• 04.08.2011 15:14

  • von Michael Noir Trawniczek

Hintergrund: Am Boxenfunk bei Toro Rosso

Wir haben Toro Rosso bei einem Freien Training in Budapest in der Box genau auf die Finger geschaut und sogar den Boxenfunk mitgehört

(Motorsport-Total.com) - Hungaroring, erstes Freies Training für den Grand Prix von Ungarn, die Boxen Nummer 18 und 19. Sebastien Buemi und Jaime Alguersuari sitzen bereits in ihren Toro-Rosso-Raketen, denn gleich beginnt die erste Session. Der Chefingenieur erklärt den Fahrern am Boxenfunk, was auf der ersten Runde an diesem Rennwochenende zu tun ist. Diese Installation-Lap wird bei allen Teams für verschiedene Systemchecks genützt. So gehört beispielsweise auch der Corner-to-Corner-Test dazu.

Titel-Bild zur News: Michael Noir Trawniczek

Reporter Michael Noir Trawniczek vor der Toro-Rosso-Box von Jaime Alguersuari

Die Kommunikation mit den Piloten wird in Englisch abgehalten, während mit den Technikern in Italienisch kommuniziert wird - schließlich besteht das Team zu einem großen Teil aus Italienern, wenngleich nur noch wenige aus der Minardi-Zeit geblieben sind. Die Motoren werden gezündet. Der infernalische Motorensound wirkt in der Betonbox noch überwältigender, trotz der Kopfhörer. Die Heizdecken, die zum Aufwärmen der Reifen dienen, werden abgezogen...

Wie ein Bienenschwarm

Und schon geht es los! Mit einem überraschend lauten Ruck wird der erste Gang eingelegt. Einer nach dem anderen verlässt die Box, wie bei einem Bienenschwarm. Bienenschwarm passt insofern gut, als dass hier jedes Teammitglied eine klar definierte Aufgabe hat, alles koordiniert ist, nichts dem Zufall überlassen wird. Man könnte auch von militärischer Strenge sprechen, doch dafür ist der Tonfall dann doch wesentlich angenehmer.

Der erwähnte Kurventest geschieht folgendermaßen: In jeder Kurve funkt der Pilot durch: "Corner one". Dann die nächste Kurve: "Corner two" - und so weiter. Marieluise Mammitzsch, die Presselady des Teams, erklärt: "Bei diesem Test wird kontrolliert, ob die Fahrer wirklich in jeder Kurve Funkkontakt zum Team haben."

Zusätzlich müssen die Piloten diverse weitere Einstellungen vornehmen, die ihnen von ihrem Ingenieur am Funk mitgeteilt werden: Motormappings, KERS-Stufen, Bremsbalance - auf der Out-Lap muss also sehr viel an den berühmten Knöpfen gedreht werden. Nach rund eineinhalb Minuten kehren die Geschosse zurück an die Box. Sie werden wieder verkabelt, wirken wie Patienten in einer Intensivstation.

Toro-Rosso-Ingenieure

Die Ingenieure tüfteln über den Notebooks und suchen nach Verbesserungen Zoom

Der Vergleich passt insofern, als dass die Ingenieure genau wie die Ärzte stets über alle relevanten Daten des Fahrzeugs verfügen. Für das Ablesen dieser Daten sind zwei eigene Dateningenieure im Einsatz, sie stehen direkt in der Box zwischen den beiden Autos vor ihren Monitoren. Geht ein "Zeiger" in den roten Bereich, müssen sie umgehend Alarm geben.

Nachdem alle Funktionstests absolviert worden sind, wird es jetzt ernst. Der Motor wird wieder angelassen. Der Nummer-eins-Mechaniker steht vor dem Auto, vorne und hinten bedienen zwei Mechaniker die Wagenheber, vier Mechaniker warten auf den Befehl, die Heizdecken von den Reifen abzunehmen.

"Let's go", ertönt es am Funk. Der Nummer-eins-Mechaniker leitet seine Crew wie ein Dirigent: Zuerst breitet er die Hände aus, die vier Mechaniker reagieren sofort auf seine Handbewegung und befreien zeitgleich die Reifen von den Heizdecken. Mit der nächsten Handbewegung erwirkt der Nummer-eins-Mann, dass der Wagen herabgelassen wird. Wieder folgt der Ruck, wenn der erste Gang eingelegt wird, und schon entschwindet Buemi in der Ferne der Boxengasse.

Jeder hat eine Aufgabe

Die erwähnten Mechaniker haben alle ein Spezialgebiet: Sie sind jeweils zuständig für die Elektronik, die Reifen, das Bodywork, das Benzin, das Getriebe und die Hydraulik. Dazu kommen zwei Mechaniker von Motorenausrüster Ferrari - einer ist für den Motor zuständig, der andere für das Energierückgewinnungssystem KERS, das ebenfalls von Ferrari geliefert wird. Außerdem befinden sich noch Techniker der Teileausrüster in der Garage, wie beispielsweise vom Bremsenlieferanten Brembo. Und: Es sind auch ständig zwei FIA-Beobachter im Raum - sie schreiben mit, welche und wie viele Reifensätze eingesetzt werden und überwachen das komplette Szenario.

Mittlerweile kehrt Buemi wieder zurück an die Box. Er ist jetzt sechs Runden am Stück gefahren und berichtet am Funk: "In verschiedenen Kurven hatte ich Untersteuern. Einmal habe ich mich verbremst, sodass ich einen Bremsplatten bekam." Buemi schlägt von sich aus Lösungen vor, das Untersteuern zu bekämpfen: "Ich denke, mehr Frontflügel wäre gut." Der Chefingenieur gibt nun an die Mechaniker Anweisungen in Italienisch, schon beginnen sie mit der Arbeit. Auch hier weiß jeder, was er zu tun hat.

Der Chefingenieur sitzt zumeist vorne an der Kommandobrücke, an der Teamchef Franz Tost, der Technische Direktor Giorgio Ascanelli, der Teammanager, ein Strategieingenieur sowie die beiden Renningenieure der Piloten sitzen. Um jedoch besser mit dem Fahrer kommunizieren zu können, wechseln die beiden Renningenieure oder der Chefingenieur auch mal in die Garage, um quasi ihrem Fahrer ins Auge blicken zu können, wenn es um wichtige Entscheidungen geht.


Fotos: Toro Rosso, Großer Preis von Ungarn, Freitag


Am Wagen von Alguersuari gibt es ein technisches Problem. Während die Mechaniker beginnen, den Boliden zu "strippen", die Verkleidungen herunterzuschrauben, bleibt Alguersuari im Auto sitzen und verfolgt das Training über den Monitor, den die Fahrer stets vor sich haben, wenn sie an der Box stehen.

Buemi berichtet am Funk: "Das Auto ist jetzt stabiler beim Bremsen." Der Ingenieur antwortet: "Okay, du kannst noch eine weitere Runde fahren, wenn du willst." Nach rund 70 Minuten werden die weicheren Supersoft-Reifen ausgepackt. Mittlerweile ist auch Alguersuari wieder einige Stints gefahren, die beiden Piloten wollen jetzt mit der weichen Mischung ans Limit gehen.

Während es zwischen Buemi und seinem Ingenieur eher ruhig am Funk ist, wird Alguersuari des Öfteren motiviert: "Jaime, keep pushing" oder "Jaime, good lap" kann man da hören, oder auch ein "Try to improve the pace, Jaime". Dazwischen hört man immer wieder Anweisungen wie "KERS recovering three", die wohl nur von den Teammitgliedern so richtig verstanden werden.

Ungeliebte Gummihandschuhe

Das Energierückgewinnungs-System KERS zwingt die Mechaniker dazu, des Öfteren von normalen Arbeitshandschuhen auf isolierte Gummihandschuhe zu wechseln. Der Grund ist plausibel. Pressesprecherin Mammitzsch erklärt: "In den Gummihandschuhen schwitzt man natürlich. Daher werden die nur dann getragen, wenn es eine elektrische Spannung am Auto geben könnte."

Mittlerweile nähern wir uns dem Ende der Session, Buemi zieht am Boxenfunk eine Art Schlussanalyse: "Ich habe immer noch Untersteuern, ich kann nicht so attackieren, wie ich das möchte. Wir müssen die Front verbessern, der Frontflügel ist noch immer nicht genug. Dafür ist das Bremsen jetzt schon viel besser."

Toro-Rosso-Auspuff

Blick auf den Ferrari-V8-Motor, der im Heck des Toro Rosso eingebaut ist Zoom

Wieder reagiert der Chefingenieur, indem er den Mechanikern sagt, was sie am Wagen zu tun haben. Buemi steigt aus dem Auto - für ihn ist das erste Training zu Ende. Vorerst zumindest, denn danach sitzen die Fahrer bekanntlich in den Briefings mit ihren Ingenieuren.

Jetzt kommt auch Alguersuari rein. Seine Bilanz: "Wir brauchen mehr Frontflügel, das Untersteuern ist zu stark." Der Chefingenieur fragt nach: "Und wie verhält sich das Auto beim Richtungswechsel?" Alguersuari antwortet: "Das Untersteuern ist einfach zu stark." Der Chefingenieur antwortet: "Vergiss jetzt einmal das Untersteuern - unabhängig davon: Wie verhält sich das Auto beim Richtungswechsel?" Alguersuari sagt: "Es verhält sich ganz gut, vielleicht noch ein bisschen zu langsam."

Jetzt ist der Chefingenieur zufrieden - sodass er den Mechanikern erklären kann, was sie bis zum zweiten Freien Training am Wagen verändern müssen. Buemi und Alguersuari haben im ersten Freien Training die Plätze 16 und 17 belegt - später haben sie sich wohl herangearbeitet an jenen Zustand, der dem Fahrer das optimale Vertrauen in seinen Boliden gibt.

Denn Buemi und Alguersuari konnten in dem turbulenten und schwierigen Rennen auf den Plätzen acht und zehn für das Team wichtige WM-Punkte erobern - und das beim 100. Grand Prix der Scuderia Toro Rosso. Die mühevolle Arbeit hat sich also gelohnt...

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