Kolumne: Tourenwagensport im Tal der Tränen (2/4): Zersplitterung

Ab 2000 kochte jeder sein eigenes Süppchen: Der Niedergang des Tourenwagensports ist mit darauf zurückzuführen, dass jeder glaubte, den Stein der Weisen zu haben

Titel-Bild zur News: Der Neustart der DTM im Jahr 2000 zeigt die Zersplitterung Des Tourenwagensports im 21. Jahrhundert

Der Neustart der DTM im Jahr 2000 zeigt die Zersplitterung des Tourenwagensports im 21. Jahrhundert Zoom

(Motorsport-Total.com) - Liebe Freunde der engen Rad-an-Rad-Duelle,

im ersten Teil dieser Serie haben wir einen schonungslosen Blick auf den Status quo der einst so glanzvollen Tourenwagenwelt geworfen. Natürlich stellt sich die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass heute kaum noch ein Profifahrer im Tourenwagensport Geld verdienen kann.

Imperien zerfallen, wenn sie von innen zersetzt werden. Das Tourenwagen-Imperium überstand die Gruppe-A-Krise Anfang der 1990er Jahre, weil fast alle an einem Strang zogen. Das weltweit gültige Super-Touring-Reglement sprang überall schnell in die Bresche. Doch schon hier gab es den ersten Ausreißer: Deutschland.

Was heute als goldene Ära der DTM gilt, war damals hinter den Kulissen bereits ein erbitterter Kampf um Klasse 1 oder Klasse 2 (Super Touring). Erst als sich Opel Ende 1993 nach dem ersten Klasse-1-Jahr in einem wahren Vorstands-Showdown zur Klasse 1 bekannte, konnte die DTM ab 1994 zu ihrem unvergessenen technischen Höhenflug ansetzen.

Drei Jahre später ging die Klasse 1 an ihren eigenen Kosten zugrunde - wie von den Klasse-2-Rebellen Audi und BMW vorausgesagt. Dass es Ende der 90er-Jahre auch der Klasse 2 so ergehen würde, hatten sie allerdings nicht auf der Rechnung.

Die FIA reagierte auf den Super-Touring-Kollaps mit der Einführung der kostengünstigeren S2000 ab 2002, die die Fehler des Vorgängers ausmerzen sollte. Doch die vier DTM-Jahre in der Klasse 1 hatten ausgereicht, um auf dem deutschen Markt einen Premium-Anspruch zu erzeugen.

ITC, 1996

Das Goldene DTM-Zeitalter: Hinter den Kulissen gab es damals mächtig Zank Zoom

Ein Land nach dem anderen schert aus

Der STW-Cup, später Deutsche Supertourenwagen-Meisterschaft, konnte mit seinen weniger spektakulären Autos das DTM-verwöhnte Publikum trotz starken Sports nicht im gleichen Maße begeistern. Deshalb folgte die DTM ab 2000 nicht dem biederen FIA-Reglement, sondern gründete ihre eigene V8-Serie.

Andere Länder folgten: In Australien setzten sich in den 90er-Jahren die V8-Supercars in einem Tourenwagen-Kräftemessen gegen die Super-Touring-Boliden durch. Damit ging der fünfte Kontinent seinen eigenen Weg - bis heute. Japan brach ebenfalls weg, die Japanische Tourenwagen-Meisterschaft wurde nach ihrem Aus Ende 1998 nicht wiederbelebt.

Und auch die Briten, die Ende der 1980er-Jahre, als die Welt noch auf die Gruppe A schaute, das 2-Liter-Reglement erfunden hatten, scherten aus. Man sah sich in einer selbstverständlichen Rolle als Vorreiter neuer Tourenwagen-Reglements. Doch das 2001 eingeführte BTC-T-Reglement scheiterte krachend und konnte sich gegen S2000 nicht durchsetzen.

Was die Briten nicht davon abhielt, 2011 einen neuen Anlauf zu wagen: Man führte NGTC ein, eine Plattform mit vielen Gleichteilen. Das funktioniert auf der Insel bis heute, aber niemand sonst wollte mitmachen.

Eine der Possen der wilden Tourenwagen-Zersplitterung: STCC mit Solution F, die auf den engen Kursen kaum ihre Power ausspielen konnten

Eine der Possen der wilden Tourenwagen-Zersplitterung: STCC mit Solution F, die auf den engen Kursen kaum ihre Power ausspielen konnten Zoom

Die einzige Serie, die bereit war, das Reglement zu übernehmen, die Skandinavische Tourenwagen-Meisterschaft (STCC), erlebte eine Rebellion gegen diese Entscheidung. Die führenden Teams gründeten eine Piratenserie, die sich schließlich gegen das NGTC-Reglement durchsetzte. Nur folgte diese nicht dem S2000-Reglement, sondern führte Solution-F ein.

Blickt noch jemand durch? Keine Sorge, das muss niemand. Sicherlich könnte man noch die Super TC2000 (Argentinien), die Superstars-Serie in Europa oder die Stock Cars Brazil nennen, aber sei es drum: Ab der Jahrtausendwende begann jedes Land, sein eigenes Süppchen zu kochen. Das von der FIA offiziell favorisierte S2000-Reglement hatte von Anfang an einen schweren Stand.

Zwar gelang es der FIA, mit der Tourenwagen-WM (WTCC) ab 2005 eine offizielle Weltmeisterschaft auf die Beine zu stellen, was in der Super-Touring-Ära der 90er-Jahre nie gelungen war. Doch ab 2007 stolperte die Weltmeisterschaft über die Einstufung des Turbodiesels. Als man das Problem mit Turbobenzinern zu lösen versuchte, folgte die Chevrolet-Dominanz.

Dirk Müller, WTCC 2005

Das S2000-Reglement fand national nicht mehr die Akzeptanz von Gruppe A und Super Touring Zoom

Und dann versuchte auch noch die WTCC, ihr eigenes Süppchen zu kochen. Um nach dem Vorbild der Formel 1 und der LMP1 eine hochkarätige Exklusivklasse für die eigene Weltmeisterschaft zu haben, wurde ab 2014 die TC1-Kategorie eingeführt. Doch das ging völlig nach hinten los, nach vier Jahren war auch hier Endstation.

Rettungsversuche mit TCR-Fahrzeugen unter dem Namen WTCR waren zunächst vielversprechend. Doch die COVID-19-Pandemie war der letzte Sargnagel - neben einigen Fahrzeugen, die gegen den Kundensportgedanken verstießen.

Natürlich hätte TC1 funktionieren können - wenn die Hersteller mitgemacht hätten. Doch für diese sind Tourenwagen gar nicht mehr interessant, wie unser nächster Teil zeigt.

Euer


Gerald Dirnbeck