• 30.05.2011 19:53

  • von Christian Nimmervoll & Dieter Rencken

Einfach der Wahnsinn oder einfach nur wahnsinnig?

Nach den Unfällen entflammt die Diskussion über die Sicherheit in Monaco neu - Analyse von Ursachen und möglichen Verbesserungsansätzen

(Motorsport-Total.com) - Das zurückliegende Monaco-Wochenende, das 69. in der Geschichte des Grand-Prix-Sports, hatte wieder einmal alles zu bieten, was sich ein Motorsportfan wünschen kann: ein hochspannendes Autorennen, traumhafte Bilder von der Cote d'Azur, viele Stars und noch mehr Sternchen - und leider auch zwei schwere Unfälle, die für Sergio Perez (Sauber/Samstag/Video) und Witali Petrow (Renault/Sonntag/Video) im Krankenhaus endeten.

Titel-Bild zur News: Lorenzo Bandini

Schon immer gefährlich: Lorenzo Bandini bei seinem Unfall im Jahr 1967

Zwar kamen beide mit verhältnismäßig glimpflichen Verletzungen davon, sodass sie schon in zwei Wochen in Montreal wieder fahren können, aber für ein paar Minuten hielt die Formel 1 den Atem an. "Solche Unfälle wollen wir nicht sehen", spricht Mercedes-Teamchef Ross Brawn Millionen von TV-Zuschauern aus der Seele. Kein Wunder also, dass die in Monaco ohnehin immer im Hintergrund schwebende Sicherheitsfrage nun wieder einmal intensiv diskutiert wird.

Mit 290 km/h frontal in Richtung Barriere

Im Fokus dieser Diskussionen steht die Perez-Unfallstelle, mit rund 290 km/h der schnellste Punkt der Strecke: "Es gibt dort eine Bodenwelle, auf der die Hinterachse extrem leicht wird", schildert Sebastian Vettel. "Es ist ein Drahtseilakt. Wenn man es ein bisschen übertreibt und zu früh zu viel will - gerade auf der Bodenwelle -, schert das Heck aus. Als Fahrer kannst du da wenig machen." Landsmann Timo Glock nickt zustimmend: "Das fühlt sich so an, als würde man eine Handbremse ziehen."

Perez kam ausgangs des Tunnels etwas weit nach links, wo es noch dazu rutschiger ist als auf der Ideallinie, und verlor das Heck seines Sauber beim Anbremsen außer Kontrolle. "Ein Fahrfehler", stellt 'Motorsport-Total.com'-Experte Marc Surer nüchtern fest. Anschließend schlug er mit der Nase voran in die Leitplanken auf der rechten Seite ein und schlitterte über die Hafenschikane hinweg in jene Barriere, die 1994 Karl Wendlinger ins Koma befördert hat .

Dass etwa die abgasangeströmten Diffusoren ein Grund sein könnten, weshalb die Stelle plötzlich als so kritisch eingestuft wird, glaubt Brawn nicht: "Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendeiner der Unfälle mit dem angeströmten Diffusor zu tun hatte, um ehrlich zu sein. Es ist einfach eine sehr schwierige Passage, schon seit vielen Jahren. Du hast beim Bremsen eine sehr starke Seitenkraft, zudem ist es dort wellig. Da kann so etwas passieren", analysiert der 56-Jährige.

Sergio Perez

Schrecksekunde im Qualifying: Sergio Perez' schwerer Unfall am Hafen Zoom

Bereits am Samstagmorgen war sein Fahrer Nico Rosberg an der gleichen Stelle verunglückt . Der Mercedes-Pilot hatte bei seinem Abziehbild des Perez-Unfalls allerdings mehr Zentimeterglück als der junge Mexikaner und schlug nicht in die Barriere ein. Ursache: "Bei Nico war der Reifendruck niedrig, wir hatten eine Menge Benzin an Bord und das Auto setzte auf. Das ist einfach schwierig, dadurch hat es ihn erwischt. Mit dem angeströmten Diffusor hatte das nichts zu tun", so Brawn.

Rosberg selbst sieht die Sache noch viel pragmatischer: "Es war einfach ein unnötiger Fehler." Daher hält er auch die Stimmen, die Monaco als Ganzes wieder in Frage stellen, für völlig überflüssig: "Ich finde nicht, dass die Strecke dort zu unsicher ist." Damit spricht er seinem Kumpel Lewis Hamilton aus der Seele: "Die ganze Strecke ist gefährlich, aber deswegen lieben wir sie ja so sehr", vertritt der McLaren-Pilot die Ansicht eines hartgesottenen Racers.

Glimpflicher Ausgang spricht für Sicherheit

"Monaco ist eine einzigartige Strecke und es gibt fast keine Auslaufzonen. Die schnellste Passage ist auch die gefährlichste. Ich sehe das aber nicht als Grund dafür, etwas zu ändern", argumentiert er. "Perez hat nur eine Gehirnerschütterung. Das beweist, wie weit wir in Sachen Sicherheit sind. Die Strecke sollte so bleiben, wie sie ist. Vielleicht können wir die Bodenwellen entfernen, aber das verleiht der Strecke ja auch irgendwie Charakter."

"Die Bodenwelle kann dich abwerfen, aber ich fahre schon seit mehr als fünf Jahren hier und hatte noch nie Probleme damit", sagt Hamilton. "Klar, du musst richtig hinfahren und sicherstellen, dass du nicht auf die schmutzige Seite kommst, denn so erwischt es einige Leute. Aber ich finde es okay. Genau das wollen wir doch im Motorsport - zumindest ich: Ich will abgeworfen werden, wenn ich einen Fehler mache. Wenn wir fahren würden wie auf Schienen, würde es keinen Spaß machen."

¿pbvin|512|3738||0|1pb¿Aufgrund der Gegebenheiten ist es in Monaco schlicht und einfach unmöglich, große Auslaufzonen zu installieren. Wo das grundsätzlich möglich ist - etwa bei Sainte Devote oder in der Tabak-Kurve -, wurden die früheren Leitplankenschluchten bereits entfernt, aber im Bereich Tunnelausgang/Hafenschikane hat der zuständige Automobile Club de Monaco (ACM) kaum Spielraum für einschneidende Sicherheitsverbesserungen.

"Es ist eine knifflige Kurve und ein Bereich, in dem man kaum etwas für die Sicherheit tun kann. So sind nun einmal die Gegebenheiten", nickt Jenson Button, der dort 2003 schon einmal dem Tod von der Schaufel gesprungen ist . Sein Ex-Teamkollege Rubens Barrichello widerspricht: "Wenn man die Ausweichstraße zumacht, dann würde man im Falle eines Unfalls zwar zwischen den Leitplanken hin- und hergeworfen werden, aber das wäre besser als ein plötzlicher Aufprall."

Theoretisch gut, praktisch nicht möglich

Klingt theoretisch nach einer vernünftigen Lösung, aber ob die so einfach umsetzbar ist, ist eine andere Frage. Glock nimmt die Verantwortlichen jedenfalls in Schutz: "Ich glaube, es gibt keine andere Möglichkeit. Das Problem ist, dass es dort zwei Straßen gibt, die von einem Bürgersteig getrennt sind. Man kann das nicht über Nacht verändern, aber auch nicht für die Zukunft. Wenn man das ändern könnte, dann hätten sie es schon lange getan."

Perez hat sein Glück im Unglück vor allem zwei Faktoren zu verdanken: erstens den teuren TecPro-Barrieren, die vor fünf Jahren in Monza eingeführt wurden und wegen ihrer Kosten nur von wenigen Veranstaltern eingesetzt werden, und zweitens den abgeflachten Speed-Bumps im Inneren der Schikane. Diese hatte FIA-Rennleiter Charlie Whiting entfernen lassen, nachdem Rosberg dort bei seinem Crash fast abgehoben wäre.

"Ich bin froh, dass Charlie die richtige Entscheidung getroffen hat und diese Höcker in der Auslaufzone im Anschluss an den Unfall von Nico entfernen ließ. Wären diese Dinge beim Unfall von Sergio noch immer da gewesen, hätte es schlimmer ausgehen können", meint etwa Button und lobt Whiting auch für das generelle DRS-Verbot im Tunnel. Glock nickt zustimmend: "Wir müssen uns glücklich schätzen, dass das DRS im Tunnel verboten ist."

Witali Petrow

Schrecksekunde im Rennen: Witali Petrow's Crash am Schwimmbad Zoom

"Das Problem mit DRS wäre nicht die Biegung im Tunnel, sondern alle Fahrer würden bis zum letzten Moment warten, bis sie auf die Bremse steigen. In der Bremszone befinden sich die Bodenwellen, auf denen die beiden Autos ausgebrochen sind", erklärt der Deutsche. Dennoch kann er die FIA-Entscheidung nicht hundertprozentig unterstützen, denn: "Ich denke, die Unfälle von Nico und Sergio zeigen, dass man DRS komplett verbieten hätte sollen."

"Wenn zum Beispiel ein Fahrer mit abgenutzten Reifen auf die erste Kurve zufährt und dahinter ein anderer mit frischen Reifen DRS benutzt und dann noch ein Auto aus der Box kommt, dann könnte es zu einem bösen Unfall kommen", begründet Glock seine kritische Haltung. "Man muss an all diese Dinge denken, wenn man dieses Risiko eingeht. Leider wurde entschieden, dass wir dieses Risiko nehmen müssen."

Barrichello kritisiert "Stillstand" in Monaco

Auch das 39-jährige Monaco-Urgestein Rubens Barrichello (bei 19 Starts seit 1993 fünfmal auf dem Podium, aber nie als Sieger) will sich den irren Risiken im Fürstentum auf seine alten Tage anscheinend nicht mehr aussetzen: "In der Formel 1 wird die Sicherheit ständig verbessert, aber in Monaco herrscht Stillstand", schimpft er und unterstreicht: "Gerade nach dem Tunnel gibt es keine Sicherheit, egal was mit der Bodenwelle passiert."

Premierensieger Vettel findet, dass es den Fahrern obliegt, "sich zu verteidigen und zu sagen: 'Hört her, wir brauchen dies und das, hier mehr Auslaufzonen und dies und jenes sollte das Ziel sein.'" Doch unter seinen Kollegen gibt es für diese Sicherheitsbedenken nicht nur Befürworter: "Unfälle gehören dazu", winkt etwa Fernando Alonso ab. "Dieser Sport ist gefährlich und das ist uns auch bewusst. Weil Autos und Rennstrecken sehr sicher sind, vergessen wir das aber recht häufig."

Michael Schumacher gehört auch mit 42 Jahren und als zweifacher Familienvater noch zu den Cowboys im Feld. Als eines der wenigen Mitglieder der Fahrergewerkschaft GPDA soll er gegen ein generelles DRS-Verbot gestimmt haben. Beim Perez-Unfall hielt aber auch er den Atem an: "Es ist gut, dass sich die FIA dementsprechend angestrengt hat, diese Seitenaufpralltests oder Crashtests überhaupt einzuführen. Das hat sich sehr bezahlt gemacht", lobt er.


Fotos: Großer Preis von Monaco, Sonntag


"Es war natürlich ein heftiger Einschlag, doch früher wären andere Konsequenzen daraus entstanden", vermutet der fünffache Monaco-Sieger. "Auch die Streckensicherheit und die Umstände hier muss man loben. Es war ein Fahrfehler, der dazu geführt hat. Ob man da jetzt andere Dinge kritisieren oder die positiven Seiten wie Auslaufzonen oder Crashtests, die sich verbessert haben, hervorheben sollte, bleibt jedem selbst überlassen."

Brawn lobt Arbeit der FIA

Sein Teamchef bei Mercedes sieht das nicht anders: "Wir dürfen nie selbstzufrieden werden und glauben, dass die Autos sicher genug sind, aber ich glaube, dass die Arbeit der Teams und der FIA nach den Unfällen von Jenson und Wendlinger Früchte getragen hat", sagt Brawn und begründet: "Wenn ein Fahrer nach so einem Unfall nur eine Gehirnerschütterung und ein paar blaue Flecken hat, dann kann die Formel 1 stolz darauf sein."

Doch Sicherheitsmaßnahmen im Falle eines Abflugs und Unfallprävention sind zwei verschiedene Dinge. Am vergangenen Wochenende kam unter anderem die Theorie auf, dass die Bodenwelle am Tunnelausgang durch die Wiedereinführung von KERS zusätzlich verschärft worden sein konnte. Bekanntlich zweigt KERS zum Aufladen der Batterien Energie von den Hinterrädern ab. Wenn dieser Effekt beim Bremsen aktiviert wird, kann dies kurzzeitig zu einer Störung der Bremsbalance führen.

Einen solchen KERS-Ausritt hat es dieses Jahr in Freien Trainings schon das eine oder andere Mal gegeben - nur eben mit ausreichenden Auslaufzonen. Doch Button glaubt nicht, dass dieses Argument ein valides ist: "Ich denke nicht, dass man es auf KERS schieben kann", relativiert er. "Über viele Jahre hinweg konnte man an dieser Stelle blockierende Hinterräder sehen. KERS ist keine Hilfe, aber sicher nicht das große Problem."

Michele Alboreto

Michele Alboreto hat seinen Ferrari im Training 1987 übel zerlegt Zoom

Elektronik ganz anderer Art war früher aber dabei hilfreich, die Herausforderungen von Monaco gefahrloser zu meistern als heute: "In den frühen 2000er-Jahren", erinnert sich Vorjahressieger Mark Webber, "hatten wir zum Beispiel noch Fahrzeuge mit Motorbremse und verschiedenen Elektronikprogrammen, die modern gehalten und eine Hilfe beim Vermeiden blockierender Hinterräder waren. Jetzt sind die Autos in vielerlei Hinsicht etwas einfacher."

Einfach der Wahnsinn oder einfach nur wahnsinnig? Unsere Leser scheinen dazu eine klare Meinung zu haben: Für 54,35 Prozent ist Monaco "das größte und tollste Spektakel im Motorsport". 15,56 Prozent bewerten den Klassiker neutral als "Autorennen wie jedes andere", während 30,09 Prozent finden, die Strecke sei "nicht zeitgemäß, gefährlich, überflüssig". Insgesamt wurden im Rahmen unseres Online-Votings knapp 3.000 Stimmen abgegeben.