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  • 29.01.2016 08:01

  • von Gary Anderson (Haymarket)

Frag Gary Anderson: Was spricht gegen Jet-Kanzeln?

Technikexperte Gary Anderson beantwortet Fanfragen: Warum Ground-Effect-Autos verboten wurden, was ihn am Halo-System stört und ob Teams Reifentests ausnutzen

(Motorsport-Total.com) - Die Formel-1-Technik stellt oft sogar Insider vor große Herausforderungen. Aus diesem Grund beantwortet der ehemalige Jordan-Technikchef Gary Anderson an dieser Stelle ausführlich Fanfragen. Dieses Mal erklärt der Ire unter anderem, warum die Schürzenautos in der Formel 1 in den 1980er-Jahren verboten wurden, ob ein Team den Pirelli-Reifentest diese Woche zum eigenen Vorteil hätte nutzen können, und er wundert sich darüber, dass Jet-Kanzeln für die Königsklasse des Motorsports so ein Hinderniss darstellten.

Titel-Bild zur News: McLarens Konzeptstudie MP4-X

Die McLaren-Konzeptstudie MP4-X verfügt über eine Jet-Kanzel Zoom

Bruce Merchant (Twitter): "Wenn der Ground-Effect es ermöglicht, dass ein Auto dem anderen folgen kann, warum wurde er dann ursprünglich aus der Formel 1 verbannt?"
Gary Anderson: "Bruce, die Ground-Effect-Autos der Vergangenheit sind ein bisschen außer Kontrolle geraten. Der gesamte Unterboden war ein verkehrtes Flügelprofil, und durch die Schürzen bauten die Autos für die damalige Zeit extrem viel Abtrieb auf."

"Das Problem war, dass jeder Schaden an den Randsteinen oder der Strecke dafür sorgte, dass die Schürzen nachhaltig beschädigt wurden. Das führte wiederum zu einem Verlust von 50 Prozent des Abtriebs und in weiterer Folge meist zu einem schweren Unfall, da der Fahrer bis zur nächsten Kurve nichts über den Schaden wusste."

"Im Laufe der Zeit verschob sich der Venturi-Bereich des Unterbodens immer weiter nach vorne. Das brachte insgesamt mehr Abtrieb, und die Autos benötigten - wie man auf den Fotos dieser Zeit sieht - keinen Frontflügel mehr, oder sie kamen mit einem sehr kleinen Flügel aus."

Mario Andretti, Lotus, JPS

Der Lotus 79 war eines der ersten Schürzenautos in der Formel 1 Zoom

"Der Unterboden eines richtigen Ground-Effect-Autos sorgte für rund 80 Prozent des gesamten Abtriebs des Autos. Auch bei den aktuellen Autos generiert der Unterboden Abtrieb, dabei handelt es sich aber um nicht mehr als 20 Prozent."

"Der Unterboden nutzt den Venturi-Effekt. Die andere Hälfte des Tunnels stellt dabei der Belag dar. Dies ist gegen Turbulenzen beim Luftstrom widerstandsfähiger als komplizierte Flügelprofile."

"Sollte die Formel 1 einen Unterboden einführen, der mehr Abtrieb generiert, dann muss das auf sehr kontrollierte Art und Weise passieren - und in Abstimmung mit einem überholten Frontflügel-Reglement. Sonst wäre das alles umsonst."

Werden Reifentests von den Teams missbraucht?

Gary Stam (E-Mail): "Welche Setup-Veränderungen darf man bei einem Reifentest machen, und könnten die Teams die Pirelli-Versuchsfahrten nutzen, um ihr Setup auf nasser Strecke zu verbessern? Hätte Williams diese Chance nicht unbedingt nutzen müssen, wenn man bedenkt, wie groß ihre Probleme auf nasser Strecke sind?"
Anderson: "Gary, die Teams, die an einem Reifentests teilnehmen, erhalten ein paar Sätze Basisreifen. Das erlaubt ihnen, am Setup zu feilen, und auch die Fahrer können daran arbeiten, besser mit den Bedingungen klarzukommen."

Sebastian Vettel

Konnten Ferrari und Vettel von den Pirelli-Reifentests in Le Castellet profitieren? Zoom

"Daraufhin geht es einfach darum, die Test-Reifensätze auszuprobieren, und wenn die Fahrer nach der vorgegebenen Fahrzeit zurückkommen, dann informieren sie die Reifenfirma über ihre Eindrücke."

"Wenn die Reifen einen größeren Durchmesser haben, oder die Reifenfirma bereits weiß, in welche Richtung sie geht, dann hat das eine ziemlich dramatische Veränderung der Balance zur Folge. Die Reifenfirma erlaubt dann eine vorgegebene Veränderung des Bodenabstands oder eine kleine Anpassung des Frontflügels."

"Normalerweise werden solche Reifentests 'blind' durchgeführt. In anderen Worten bedeutet das, dass die Teams und Fahrer keine Ahnung haben, was bei welchem Reifensatz das Ziel ist. Sie folgen einfach einem Plan, der von der Reifenfirma vorgegeben wird, und berichten, was sie herausfinden."

"Um zu deinem abschließendem Punkt zu kommen: Wäre ich Williams, dann hätte ich mich als Erster für diesen Test beworben. Auch wenn man beim Test nur wenig Setup-Arbeit verrichten kann, so erlaubt er einem zumindest ein paar zusätzliche Gedankengänge, und bei jedem Regentest findet man eine ziemlich stabile Umgebung vor."

Mike Bates (E-Mail): "Als ich kürzlich über den vergangenen Regentest las, da fragte ich mich, wie sich Regen und Gischt aus aerodynamischer Sicht auf die Autos auswirken. Ich habe noch nie jemanden darüber sprechen gehört, aber das Wasser muss doch einen Einfluss auf den Luftstrom und den Abtrieb haben, oder?"
Anderson: "Ja Mike, Regen wirkt sich definitiv auf die Aerodynamik eines Autos aus. Es hängt davon ab, wie viel es regnet. Wenn es stark regnet, dann wirkt sich das auf alles, das im Bereich des Bodens ist, massiv aus. Das liegt vor allem daran, dass das Wasser den Straßenbelag verändert."

"Die Teams stellen den Frontflügel dann normalerweise flacher, damit das Auto ein wenig untersteuert. Das ist in dieser Situation eine Hilfe, wodurch der Fahrer mehr Vertrauen in sein Auto hat."

"Bei Nässe verändert sich die Aerodynamik des Autos geringfügig, und das Abtriebsniveau nimmt im Vergleich zur Trockenheit geringfügig zu. Bei manchen Autos kann das die Performance verbessern. Wenn sich die Bedingungen ändern, dann ist nicht nur der Fahrer ausschlaggebend."

Anderson: Autorennen ohne Fahrer hätten Reiz

E Martin (E-Mail): "Ich habe gehört, dass die ersten Rennautos ohne Fahrer bald der Öffentlichkeit vorgestellt werden. Wenn du einen ganz normalen, aber fahrerlosen Monoposto-Rennwagen bauen müsstest, was wären dann die Unterschiede?"
Anderson: "Wenn ich das so lese, dann weckt das bei mir Erinnerungen."

"Als ich in den 1980er-Jahren meine eigenen Anson-Formel-3- und Super-V-Autos baute, da war ich mit jemandem in Kontakt, den man damals (und wahrscheinlich auch noch heute) als Verrückten bezeichnete. Er wollte 20 ferngesteuerte, elektrische Rennautos bauen, die so groß wie ein Formel-3-Auto sind, mit denen alle ehemaligen und akuellen Motorsportgrößen gemeinsam in Indianapolis antreten sollten."

Gary Anderson

Ex-Jordan-Technikchef Gary Anderson gilt als Kenner der Formel-1-Szene Zoom

"Die Fahrer sollten im Kontrollturm sitzen, von wo aus sie die gesamte Strecke überblickt und so ihre Autos gesteuert hätten."

Frage: "Wäre so ein Gemetzel für dich vorstellbar?"
Anderson: "In 40 Jahren wäre das vielleicht gar keine so blöde Idee, zumal fahrerlose Autos jetzt in Mode kommen. Das könnte aus unterschiedlichen Gründen durchgeführt werden, ich würde die Idee, dass es sich um einen Wettbewerb der Motorsportgrößen handelt, aber sofort fallenlassen."

"Wäre ich daran beteiligt, dann würde ich gerne sehen, welcher Hersteller ein fahrerloses Auto am besten darauf einstellt, das Risiko zu minimieren. Es gäbe eine Gesamtdistanz, und ich würde gerne sehen, wer diese nur mit Hilfe der Sensoren und mit den minimalen Stößen und Schlägen hinter sich bringt."

Ben Stern (E-Mail): "Gibt es deiner Ansicht nach Dinge, die an Formel-1-Autos Standard sind, aber technisch nicht dem Reglement entsprechen, obwohl sie erlaubt wurden?"
Anderson: "Ben, diese Frage zu beantworten, ist sehr knifflig. Jedes Team geht ans absolute Limit und manchmal darüber, so wie ein Fahrer manchmal auch mehr als die absolute Streckenbreite nutzt. Denn jeder Millimeter zählt."

"Das Reglement ist aber eher Interpretationssache. Nehmen wir zum Beispiel die Biegsamkeit der Karosserie und der Flügel: Das ist schon seit vielen Jahren ein Thema, wenn man aber die TV-Bilder genau betrachtet, dann sieht man, dass sich die Frontflügel bei manchen Autos verformen."

"Im Laufe der Zeit hat die FIA Punkte eingeführt, an denen die Biegsamkeit der Karosserie und der Flügel überprüft wird. Das ist großartig, denn dadurch können die Teams sichergehen, dass ihre Systeme dem Grad der Tests entsprechen, aber sie können sich auch andere, nichtgetestete Bereiche ansehen, wo Biegsamkeit einen Vorteil darstellt."

"Einige Teams (ich möchte keine Namen nennen) gehen diesbezüglich über das Limit dessen, was meiner Meinung nach akzeptabel ist. Wenn sich ein Teil unter Belastung ein wenig durchbiegt, dann ist das etwas ganz anderes als eine Komponente, die speziell dafür designt wurde, sich unter Belastung zu biegen, um für einen aerodynamischen Vorteil zu sorgen."

Anderson kritisiert Halo-Cockpitschutz

Bruce Merchant (Twitter): "Warum funktioniert die Bergung in der Formel 1 anders als bei geschlossenen Fahrzeugen wie den Sportwagen und den Rallye-Autos? Wenn das nicht der Fall ist, warum gelten Jet-Kanzeln dann als Problem?"
Anderson: "Bruce, Wandel wird als Problem angesehen. Ich stimme dir zu: Tourenwagen, Rallye-Autos, NASCAR-Autos und so weiter haben alle ein geschlossenes Cockpit, und dennoch gelingt es den Fahrern, dieses zu verlassen."

"Ich persönlich bin kein Fan dieses Halo-Systems, das in der Formel 1 nun in Betracht gezogen wird. Es sieht nicht nur dumm aus, es ist auch nur auf eine Unfallart zugeschnitten: ein loses Rad. Es wird wirkungslos sein, wenn es darum geht, bei kleineren umherfliegenden Objekten Kopfverletzungen zu verhindern."

Halo-Kopfschutz

Das Halo-System steht vor einem Formel-1-Einsatz ab dem Jahr 2017 Zoom

"Im Moment wird die Größe der Cockpitöffnung vom Reglement vorgegeben, und durch eine etwas genauere Vorgabe könnte mit Sicherheit eine transparente Jet-Kanzel eingeführt werden, die auf Schienen nach hinten geschoben und so in Position gebracht werden könnte."

"Aktuelle Formel-1-Autos verfügen über große Mengen an Energie - sowohl im ERS-Speicher als auch in der Hydraulik -, mit der die meisten Systeme betrieben werden. Ich denke, dass es von den tausenden cleveren Designern in der Formel 1 nicht zu viel verlangt wäre, ein System zu entwickeln, mit dem eine Jet-Kanzel auf Befehl des Fahrers geschlossen oder auf Befehl des Fahrers oder der Streckenposten geöffnet werden kann."

Ben Davies (E-Mail): "Wie legst du beim Design eines Formel-1-Autos die Belastbarkeit der Teile fest und wie testet du diese? Können zum Beispiel Aufhängungsteile auf eine Art und Weise hergestellt werden, dass sie bei einem Einschlag nicht so einfach brechen?
Anderson: "Ben, Teile, die bei einem Crash brechen, sorgen in Wahrheit dafür, dass die G-Kräfte bei einem Einschlag sinken."


FIA-Testprogramm für Cockpitschutz

"Besorgniserregend ist es nur, wenn Teile von selbst brechen. Gewicht wirkt sich entscheidend auf die Performance aus, und jedes Team geht ans absolute Limit, um ein paar Gramm einzusparen. Jeder Unfall ist anders. Man hätte also sehr schwere Teile, wenn man sich für jeden möglichen Unfall rüsten würde."

"Die Teams sammeln enorme Datenmengen, wenn das Auto auf der Strecke ist. Diese Daten werden dann benutzt, um die Tragfähigkeit herauszufinden, die jedes einzelne Teil liefern muss. Jedes Teil wird dann dementsprechend designt - inklusive eines Sicherheitsfaktors, der davon abhängt, inwiefern das Team den eigenen Daten und der eigenen Designkompetenz vertraut."

"Auch das Budget hat einen Einfluss. Wenn man viel Geld hat, dann kann die Einsatzzeit der Teile reduziert und Teile regelmäßiger ersetzt werden. Wenn ein Teil einer Belastung von 1.000 Kilogramm bei einem Sicherheitsfaktor von 1,5 widerstehen muss, dann wird die Belastung beim Design auf 1.500 Kilogramm erhöht."

Max Verstappen, Romain Grosjean

Wenn bei einem Anprall Teile brechen, wird die Wucht verringert Zoom

"Nach der Herstellung wird das erste Teil für einen Test verwendet, bei dem es zerstört wird, um zu überprüfen, ob es den Designkriterien entspricht. Dabei wird ein Kraft-Weg-Diagramm erstellt, um die Steifigkeit und die Stärke des Teils zu überwachen."

"Danach wird jedes hergestellte Teil mit 80 Prozent seiner Arbeitslast getestet. Dabei wird ein Kraft-Weg-Diagramm erstellt. Dadurch kann das Teil erneut zu jedem Zeitpunkt der Lebensdauer überprüft werden. Das Kraft-Weg-Diagramm kann als Vergleich herangezogen werden, um die Teile auf Defekte zu überprüfen."

Wie im Windkanal gearbeitet wird

Darren Yates (E-Mail): "Du hast darüber gesprochen, dass du mit dem Auto Windkanal-Arbeit an der Vertikalachse mit vollem Lenkeinschlag gemacht hast. Mit welchen unterschiedlichen Einstellungen, z.B. Einschlagswinkel, arbeiten die Teams?
Anderson: "Darren, grundsätzlich gibt es vier Zustände, in denen sich ein Rennauto auf einer Rennstrecke befinden kann."

"1) Es fährt auf einer Geraden, beschleunigt dabei, und der Abtrieb wird größer. In dieser Phase versucht man, den Luftwiderstand zu reduzieren. Wenn einem das gelingt, dann erreicht das Auto eine bessere Höchstgeschwindigkeit."

"2) Ein Bremsmanöver am Ende der Geraden. Dabei verlagert sich das Gewicht von der Hinter- zur Vorderachse, der Bodenabstand wird sich vorne verringern und hinten vergrößern. In dieser Phase hat die Stabilität des Hecks Priorität. Wenn diese gewährleistet werden kann, dann hat der Fahrer mehr Vertrauen in das Auto und kann später bremsen."

"3) Die Phase in der Mitte der Kurve ist am anspruchsvollsten. Das Auto steht unter Last, das Rollen ist unvermeidbar, dazu kommt das Gieren, um den Schräglaufwinkel (Slip Angle; Anm. d. Red.) zu verursachen, und der Einschlag der Lenkung. Wie stark die Lenkung eingeschlagen ist, hängt vom Kurvenradius ab, aber ungefähr drei Grad in schnellen, sechs Grad in mittelschnellen und neun Grad in langsamen Kurven kommt ungefähr hin."

"Die Balance des Autos in der Mitte der Kurve ist für die Kurvengeschwindigkeit verantwortlich. Und je langsamer das Auto fährt, desto größer ist das Untersteuern. Der Lenkeinschlag ist also entscheidend, um an der Balance zu feilen."

"4) Wenn der Fahrer am Kurvenausgang aufs Gas steigen will, dann senkt sich das Heck leicht ab, was der Traktion zuträglich ist, aber die aerodynamische Balance etwas durcheinander bringen kann."

"Wenn man einen guten Balancekompromiss zwischen Gewichtsverlagerung und aerodynamischer Balance findet, dann wird der Fahrer früher und mit mehr Vertrauen Gas geben. Jegliche gewonnene Geschwindigkeit hilft einem auf der gesamten Geraden, ehe alles von vorne beginnt."

"Natürlich wird jeden der vier Zustände in viele unterschiedliche Abschnitte hinuntergebrochen, aber für mich ist der wichtigste Bereich die transiente Aerodynamik."

"Ein Rennauto befindet sich nie in einem Ruhestatus, wenn es sich auf der Strecke befindet, und die transiente Aerodynamik spielt die Hauptrolle, wenn es darum geht, ob der Fahrer dem Auto vertraut, wann er auf die Bremse steigt, das Lenkrad einschlägt oder auf das Gaspedal steigt."

"Wenn ein Fahrer warten muss, ehe er das Vertrauen hat, das Auto zu bedienen, dann verliert er dabei Zeit."