• 01.02.2015 09:47

Mercedes-Technikchef Paddy Lowe: Der Teufel steckt im Detail

Paddy Lowe erklärt, warum die neuen Formel-1-Autos ihren Vorgängern optisch extrem ähnlich sind - Die wichtigsten Neuerungen stecken unter der Haube

(Motorsport-Total.com) - Schaut man sich die Formel-1-Autos der Saison 2015 an, dann fallen einem zuerst die neuen Nasen auf. Danach muss man die Änderungen in den meisten Fällen aber schon mit der Lupe suchen. Mercedes-Technikchef Paddy Lowe erklärt im Interview, warum der W06 und die anderen neuen Rennwagen aber trotzdem einige Neuerungen mit sich bringen. Außerdem spricht er über die Ziele der Silberpfeile und die größten Herausforderungen der neuen Saison 2015.

Titel-Bild zur News: Paddy Lowe

Technikchef Paddy Lowe erklärt, warum es 2015 optisch kaum Änderungen gibt Zoom

Frage: "Welche Lehren habt ihr aus der Saison 2014 gezogen?"
Paddy Lowe: "Es ist kein Geheimnis, dass uns die Zuverlässigkeit 2014 einige Male im Stich gelassen hat. Glücklicherweise war dies im Verlauf der Saison nicht unausgeglichen zwischen den beiden Fahrern verteilt und vereitelte uns auch nicht unsere Ziele in der Konstrukteurs-Weltmeisterschaft."

"Uns ist jedoch bewusst, dass wir uns verbessern müssen. Egal wie gut es aktuell zu sein scheint, man darf niemals Punkte liegen lassen. Es braucht Zeit, um ein Auto zuverlässig zu machen und wir haben viele Anstrengungen in diesem Bereich unternommen. Es geht nicht darum, einzelne Probleme zu beheben. Vielmehr kommt es darauf an, die Qualität über viele tausende von Teilen und Prozessen anzuheben."

Frage: "Bei der Zuverlässigkeit wird nun auch von den Getrieben eine höhere Haltbarkeit verlangt. Wie schwierig ist das umzusetzen?"
Lowe: "Im ersten Jahr der neuen Hybrid-Formel gab es zwei nennenswerte Aspekte beim Reglement für das Getriebe. Zunächst gab es einen 'Joker'. Dieser erlaubte es den Teams, einmal im Jahr ihr Getriebeübersetzungsverhältnis zu verändern. Das geht nun nicht mehr. Die Teams müssen ihr Übersetzungsverhältnis jetzt also vor Melbourne für die gesamte Saison festlegen."

"2014 haben viele Teams den 'Joker' gezogen, um dadurch Performancegewinne zu erzielen und nicht um ihn als Versicherungspolice zu verwenden - also kürzere Gänge bis Monza zu verwenden und dann für den Rest der Saison ein längeres Übersetzungsverhältnis zu wählen. Das wird in diesem Jahr aber kein Problem darstellen. Die Teams sind nun mit ihren Power Units vertraut und können das Übersetzungsverhältnis für die Saison mit ausreichender Gewissheit wählen."

"Es braucht Zeit, um ein Auto zuverlässig zu machen und wir haben viele Anstrengungen in diesem Bereich unternommen." Paddy Lowe

"Die größere Veränderung ist jedoch, dass die Teams bislang fünf Gelegenheiten pro Fahrer und Saison hatten, um Teile der Übersetzung zu erneuern. Dies bedeutete, dass Komponenten zur Hälfte des Lebenszyklus von sechs Rennen pro Getriebe getauscht werden konnten. Diese Option ist nun nicht mehr vorhanden und stellt eine viel größere Veränderung dar. Die Teams müssen nun Getriebekomponenten entwickeln, die tatsächlich sechs Renndistanzen überstehen. Das war eines der größten Hindernisse, die es im Winter zu bewältigen gab."

Frage: "Die optisch offensichtlichste Veränderung betrifft die Form der Fahrzeugnase. Was steckt dahinter und was hat sich sonst am F1 W06 Hybrid verändert?"
Lowe: "Es wird weitläufig angenommen, dass die Regeln für die Fahrzeugnase aus ästhetischen Gründen geändert wurden. Doch das ist an sich irreführend. Der Hauptgrund für die Änderung war, die eigentliche Höhe zu erzielen, die bei der Einführung der Regeln 2014 vorgesehen war. Diese wurde in der vergangenen Saison mehr oder weniger von jedem Team umgangen, da das Regelwerk nicht eng genug gestrickt war."


Präsentation des Mercedes F1 W06 Hybrid

"Die Regeln haben die Sicherheit im Sinn. Sie sollen eine Vereinbarkeit mit den vielen verschiedenen Einschlägen bieten, die Formel 1-Autos haben können. Ein Beispiel dafür wäre ein Kontakt zwischen der Nase und einem Hinterreifen. Dies haben wir gesehen, als Mark Webber vor einigen Jahren in Valencia in die Luft katapultiert wurde. Die benötigte Nasenhöhe wurde dadurch erzielt, dass eine Reihe an zusätzlichen Auflagen für den vorderen Bereich der Fahrzeugnase eingeführt wurde."

"Ein Nebenprodukt dessen ist das Verschwinden einiger weniger glücklich aussehender Designs aus der Saison 2014. Unsere Fahrzeugnase war 2014 eine der kürzesten im Feld und zumindest meiner Meinung nach auch eine der schönsten. So bleibt es auch 2015, wobei sie etwas niedriger ist, um dem neuen Reglement zu entsprechen. Das Grundkonzept sieht vor, die Nase so kurz wie möglich zu halten."

"Unsere Fahrzeugnase war 2014 eine der kürzesten im Feld und zumindest meiner Meinung nach auch eine der schönsten." Paddy Lowe

"Der Hauptteil des Flügels soll so weit vorne wie möglich sein. Dies sieht am Verbindungspunkt des Flügels zu den Säulen so ähnlich aus, als ob sich die Fingernägel hineinkrallen würden. Die Tests zur Steifigkeit des Frontflügels bringen uns bis an die Grenzen der Ingenieurskunst, besonders im Zusammenspiel mit den Anforderungen des Frontalaufpralltests."

"Die weiteren optisch ersichtlichen Unterschiede betreffen unter anderem den Heckflügel. Dieser weist nun aus strukturellen und aerodynamischen Gründen eine Konfiguration mit einem zentralen Pylon auf. Eine weitere Änderung ist an der externen Vorderradaufhängung zu erkennen. Diese stellt eine noch extremere Version unseres im vergangenen Jahr eingeführten innovativen Konzepts dar."

Frage: "Und unter der Haube?"
Lowe: "Eine der größten Herausforderungen der neuen Power Units war 2014 die Kühlung. Das galt besonders für die Ladeluftkühlung, die ein wichtiges neues Element darstellte. Im zweiten Evolutionsjahr konnten wir den Analyseprozess durchlaufen und durch eine optimierte Lösung mehr Performance gewinnen. Das Ziel war es, mit Blick auf die komplette Temperaturpalette der gesamten Saison die beste Nettoperformance zu erzielen."


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"Ein weiteres Gesprächsthema unter Technikern war im vergangenen Jahr das Verbot von FRIC. Dieses wurde rasch und unerwartet eingeführt. Das Aufhängungskonzept des W05 wurde rund um das FRIC-System entwickelt. Das Aufhängungssystem des W06 wurde von Beginn an ohne FRIC entworfen. Dadurch entstanden Möglichkeiten zur Optimierung in diesem Bereich."

Frage: "Das Gewicht war für alle Teams und vor allem die Fahrer eine wichtige Größe in der Saison 2014. Wie wird sich das 2015 verändern?"
Lowe: "Als das Reglement für die neue Power Unit Generation geschrieben wurde, war es recht schwierig vorherzusagen, welches Gewicht nötig sein würde, um die neuen Systeme in das Auto zu integrieren. Die gewählte Zahl war recht aggressiv. Das wurde umso deutlicher, je näher die Saison rückte."

"Einige Teams waren mit dem bisherigen Limit zufrieden, andere sahen es als sehr herausfordernd an. Die Erhöhung um 10 kg wurde nur durch einen Mehrheitsbeschluss eingeführt. Deshalb gab es eine Frist, bevor die Regel 2015 eingeführt wurde. Zudem sind die 2015er Reifen rund ein Kilo schwerer als im vergangenen Jahr. Der Grund dafür sind Verbesserungen an der Konstruktion der Hinterreifen. Das Gewichtslimit beträgt somit 702 kg - eine Erhöhung um insgesamt 11 kg."

"Wie immer ist es eine Frage dessen, wie man das zusätzliche Gewicht am besten für eine Performancesteigerung einsetzt. Es ist nicht unbedingt eine Gelegenheit für die Fahrer, um mehr Kuchen zu essen! Gewichtsersparnis war schon immer ein zentraler Aspekt in unserem Sport. Es geht um die Entwicklung effizienter Strukturen, die leichter, aber gleichzeitig auch stärker und aerodynamisch vorteilhafter sind. Wir haben viel Arbeit hineingesteckt, um diese wenigen Prozentpunkte bei jeder einzelnen Komponente zu finden."

Frage: "Kommen wir zur Sicherheit. Für diese Saison wurden weitere Veränderungen eingeführt, um die Sicherheit der Fahrer zu verbessern. Welche sind das?"
Lowe: "Zunächst wurde der Eindringungsschutz aus Zylon an beiden Seiten der Überlebenszelle bis zum Cockpitrand nach oben und entlang des Fahrerkopfes verlängert. In diesem Bereich wurde Potential für eine Verstärkung des Schutzes im Vergleich zur Vergangenheit ausgemacht. Diese Änderung trägt dem Sorge. Bei bestimmten Zwischenfällen wird sich dies als vorteilhaft für die Sicherheit des Fahrers erweisen."


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"Eine weitere Sicherheitsverbesserung ist die Einführung des Virtual-Safety-Car-Systems. Dieses soll sicherstellen, dass die Fahrer bei bestimmten Bedingungen ausreichend verlangsamen. Das System wurde gegen Ende der vergangenen Saison erfolgreich in mehreren Freien Trainings ausprobiert. 2015 wird es nun offiziell eingeführt. Es kann zur Neutralisierung eines Rennens genutzt werden, ohne das Safety-Car auf die Strecke zu schicken."

"Stattdessen wird eine Geschwindigkeitsvorgabe erzwungen, an die sich die Fahrer halten müssen. Auf diese Weise wird eines der Probleme bei geschwenkten gelben Flaggen behoben. Von den Fahrern wird bei solchen Bedingungen erwartet, dass sie bedeutend langsamer fahren. Deshalb achten die Rennkommissare genau darauf, ob die Fahrer genügend vom Gas gegangen sind."

"Dabei lässt sich jedoch darüber streiten, was genau 'lupfen' bedeutet. Dies kann sehr gering sein und nur eine kleine Verringerung der Geschwindigkeit nach sich ziehen. Rennfahrer tendieren stets dazu, die Grenzen auszuloten. Deshalb ist das VSC ein guter Mechanismus, um diese Zwischenfälle in Mittelbereichen zu kontrollieren. Es ist viel sicherer, den Fahrer dazu zu zwingen, deutlich innerhalb der Grenzen des Fahrzeugs zu bleiben."

Frage: "Was sind ansonsten 2015 die größten Herausforderungen für euch?"
Lowe: "Aus unserer Sicht ist es der Schlüssel, Selbstzufriedenheit zu vermeiden. Die Erwartungen sind hoch. Es werden viele Vermutungen über unser Potential in dieser Saison angestellt. Intern wissen wir aber genau, dass man sich in keinem Sport Stillstand erlauben kann, ganz besonders nicht in der Formel 1. Wir treten gegen Konkurrenten mit einer reichhaltigen Geschichte voller Erfolge an. Sie werden, wie wir, nicht ruhen, bis sie gewinnen. Ein altes Motorsportsprichwort besagt: 'Du bist immer nur so gut wie dein letztes Rennen.'"


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"Vor einem Jahr war die neue Hybrid-Technologie noch nicht auf der Strecke im Einsatz. Zu dieser Zeit des Jahres fuhren wir für einen Filmtag nach Silverstone und waren dabei wirklich überrascht, dass das Auto überhaupt aus der Box kam! Beim zweiten Anlauf mögen wir die ursprünglichen Hürden der neuen Formel hinter uns gelassen haben. Aber wir behalten sie frisch im Hinterkopf. Denn es zeigt, dass man nichts als selbstverständlich ansehen darf. Nur eins liegt in unserer Macht: In jedem Bereich unser Bestes zu geben."

"Man muss Risiken eingehen, um sich zu verbessern." Paddy Lowe

"Natürlich haben wir, wie alle anderen Teams auch, härter denn je daran gearbeitet, Bereiche für Performancesteigerungen auszumachen. Aber gleichzeitig müssen wir sicherstellen, dass wir uns auf dem richtigen Weg befinden. Eines der Risiken bei der Fahrzeugentwicklung ist, dass man beim Versuch Fortschritte zu erzielen, auch leicht Rückschritte machen kann. Man muss Risiken eingehen, um sich zu verbessern. Aber diese Risiken müssen vorsichtig abgewogen werden. Nur so kann man ein Auto entwickeln, das besser ist als das Vorgängermodell. Dies war eines der Hauptthemen des Teams über den Winter."

Frage: "Wie unterscheiden sich die neuen Formel-1-Autos von ihren Vorgängern?"
Lowe: "Wir sprechen von einem Evolutionsprozess, der auch das Reglement an sich beinhaltet. Im Vergleich zum letzten Winter blieben die Regeln 2015 relativ stabil. Das bedeutet aber gewiss nicht, dass die Autos, die wir in Jerez sehen, nahezu identische Nachbildungen ihrer Vorgänger sind. Einige Veränderungen werden natürlich optisch leichter zu erkennen sein als andere. Aber der Teufel steckt nun einmal im Detail."


Fotostrecke: Mercedes W06 vs. Mercedes W05

"Unter der Haube gab es eine Reihe an Weiterentwicklungen - sowohl am Chassis als auch an der Power Unit. Das Ziel dabei war immer, ein sichereres, effizienteres, zuverlässigeres und letztlich schnelleres Auto zu bauen. Die Hybrid-Ära steckt noch immer in ihren Kinderschuhen. Umso mehr Spielraum gibt es für Innovationen. Die Herausforderung im Moment lautet, die Schlüsselbereiche für Performancesteigerungen zu entdecken. Allerdings nicht nur auf Basis der Lehren des vergangenen Jahres, sondern auch mit Blick auf neue und innovative Quellen für Wettbewerbsvorteile."