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Kolumne: Tourenwagensport im Tal der Tränen (1/4): Die Situation

Von der einstigen globalen Erfolgsformel zum kranken Mann des Motorsports: Der Tourenwagensport durchlebt schwere Zeiten - eine Bestandsaufnahme

Titel-Bild zur News: Der WTCR brachte zuletzt kaum noch ein vernünftiges Feld zusammen

Der WTCR brachte kurz vor seinem Ende kaum noch ein vernünftiges Feld zusammen Zoom

(Motorsport-Total.com) - Liebe Freunde der engen Rad-an-Rad-Duelle,

was ist los mit dem Tourenwagensport? Das Ende des Tourenwagen-Weltcups (WTCR), dessen öffentliche Wahrnehmung zuletzt ohnehin irgendwo zwischen Volleyball und Tischtennis angesiedelt war, ist nur der letzte Dominostein einer selten gesehenen Talfahrt über 20 Jahre. Wie konnte es soweit kommen?

Fassen wir zusammen: 2023 geht die DTM in ihr drittes Jahr mit GT-Fahrzeugen. Eine weltweite Tourenwagenserie gibt es nicht mehr, nur noch ein Label aus zusammengewürfelten Veranstaltungen. Die TCR Europe brachte zuletzt immerhin noch Starterfelder um die 20 Autos zusammen, blieb aber in der öffentlichen Wahrnehmung selbst hinter dem WTCR weit zurück.

Nachwuchspiloten aus Tourenwagen-Dynastien wie Luca Engstler sind in den GT-Sport gewechselt, weil sich mit Tourenwagen als Fahrer kaum mehr Geld zu verdienen lässt.

Auf nationaler Ebene dümpelt in Deutschland seit Jahren die ADAC TCR Germany mit zwölf bis 16 Autos vor sich hin. Selbst der ADAC weiß nicht, wo der Großteil der 40 Autos, die 2017 das Starterfeld bildeten, abgeblieben ist. Ein Comeback der Deutschen Tourenwagen Challenge (DTC) ist gescheitert. Der Tourenwagen Junior Cup weist in seiner Pyramide den GT-Sport als Fernziel für junge Talente aus.

Anderen nationalen TCR-Serien geht es nicht besser als der Deutschen: Zu blass, kaum professionelle Fahrer, meist ein Schattendasein hinter GT-Fahrzeugen oder Prototypen. Skandinavien musste 2019 die Insolvenz des Veranstalters der landesübergreifenden TCR-Serie verkraften.

Die Supercars Australia vollziehen mit der Gen3 einen Schwenk in Richtung GT

Die Supercars Australia vollziehen mit der Gen3 einen Schwenk in Richtung GT Zoom

Spitzenmotorsport nur noch in zwei Tourenwagenserien

Letztlich gibt es weltweit nur noch zwei Tourenwagenserien, die hoch professionalisiert sind. Von NASCAR wollen wir an dieser Stelle einmal absehen, denn das ist ein komplett eigenes Universum.

Da sind zum einen die Supercars Australia, eine Mischung aus NASCAR und europäischer Tourenwagen-Philosophie. Spektakulär und populär, kämpfte sie in den 2010er Jahren mit dem gescheiterten Versuch, dauerhaft weitere Hersteller in den Sport zu locken, um die jahrzehntelange Ford-Holden-Dualität zu beenden.

Zuletzt musste man die Kröte schlucken, dass die Marke Holden eingestellt wurde. In die Lücke schickt General Motors für 2023 Chevrolet. Wie das bei den australischen Fans ankommen wird? Das bleibt abzuwarten. Mit der spektakulären Gen3-Generation wird für 2023 zudem ein deutlicher Schwenk in Richtung GT vollzogen.

Die andere Serie, in der zumindest noch einige Vollprofis gutes Geld verdienen können, ist die BTCC. Doch auch die Britische Meisterschaft ist nur noch ein Schatten ihrer Glanzzeit in den 1990er Jahren, als Großbritannien tatsächlich der Nabel der Tourenwagenwelt war und Hersteller sogar mit Formel-1-Teams wie Williams zusammenarbeiteten - mit Budgets, für die man heute LMDh-Autos einsetzen könnte.

Bild aus einer besseren Zeit: In den 90er-Jahren regierten die Tourenwagen den globalen Rundstreckensport

Bild aus einer besseren Zeit: In den 90er-Jahren regierten die Tourenwagen den globalen Rundstreckensport Zoom

Festzuhalten bleibt: Seit den 1990er Jahren hat sich das Blatt gewendet. Der GT-Sport, der Anfang bis Mitte der 90er Jahre eine exotische Angelegenheit für ein paar Herrenfahrer war, ist heute das, was damals der Tourenwagensport war. Und umgekehrt.

In den nächsten beiden Teilen wollen wir der Frage nachgehen: Wie kam es dazu?

Euer


Gerald Dirnbeck