• 15.07.2014 16:30

  • von Gary Anderson (Haymarket)

"Eine Frage, Mister Anderson!": Ein Experte erklärt die Technik

Formel-1-Technikexperte Gary Anderson spricht über die Gründe des FRIC-Verbots, Hoffnungsschimmer für Renault und Ferrari sowie angeblasene Diffusoren am Jordan

(Motorsport-Total.com) - Die neue Formel-1-Saison wird nach der großen Reglementnovelle dominiert von Technikfragen. Haben Renault und Ferrari noch Aufholchancen und was wäre mit 18-Zoll-Reifen besser? Gary Anderson, früher Chefmechaniker bei McLaren, Designer bei Jordan, Stewart sowie Jaguar und heute TV-Experte der 'BBC' erklärt heute, warum die FRIC-Aufhängung plötzlich auf der Abschussliste steht und warum schon der 1991er Jordan einen angeblasenen Diffusor hatte.

Titel-Bild zur News: Gary Anderson, Rubens Barrichello, David Coulthard

Gary Anderson kennt sich in der aktuellen Formel 1 immer noch bestens aus Zoom

Ben Smith (E-Mail): "Stimmst du zu, dass FRIC illegal ist? Und wenn ja, warum hat es so lange gedauert, bis das jemand entschieden hat?"
Gary Anderson: "Es ist nicht meine Aufgabe, zu entscheiden, ob etwas legal oder illegal ist. Die FIA hat alle nötigen Informationen, wie jedes Team mit dem System umgeht, und hat entschieden, dass es der richtige Zeitpunkt sei, einzugreifen."

"Systeme, die die vordere und hintere Aufhängung verbinden - selbst diagonal - existieren schon, seit ich vor über 40 Jahren in der Formel 1 begonnen habe. Damals waren es im Grunde mechanische Kabel, die, wenn die Front des Autos beim Bremsen herunterging, das Heck ebenfalls heruntergezogen haben, um die Änderung des Fahrverhaltens zu reduzieren, das durch den Gewichtstransfer verursacht wurde."

"Der Grund, warum die FIA mit dem Einschreiten so lange gebraucht hat, liegt wohl darin, dass die Systeme mit den Jahren immer komplizierter wurden. Mittlerweile erlaubt FRIC den Teams, Unterboden- und Frontflügelaerodynamik-Charakteristiken zu schaffen, die ansonsten zu sensibel auf die Höhe reagieren würden."

"Wenn das der Fall ist, dann hat FRIC einen aerodynamischen Einfluss. Daher ist es richtig, es zu verbieten. Ansonsten könnte man auch gleich Nägel mit Köpfen machen und aktive Aufhängungen erlauben. Wartet mal eine Minute: Ist es nicht das, was die FIA sowieso vorschlägt? Verwirrt? Das bin auch ich."


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Silviu Jr (Twitter): "Welche anderen Aufhängungssysteme stehen den Teams neben FRIC noch zur Verfügung? Sind sie gezwungen, auf separate Subsysteme an der Vorder- und Hinterachse zurückzugehen?"
Anderson: "In den Regeln ist es schwierig zu sehen, was sonst getan werden kann. Das Auto muss eine unabhängige Federaufhängung besitzen, aber es kann vorne und hinten auch Querstreben haben, die die zwei Seiten verbinden. Diese sind mechanisch, daher schätze ich, dass ein mechanisch verbundenes Front-zu-Heck-System dem Wortlaut des Gesetzes folgt."

"Wenn man das ein wenig weitertreibt, dann besitzen die Dämpfer an jeder Ecke des Autos ein Ausgleichsgefäß, und es gibt nichts, was eines der Gefäße davon abhält, zwei oder sogar vier Dämpfer zu bedienen. Ich denke, die FIA versucht einfach, diese Systeme zurückzuhalten. FRIC wurde zuletzt unglaublich kompliziert und ändert das Verhalten des lastbedingten Programms des Autos. Das ändert sich, je nachdem wie das Auto die aerodynamische Last verteilt. Da die Teams das je nach Fahrzeughöhe und Belastung verändern können, ist es ein bewegliches aerodynamisches Hilfsmittel."

Schon "Schumis" Jordan mit angeblasenem Diffusor

Karun Chandhok (Twitter): "Beim Goodwood Festival of Speed hatte ich einen guten Blick auf den Jordan 191 und habe dort die Auspuff-Auslässe bemerkt. War das als "angeblasener Diffusor" gedacht?
Anderson: "Karun, schön von dir zu hören. Ja, es war ein vollständig angeblasener Diffusor. Wir haben uns darauf konzentriert, das Auto fahrerfreundlich zu machen. In unserer ersten Formel-1-Saison bei Jordan mussten wir um acht Uhr am Freitagmorgen zur Vorqualifikation. Es gab acht Autos, die richtig um vier Plätze im Qualifying gekämpft haben, und wenn man es nicht geschafft hat, ist man nach Hause gefahren."

"Danach haben 30 Autos um 26 Plätze gekämpft. Das heißt, man konnte also auch am Samstagabend noch heimfahren. Das letzte, was wir gebraucht haben, war ein Auto, das zu kompliziert war, um das Beste daraus zu holen. Wir haben uns daher darauf fokussiert, die aerodynamische Sensibilität zu niedrig wie möglich zu halten."

Bertrand Gachot

Der Jordan 1991 wies schon ungeahnte Technologie auf Zoom

"Wenn das Auto gebremst hat, dann hat sich die Höhe der Nase durch die Gewichtsverlagerung natürlich verringert, während das Heck nach oben ging. Wenn die Stellung des Wagens so war, dann haben wir uns darauf konzentriert, die aerodynamischen Kräfte zum Heck zu schieben. Das wurde durch die Form des Diffusors sowie den Frontflügel kontrolliert."

"Beim Beschleunigen passiert das Gegenteil. Das Heck wird niedriger und die Front wird höher. Mit derselben Aerodynamik-Charakteristik würden wir Abtrieb an der Vorderachse gewinnen und an der Hinterachse verlieren. Aber mit dem angeblasenen Diffusor hat sich der Abtrieb am Heck erhöht und war der Traktion am Kurvenausgang zuträglich. Das zeigt, dass nichts neu ist - nicht einmal der angeblasene Diffusor!"

Mack Murphy (Twitter): "Warum ist die Formel 1 nicht bereits 18-Zoll-Räder gefahren? Jede andere Serie hat größere Räder..."
Anderson: "Darüber wurde schon viele Jahre gesprochen, und dieselben alten Verzögerungstaktiken der Teams verhindern den Fortschritt. Das wird die Charakteristik des Autos verändern, es gibt direktere Rückmeldung beim Input von Lenkung, Bremsen und Traktion. Aber wie die Autos der Langstrecken-Weltmeisterschaft (WEC) uns gezeigt haben, ist nichts unüberwindlich."

"Ich persönlich mag den Look davon. Wenn Ästhetik und Auto-Anforderungen betroffen sind, dann würde ich 19 Zoll vorne und 18 Zoll hinten vorschlagen. Gleichzeitig würde ich auch breitere Hinterreifen vorschlagen, die vielleicht drei Zoll zunehmen. Dazu sollte man den Abtrieb um 50 Prozent reduzieren, DRS verbieten - und dann würden wir definitiv echten Rennsport sehen."

Gefahrenpunkt Elektroantrieb

"Denkt bitte nicht, dass ich den aktuellen Rennsport kritisiere. Ich denke, er ist großartig, aber wir müssen nach vorne schauen und für die Zukunft planen. Den Einfluss der Aerodynamik reduzieren und den Grip der Reifen erhöhen, wäre der richtige Weg. Alle Teams können von dem zusätzlichen Reifengrip profitieren - nicht nur die Teams, die weitere Millionen für die Entwicklung der Aerodynamik übrig haben."

Matt Clark (Facebook): "Was hält die Teams davon ab, die MGU-K als Startermotor zu verwenden, sodass sich die Autos von alleine starten lassen und in der Boxengasse theoretisch ohne Benzinmotor laufen könnten?"
Anderson: "Das war eine der ursprünglichen Ideen, als die Regeln geschrieben wurden. Das wurde aus irgendeinem Grund aber genauso fallengelassen, wie die Idee, dass die Autos in der Boxengasse nur mit Elektroantrieb fahren dürfen."

"Das Starten eines Formel-1-Autos ist nicht so einfach, dass man einfach nur auf den Startknopf drückt. Ich bin mir sicher, dass Vor- und Nachteile abgewägt und eine geeignete Entscheidung getroffen wurde. Vielleicht kommt das aber in einiger Zeit zurück. Für mich wäre das keine schlechte Idee, solange es funktioniert - und das konstant."


Fotos: Testfahrten in Silverstone


"Bei dem Thema Elektroantrieb in der Boxengasse kann ich akzeptieren, dass es fallengelassen wurde, nachdem ich an einer Ladestation fast von einem Toyota Prius überfahren worden wäre. Man stelle sich einen Formel-1-Boliden mit Boxengassengeschwindigkeit ohne nennenswerten Sound vor. Das wäre vielleicht ein wenig gefährlich."

Simon Roffey (E-Mail): "Warum sind die Motorenregeln so festgezurrt? Warum sagt man den Herstellern nicht einfach: Die Größe ist 1,6 Liter, Benzinvermögen 100 Kilogramm, maximaler Benzinfluss 100 Kilogramm pro Stunde - und lässt den Rest offen? Man sieht in der LMP1, wie viele verschiedene Lösungen wir haben könnten. Wir wissen doch, dass alle so viel für die Entwicklung der Motoren ausgegeben haben - egal wie die Regeln sind."
Anderson: "Viele Leute haben diese Frage gestellt, aber die Regeln versuchen die Kosten niedrig zu halten, indem man das Risiko minimiert, dass jemand einen Vorteil hat und die anderen versuchen müssen, durch ein neues Design der Aggregate aufzuholen."

Noch Chancen für Renault?

"Aber wartet mal eine Minute. Ist das nicht genau das, was mit den neuen Regeln passiert ist? Das zeigt: Egal, wie die Regeln aussehen, wenn du es vermasselt hast, dann kostet es Geld, um da wieder herauszukommen. Bei den LMP1-Regeln gibt es enorme Unterschiede, je nachdem ob es ein Benzin- oder Dieselmotor ist, wie viele Räder angetrieben werden und wie viel Power man erntet. Da verschiedene Autos verschiedene Gewichte und Benzinkapazitäten haben und man die Performance ausgleichen möchte, ist es ein bisschen zu kompliziert, bringt aber guten Rennsport."

Amedeo Ramone Felix (Facebook): "Glaubst du, dass Ferrari und Renault trotz der Homologation auf Mercedes aufholen oder sie überholen können mit der Gesamtperformance? Und warum konnte Renault die Performance durch Verbesserung der Zuverlässigkeit erhöhen - und warum sprechen sie und Ferrari davon, als ob das unmöglich sei?"
Anderson: "Bei den V8-Motoren wurde die Entwicklung der Hauptstruktur des Motors eingefroren. Hatte ein Hersteller ein Problem mit der Zuverlässigkeit und konnte die FIA davon überzeugen, dass es nur um Zuverlässigkeit geht, dann durften sie neu designen, neu entwickeln und eine neue Komponente anbauen."

"Manchmal besteht nur ein schmaler Grat zwischen Zuverlässigkeit und Performance, aber zwischen 2010 und 2013 haben wir Motoren gesehen, die im Grunde alle gleich waren. Und wir haben eine Formel gesehen, in der es um Teams und Performance ging - und nicht wie derzeit um den Motor. Bei den aktuellen Regeln wurden die Motoren vor der Saison homologiert. Die Hardware ist für 2014 eingefroren, nur externe Entwicklungen sind erlaubt - plus die verschiedenen Power-In- und -Outputs und wie die Motoren kontrolliert werden."

Sebastian Vettel

Gary Anderson sieht für Sebastian Vettel & Co. noch nichts verloren Zoom

"2015 hat jedes Team die gleiche Möglichkeit, Komponenten in der Power Unit zu entwickeln oder zu verändern. Die Regularien listen alle einflussreichen Komponenten auf und erlauben jedem Hersteller, einen bestimmten Prozentsatz dieser Komponenten zu verändern. Dieser Prozentsatz wird von Jahr zu Jahr verringert. Für 2015 gibt es daher keinen Grund, warum Ferrari und Renault nicht aufholen oder sogar vorausziehen könnten."