Hamiltons Abschied nach der "verlorenen Saison"
McLaren blieb auch in dieser Saison hinter den Möglichkeiten zurück - Trieb die Philosophie des Rennstalls Lewis Hamilton zu Mercedes?
(Motorsport-Total.com) - Mit dem Sieg von Lewis Hamilton beim US-Grand-Prix in Austin endete für McLaren eine lange Durststrecke. Der letzte Sieg des Teams durch Hamilton beim Rennen in Monza liegt schon über zwei Monate zurück. Dementsprechend groß war die Freude beim Team. "Diesen Erfolg haben wir gebraucht, ganz dringend", sagt Teamchef Martin Whitmarsh im Gespräch mit 'Sky Sports F1'. "Nach den vergangenen drei schwierigen Wochen hat das mal richtig gut getan. Vor allem nach unserem Erlebnis in Abu Dhabi war es eine große Erleichterung für das Team und für Lewis."

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Lewis Hamilton durfte in Austin jubeln, aber 2012 wäre mehr drin gewesen Zoom
"Er war am gesamten Wochenende stark, musste sich diesen Sieg hart erarbeiten. Das war fantastisch", so Whitmarsh. Unter dem Strich ist die McLaren-Bilanz des Jahres 2012 jedoch durchwachsen. Obwohl der MP 4-27 an fast jedem Wochenende zu den schnellsten Autos gehörte, stehen für das Traditionsteam nur sechs Siege zu Buche. Mit dem Kampf um die Fahrermeisterschaft haben Hamilton und Jenson Button schon lange nichts mehr zu tun, und obwohl Ferrari in der ersten Saisonhälfte, überspitzt gesagt, nur ein Ein-Wagen-Team war, liegt die Scuderia in der Konstrukteurswertung 14 Punkte vor McLaren.
"Unsere Ausbeute in dieser Saison war nicht herausragend. Unser Auto war immer schnell, aber wir konnten oft nicht die entsprechenden Resultate einfahren", muss Whitmarsh eingestehen. Technisch bedingte Ausfälle und Fehler des Teams bei einigen Boxenstopps trüben die Erfolgsbilanz. "Wir dürfen nicht vergessen: Normalerweise hätte er in Abu Dhabi gewonnen, und auch in Singapur ist er in Führung liegend mit Getriebeproblemen ausgefallen", erinnert Experte Marc Surer bei 'Sky'.
"Irgendwie schon schade, dass McLaren, die über das ganze Jahr gesehen das beste Auto im Feld hatten, nicht mehr daraus gemacht hat, weil es so viele Defekte gab", so der Schweizer. "Wir hatten ein schnelles Auto und tolle Fahrer, aber es kam nicht genügend dabei heraus", gibt auch Whitmarsh zu. "Jetzt müssen wir schauen, dass wir möglichst immer die Ergebnisse einfahren, die wir verdienen."
Dennis: Sieg wichtiger als Konstrukteursmeisterschaft

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Ron Dennis wäre ein Sieg in Brasilien lieber als Platz zwei in der Konstrukteurs-WM Zoom
Als letztes Saisonziel bleibt für McLaren lediglich der Kampf um Platz zwei der Konstrukteurswertung. "Dieses Duell gegen Ferrari gibt es schon seit ungefähr 30 Jahren. In den vergangenen Saisons lagen wir am Ende meist vor ihnen. Das wollen wir jetzt auch wieder schaffen", meint Whitmarsh. Auch Ron Dennis, Vorstandsvorsitzender der McLaren-Gruppe, hofft, dass sein Team Ferrari auf der Zielgerade noch abfängt: "Hoffentlich gewinnen wir am kommenden Wochenende einige Punkte mehr als Ferrari und werden Zweiter bei den Konstrukteuren", so Dennis bei 'Sky Sports F1'.
Höchsten Stellenwert hat dieses Ziel für Dennis jedoch nicht: "Wenn mich jemand fragen würde, ob ich lieber Zweiter bei den Konstrukteuren werden oder lieber den Grand Prix von Brasilien gewinnen würde, dann würde ich mich für den Grand-Prix-Sieg entscheiden." Darüber kann Martin Brundle nur den Kopf schütteln: "Wie kann er sagen, dass er einen Sieg in Brasilien Platz zwei bei den Konstrukteuren vorziehen würde? Das verstehe ich nicht", wundert sich der ehemalige Grand-Prix-Pilot und heutige TV-Experte.
Brundle sieht in der McLaren-Philosophie eine Ursache für manchen Misserfolg des Teams. "Das geht von Ron aus. Sein Standpunkt ist: Wir sind größer als alle anderen, einschließlich der Fahrer." Das gibt Dennis unumwunden zu: "Ich möchte nicht allzu pathetisch klingen, aber wenn man die Geschichte unseres Teams betrachtet, kann man sagen, dass es größer ist als jeder Fahrer. Für uns sind Fahrer wie Senna, Prost, Häkkinen, Rosberg und Lauda gefahren. Wir haben viele Meisterschaften gewonnen und werden das auch in der Zukunft tun."
Das Team steht über den Fahrern
Um dieses Ziel zu erreichen, fordert Dennis von seinen Piloten, ihre Interessen denen des Teams unterzuordnen. Das zeigt sich nicht nur an Dennis' Marotte, von den Fahrern die Herausgabe der Siegerpokale zu verlangen. "Wir sind ein Team, das den Fahrern viel abverlangt. Es ist wichtig, dass jeder im Team aus dem richtigen Grund bei uns ist: Konzentriert und entschlossen um den Sieg zu kämpfen und alle Opfer zu bringen, die dafür notwendig sind. Das schließt auch den Arbeitsaufwand ein, den wir innerhalb und außerhalb des Autos betreiben."
Diese Einstellung passt für Brundle nicht mehr in die heutige Zeit. "McLaren hatte schon immer dieses Problem mit ihren Fahrern, und der Sport hat sich weiterentwickelt. Als Fahrer willst du für dich selbst gewinnen. Wenn du für Ferrari fährst und ein Rennen gewinnst, ist das zwar toll, aber es ist dein Sieg." Für ihn stellt sich folgende Frage: "Wenn sie Titel und Meisterschaften gewinnen wollen, müssen sie sich entscheiden, ob das Team oder die Fahrer wichtiger sind. Wenn die Fahrer wichtiger sind, verdienen sie Respekt."
Brundle glaubt auch, dass der Wechsel von Hamilton zu Mercedes unter anderem damit zu tun hat. "Ich glaube, er hat ein Problem mit der Einstellung von McLaren", mutmaßt der Brite. Das sieht Dennis nicht so: "Wenn ein anderes Team ein besseres Angebot macht, in welcher Form auch immer, ist es verständlich, dass ein Fahrer wechselt", gibt sich der frühere Teamchef pragmatisch. Dennis bestreitet auch, dass er und Hamilton im Streit auseinandergehen.
Dennis: Kein Problem mit Hamilton

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Ist das Verhältnis zwischen Lewis Hamilton und Ron Dennis wirklich ungetrübt? Zoom
"Einige Leute glauben, dass es zwischen Lewis und mir ein Problem gäbe, aber das ist absolut nicht der Fall. In einer zwischenmenschlichen Beziehung gibt es immer Reibungspunkte", so Dennis. Nach außen nimmt er den Weggang seines Schützlings, den er schon in Kindertagen förderte, gelassen hin: "Ich wünsche Lewis alles Gute", sagt Dennis. "Wir haben ihn großgezogen, aber ich verbinde mit seinem Abschied keine besonderen Emotionen. Ich bin entspannt und nicht wütend."
Das nimmt Brundle seinem früheren Teamchef nicht ab. "Ich kenne Ron Dennis sehr gut. Seine Kreativität ist außergewöhnlich, aber er ist auch der komplizierteste Mensch, den ich je kennengelernt habe. Er wird von seinen Emotionen angetrieben. Es muss ihm das Herz zerreißen, dass Lewis das Team verlässt. Ron äußert sich sehr rationell darüber, aber wir haben in Austin gesehen, wie gut Lewis ist. Es wird ihnen wehtun, dass er zu Mercedes geht, das ist nicht gut."
"Natürlich denkt man an die gemeinsame Zeit zurück", gibt Dennis zu, "aber wir sind ein Rennteam und wollen gewinnen. Dazu muss man einige Opfer bringen, was bei anderen Teams in diesem Maße vielleicht nicht der Fall ist. Dazu ist nicht jeder bereit", teilt der McLaren-Boss einen kleinen Seitenhieb in Richtung Hamilton aus. Auch auf dessen Manager Simon Fuller ist Dennis nicht gut zu sprechen: "Simon taucht immer dann auf, wenn Lewis gewinnt."
Whitmarsh hofft indes, dass der Abschiedsschmerz nach sechs gemeinsamen Jahren auf beiden Seiten vorhanden ist. "Ich hoffe, dass ihm der Abschied von uns schwerfallen wird. Wir werden aber versuchen, bis zum Ende des Rennens in Brasilien nicht zu viele Emotionen zuzulassen. Wir haben immer gesagt, dass wir die letzten Rennen des Jahres gewinnen wollen. Sechs Siege haben wir bisher in diesem Jahr geholt, nun soll der siebte auch noch folgen."

