeln müssen. Revolution statt Evolution - wenn man so will."

Frage: "Wie sieht es mit den Energie-Rückgewinnungssystemen aus?"
Chester: "Vereinfacht gesagt verwenden wir derzeit einen einzelnen Motor, der sich MGU-K nennt, beim Bremsen Energie speichert und diese dann beim Beschleunigen zum Motor zurückführt. Ab dem kommenden Jahr wird ein zweiter Motor hinzugefügt, der direkt mit dem Turbo verbunden ist. Er kann nicht nur Energie vom Turbo rückgewinnen, sondern diese auch an den Turbo zurückgeben - als Umluft-System."

"Wenn man sich also in einer schlechten Position qualifiziert, dann wird man ziemlich sicher in der Anfangsphase Sprit sparen." Nick Chester

Frage: "Wie wird sich die Verwendung dieser Energie auf die Rennen auswirken?"
Chester: "Energie- und Sprit-Nutzung werden zu einem großen Teil von der Strategie bestimmt werden. Die Startposition wird auf jeden Fall beeinflussen, wie der Sprit im Verlauf des Rennens genutzt wird. Wenn man sich also in einer schlechten Position qualifiziert, dann wird man ziemlich sicher in der Anfangsphase Sprit sparen, um ihn dann später besser nutzen zu können, wenn die Strecke vor einem frei ist. Die möglichen Variationen bei der Strategie werden zweifellos deutlich größer sein als zuletzt."

Frage: "Gibt es irgendwelche merkbaren Veränderungen, wenn es um die strukturellen Anforderungen der Autos geht?"
Chester: "Das Chassis-Design ändert sich für die kommende Saison ziemlich deutlich - es handelt sich bei weitem um die größte Veränderung von einer Saison auf die andere, die ich in meinen 13 Jahren in Enstone erlebt habe. Es wird nun zwei Crashstrukturen auf jeder Seite des Autos geben, statt der vier in den vergangenen Jahren."

"Obwohl wir jetzt nicht mehr den Einschlags-Test machen müssen, gibt es jetzt deutlich aggressivere Stoß- und Drücktests, mit denen diese Strukturen belastet werden. Das zu bestehen, wird eine ziemliche Herausforderung. Wir haben uns natürlich bemüht, unser Chassis für diese Tests - und für die Sicherheit - so stark wie möglich zu bauen."

"Beim Design der Seitenkästen werden sich die neuen Kühlungsanforderungen bemerkbar machen und die Form deutlich verändern." Nick Chester

Frage: "Was können wir uns beim Aussehen der Autos erwarten?"
Chester: "Fangen wir vorne an: Die Nasenspitze wird deutlich tiefer als derzeit angebracht sein - auch die maximal erlaubte Breite des Frontflügels wird um 150 Millimeter reduziert. Dabei handelt es sich um einen Bereich, der in Hinblick auf die aerodynamische Optimierung im Fokus steht. In der Mitte des Chassis', beim Design der Seitenkästen werden sich die neuen Kühlungsanforderungen bemerkbar machen und die Form deutlich verändern. Wenn wir nach hinten schauen, dann werden wir das untere Heckflügelelement nicht mehr sehen, und das obere Heckflügelelement wird an einem Steg befestigt sein. Zudem wird es statt den auf beiden Seiten angebrachten Auspuffrohren ein einzelnes, zentrales Auspuffrohr geben."

Frage: "Wie problemlos läuft der Entwicklungsprozess des E22?"
Chester: "Wie erwartet handelt es sich um einen langen Prozess - es sind zwei Jahre vergangen, seit wir mit dem Projekt für 2014 begonnen haben. In den Anfangsstadien ging es eher um einen Basisplan, als um die Entwicklung - die Beurteilung der Möglichkeiten, was die Kernphilosophie angeht, bevor die Ideen in einen Entwurf des finalen Designs einfließen. Dieser Prozess ist gut gelaufen, aber vor einer neuen Ära wie dieser ist es sehr schwer zu sagen, wo man steht, ganz egal, ob wir uns an unsere Vorgaben halten. Es steht immer noch verdammt viel Arbeit vor uns, ehe das Auto erstmals aus der Garage rollt."

"Vor einer neuen Ära wie dieser ist es sehr schwer zu sagen, wo man steht." Nick Chester

Frage: "Wie wichtig war die Einführung des E21 mit dem langen Radstand in Hinblick auf den Entwicklungsprozess für das kommende Jahr?"
Chester: "Trotz einiger Tests während der Saison, die 2014 wieder eingeführt werden, hat es einen enormen Wert, wenn man die Möglichkeit hat, Konzepte mit dem E21 bewerten zu können. Simulatoren sind fantastische Werkzeuge und werden im Laufe der Zeit immer besser. Ein Konzept zu überprüfen, ohne Zeit in das Design der Teile oder Streckentests investieren zu müssen, ist daher von unschätzbarem Wert."

Frage: "Wie ist es dem Team gelungen, dass der E21 bis zum Saisonende konkurrenzfähig ist, obwohl so viel Arbeit für 2014 zu verrichten ist?"
Chester: "Obwohl es aus den offensichtlichen Gründen nicht in dem Maße geschehen konnte wie zu Saisonbeginn, haben wir es geschafft, bis zum US-Grand-Prix Updates für den E21 zu bringen - und zwar vom Auto mit dem langen Radstand bis zu aerodynamischen und mechanischen Verbesserungen. Das zeigt, wie viele Bemühungen von allen in Enstone über alle Abteilungen hinweg getätigt werden."