Kolumne von Marcel Fässler: Meine persönliche "Wolke 7"
Audi-Werkspilot Marcel Fässler über die Besonderheit eines Le-Mans-Sieges, den Rhythmus zum Rennen und die sechste Frau in seinem Leben
Liebe Fans der Hunaudieres,

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Ich freue mich schon jetzt riesig auf das nächste Rennen in Le Mans Zoom
was bin ich doch für ein glücklicher Mensch! Ich habe eine großartige Familie, erfreue mich guter Gesundheit und darf den besten Job der Welt machen. In unserem aktuellen Audi R18 e-tron quattro über die WEC-Strecken zu jagen, ist ein unbeschreiblich tolles Erlebnis. Am Ende der Rennen ganz oben auf dem Podest zu stehen, ist der beste Lohn der Welt. Vor allem in Le Mans. Was das bedeutet, möchte ich euch in meiner ersten Kolumne etwas näher bringen.
Schon bei meinem ersten Einsatz in Le Mans - das war 2006 mit dem damaligen Team Swiss Spirit im Courage - war der Sieg das Ziel. Hat nicht geklappt. Im Gegenteil: Ich bin bis 2009 viermal in Folge ausgefallen. Erst 2010 kam bei meinem ersten Rennen mit Audi an der Sarthe der ganz große Umschwung. Platz zwei im R15 TDI, dann 2011 gemeinsam mit Ben und Andre unser erster Gesamtsieg. Und was für einer! Dieses Rennen werde ich niemals vergessen.
Leider hatten wir nach den Unfällen von Allan McNish und Mike Rockenfeller zum Tageswechsel schon zwei Audis verloren. Wir waren das einzig verbliebene Trio in einem Audi R18, wurden von vier Peugeots wie verrückt gejagt. Diese Situation war emotional sehr belastend und auch körperlich richtig anstrengend. Stellt euch das vor: Vier Löwen jagen 15 Stunden lang die Beute, hetzen die ganze Zeit hinter dir her - ein Wahnsinn. Und uns tat in der letzten Rennstunde sozusagen eine Pfote richtig weh.
Anspannung und Erleichterung: Wenn Tränen kommen
Andre hatte sich damals mit unserem Auto im Duell gegen Simon Pagenaud ein klein wenig Luft verschafft, aber plötzlich zeigten die Monitore der Telemetrie einen schleichenden Plattfuß an. Wir mussten also beim letzten Stopp, bei dem eigentlich nur Tanken angesagt war, auch noch Reifen wechseln. Der "Lotti" hat es trotzdem geschafft, uns gerade einmal 13 Sekunden vor den Gegnern ins Ziel gebracht und einen unvergesslichen Moment geschaffen.

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Ein atemberaubendes Duell über 24 Stunden: 2011 war Le Mans extrem Zoom
Ich bin ganz bestimmt nicht nahe am Wasser gebaut, aber in diesen Momenten sind mir Tränen in die Augen geschossen. Wenn man eine solch anstrengende emotionale Achterbahnfahrt hinter sich hat, dann gibt es kein Halten mehr. Man ist müde, erschöpft, aufgeregt, freudig und erleichtert zugleich - ein ganz seltsames Gemisch, das ich in dieser Form noch gar nicht kannte. Wenn man die letzten Stints an der Box mitfiebert, dann ist das noch intensiver als im Auto, wo man eigentlich "nur" seinen Job machen muss.
Wenn man die entscheidende Phase des Rennens an der Box verbringt, dann weiß man gar nicht so richtig, wohin mit sich. Ich habe alle fünf Sekunden auf die Uhr geschaut, bin immer wieder zur Kaffeemaschine gelaufen. Ich bin in solchen Momenten quasi in meiner eigenen Welt. Ich kann nicht nur ruhig dort stehen und auf die Bildschirme schauen, sondern ich muss mich bewegen. Im vergangenen Jahr habe ich versucht, mich abzulenken, indem ich mich in meiner Kabine etwas hingelegt habe. Ging gar nicht, ich musste sofort wieder aufstehen.
Podest in Le Mans: Schweben auf "Wolke 7"
Man fühlt sich in diesen Phasen auf der einen Seite hilflos, weil man sich ins aktuelle Renngeschehen nicht aktiv einbringen kann. Auf der anderen Seite habe ich hundertprozentiges Vertrauen in meine Audi-Kollegen Ben und Andre. Die beiden machen das schon. Diese Gewissheit ist immer vorhanden - ohne jeden Zweifel. Die Zeit wird an der Box halt so unendlich lang. Da entstehen schon mal kuriose Szenen. Man steht kurz vor einem Le-Mans-Sieg und unterhält sich mit anderen Leuten über das Wetter - nur, um Ablenkung zu finden.

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Zusammen und doch allein: Bei Anspannung ist jeder in seiner Welt Zoom
Im Moment der Zieldurchfahrt passiert etwas ganz Besonderes. Es kommen schlagartig Glücksgefühle, die ich persönlich noch nie bei irgendeinem anderen Rennen erlebt habe. In diesem Moment wird klar, welche Bedeutung alles hat, wofür man diesen Sport liebt und was Le Mans so unvergleichlich macht. Die Podiumszeremonie vor diesen unzähligen tollen Fans ist gigantisch. Mir fällt dafür keine andere Beschreibung ein. Das Podest in Le Mans ist meine "Wolke 7". Man schwebt dort im Glück.
Anschließend geht es aber gleich weiter. Man muss zur Pressekonferenz. Dort kommen die Sieger durchgeschwitzt und nach Champagner "duftend" an - aber mit blitzblank sauberen Händen. Warum? Auf dem Weg zwischen Podium und Pressekonferenz werden in einem kleinen Raum abseits der Öffentlichkeit die Handabdrücke der Sieger genommen, die jeweils im Folgejahr in der Fußgängerzone von Le Mans zu sehen sind. Wenn die Tatze im Gips war, dann wäscht man sich natürlich anständig die Hände.
Ein Mann und sechs Frauen...
Der schönste Moment danach ist die Ankunft beim Team. Wenn wir die Treppe hinunter zur Box gehen, unsere Audi-Jungs jubeln und klatschen, wir anschließend ausgelassen feiern, dann ist das Genuss pur. Jeder hat seinen Beitrag zu einem unglaublichen Erfolg geleistet, jeder darf sich als Le-Mans-Sieger fühlen. So etwas verbindet - und so etwas macht die Party richtig schön. Die Feierlichkeiten gehen meist bis in den frühen Montagmorgen. Die Erschöpfung kommt so richtig erst raus, wenn ich zu Hause bei der Familie bin.
2011 bin ich zu meiner Überraschung daheim in der Schweiz am Flughafen von zahlreichen Fans empfangen worden. Das war auch ein unvergessliches Erlebnis. So etwas macht einem noch einmal zusätzlich bewusst, was man gerade geschafft hat. In meinem Heimatdorf hingen Plakate und Banner. Le Mans in einem Dorf in der Schweiz - gibt es auch nicht alle Tage. Und dann mit Freude in die eigenen vier Wände.

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Unser Superhirn am Kommendostand: Leena gehört ganz fest zum Team Zoom
Nach einem solchen Erfolg bin ich der glücklichste Papa der Welt, der allerdings ein bisschen Schlaf braucht. Zu Hause heißt für mich bei meiner Frau und meinen vier Töchtern zu sein. An dieser Stelle darf ich aber verraten, dass eine weitere Frau in meinen Leben eine wichtige Rolle spielt - wenngleich auch auf eine ganz andere Art: unsere Audi-Renningenieurin Leena Gade. Die Leena macht unser Trio perfekt - wir sind quasi als "quattro" erfolgreich. An dieser Stelle vielen Dank an Leena für die unfassbar gute Arbeit!
Nun geht es bald wieder in dieses einzigartige Rennen. Genauer gesagt ist es eine einzigartige und unvergleichliche Le-Mans-Woche, in der sich die Spannung immer mehr aufbaut. Von Technischer Abnahme über Training und Qualifying, die Fahrerparade am Freitag bis hin über Warmup zum Rennstart - das Fieber steigt kontinuierlich. Dann folgen 24 Stunden voller Unwägbarkeiten, voller Emotionen, voller Arbeit und mit großartigem Sport auf der Strecke.
Welcher Song heizt den Champions ein?
Weil das Rennen so viele Variablen mit sich bringt, versucht man in jenen Bereichen, die man selbst beeinflussen kann, möglichst wenige Experimente zu machen. Das führt auch bei uns zu gewissen Routinen - ich mag es nicht Rituale nennen, weil es gar nichts mit Aberglauben zu tun hat. Die Anreise läuft bei mir immer gleich: Flug nach Paris Charles de Gaulle, dann mit dem TGV in 90 Minuten nach Le Mans, dann zu Fuß ins Hotel und dort nehme ich immer das gleiche Zimmer.

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Kuscheln vor Freude: Mit Ben und Andre verbindet mich eine Freundschaft Zoom
Erst in Le Mans treffe ich mit meinen beiden Audi-Teamkollegen und Freunden Ben und Andre zusammen. Jeden Tag fahren wir gemeinsam vom Hotel zur Strecke. Auf diesen Wegen haben wir eine weitere Routine. In jedem Jahr haben wir unser persönliches "Le-Mans-Lied des Jahres", das wir auf der Anfahrt jeden Tag hören - und auch mal mitsingen. Im vergangenen Jahr war es "The Money Chant" aus dem Film "The Wolf Of Wall Street". Mal schauen, welches Lied wir dieses Jahr aussuchen werden. Das erzähle ich euch in meiner nächsten Kolumne.
Le Mans gewinnst du nicht, sondern Le Mans muss dich gewinnen lassen. Dieser Spruch wird oft zitiert, ist aber so wahr. Bei unserer aktuellen Quote von drei Siegen innerhalb der vergangenen vier Jahre scheint es Le Mans ganz gut mit uns zu meinen. Hoffentlich auch in diesem Jahr. Drückt uns die Daumen!
Euer

