• 19.06.2012 20:30

Brawn: "Haben einige Male daneben gegriffen"

Ross Brawn spricht Klartext: Warum Rosberg dieses Jahr Weltmeister werden kann, was bei "Schumi" in Kanada schieflief und wieso vor allem Mercedes mit den Reifen hadert

(Motorsport-Total.com) - Bisher erlebt Ross Brawn mit seinem Mercedes-Team eine Saison der Widersprüche. Während Nico Rosberg im Titelrennen und seit einigen Rennen zu den erfolgreichsten Piloten zählt, läuft bei Michael Schumacher aufgrund technischer Probleme kaum etwas zusammen. Auch der Saisonverlauf bietet Licht und Schatten: Nach den ersten Rennen, wo man chancenlos war, präsentiert sich die Truppe aus Brackley seit Rosbergs Debütsieg in Schanghai durchaus konkurrenzfähig. Im Interview gibt der Teamchef Antworten auf die zahlreichen offenen Fragen bei Mercedes und zieht eine erste Bilanz.

Titel-Bild zur News: Ross Brawn (Mercedes-Teamchef)

Mercedes-Teamchef Ross Brawn zieht eine durchwachsene Bilanz

Frage: "Ross, sieben Sieger in sieben Rennen - wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir in Valencia den achten Sieger erleben?"
Ross Brawn: "Sieben Sieger in sieben Rennen - das ist eine unglaubliche Saison, das hat es noch nie gegeben. Wenn man sich die sieben Sieger aber anschaut, dann fällt auf, dass sie alle Topfahrer sind. Ich denke, dass die Möglichkeit absolut besteht, dass wir in Valencia den achten Sieger haben werden. Es gibt einige sehr schnelle Fahrer in sehr schnellen Autos, die noch kein Rennen gewonnen haben. Ich denke dabei vor allem an Michael in unserem Auto. Der Lotus ist ein sehr gutes Auto, sie haben noch nicht gewonnen, Sauber hatte ein paar tolle Ergebnisse, und sie haben auch noch nicht gewonnen. Die Wahrscheinlichkeit ist also groß, und das wäre großartig."

Frage: "Wie würdest du die bisherige Saison des Teams bewerten?"
Brawn: "Ich würde sagen, dass wir viel mehr Potenzial als in den vergangenen zwei Jahren gezeigt haben - wir haben es aber noch nicht so recht umgesetzt. Es stehen aber noch viele Rennen vor uns. Ich bin mit der Performance des Autos zufrieden, denn wir haben ein Rennen gewonnen und kamen in Monaco auf Platz zwei. Das Auto war fast immer unter den Top-6-Boliden im Qualifying, daher denke ich, dass es dieses Jahr viel konkurrenzfähiger ist. Wir haben dieses System aber noch nicht so recht zusammengefügt und bei einigen Rennen danebengegriffen und nicht das Maximum herausgeholt. Ich habe nun für die restliche Saison die Absicht, dass wir als Team unser Potenzial umsetzen, denn es ist viel größer als in den vergangenen Jahren."

Frage: "Unter welchem konkreten Problem litt Michael in Kanada?"
Brawn: "Es handelte sich um eine Hydraulikverbindung. Wir verwenden sie, damit wir Teile schnell austauschen können. Darin ist ein Verschlusssystem enthalten, das aber kaputt ging, und dadurch hielt die Verbindung nicht. Dieses Problem hatten wir noch nie, und wir werden das Design ändern, um sicherzustellen, dass die Wahrscheinlichkeit eines erneuten Auftretens geringer ist. Grundsätzlich handelt es sich aber um ein sehr ausgereiftes Teil, daher ist es besonders frustrierend, dass dadurch so ein Problem auftritt."

"Grundsätzlich handelt es sich bei Michaels Defekt um ein sehr ausgereiftes Teil, daher ist es besonders frustrierend." Ross Brawn

Frage: "Wie erklärst du dir die mangelnde Haltbarkeit bei Michaels Auto?"
Brawn: "Die Zuverlässigkeitsmängel sorgen bei allen für enormen Frust, denn wir haben sehr hohe Standards, und wir haben auch unsere Abläufe und unsere Herangehensweise nicht geändert. Wir haben auch keine Abkürzungen genommen, und das System auf irgendeine Art und Weise schleifen lassen. Ich glaube auch nicht wirklich an das Schicksal, daher ist es sehr komisch, dass ein Auto jede Runde in jedem Rennen absolviert hat, während wir bei Michael drei oder vier Probleme hatten. Wir bemühen uns ständig darum, unsere Arbeitsweise zu verbessern, und jedes Problem, das wir bisher hatten, hat uns gelehrt, wie wir uns verbessern können."

Frage: "Inwiefern hat sich das Team im Umgang mit den Pirelli-Reifen verbessert?"
Brawn: "Die Pirelli-Reifen waren dieses Jahr ein ziemliches Rätsel. Das Verständnis wird aber definitiv größer. Wenn man aber ein Problem zu verstehen beginnt, dann muss man sich auf die Suche nach einer Lösung begeben - und das ist nicht immer leicht. Es gibt Teams, die bei Rennen mit ihren Autos attackieren können, ohne viel über die Reifen nachdenken zu müssen, weil sie die Reifen nicht so hart rannehmen. Andere Autos nehmen die Reifen hart ran und leiden daher unter Problemen. Es passiert sogar, dass in einem Team ein Fahrer leidet und der andere nicht."

"Diese Grenze ist sehr fein - und wenn man sie überschreitet, dann baut der Reifen ab. Wir haben uns im Vergleich zum Anfang des Jahres ganz klar verbessert - in Australien hatten wir noch ganz andere Probleme. Wir haben unser Verständnis, unsere Techniken und unsere Technologie verbessert - wir haben ein paar neue Teile in Valencia am Auto, die dazu gedacht sind, die Reifen effektiver zu nutzen. Das ist eben die Herausforderung des Jahres - deswegen hatten wir dieses Jahr auch so unterschiedliche Ergebnisse."

Frage: "Was sind in diesem Prozess die Schlüsselelemente?"
Brawn: "Der Schlüssel für das Verständnis der Reifen ist das Temperatur-Management - dabei geht es darum, die Reifen entweder warm oder kühl genug zu halten, denn die Reifen funktionieren in einem gewissen Temperaturbereich. Wenn man sich auf der einen Seite befindet und der Reifen zu kalt ist, dann hat man keinen Grip, wenn man sich auf der anderen Seite befindet und der Reifen zu heiß wird, dann verschlechtert sich sein Zustand rasch."

"Es klingt einfach, denn man muss den Reifen nur in diesem Temperaturbereich halten. Das Auto hat aber zu Beginn 150 Kilogramm Sprit an Bord, am Ende sind es null Kilo. Man hat vier Reifen am Auto, und wenn man um den Kurs fährt, dann erhitzen sie sich wegen der Kurven verschiedenartig. Es geht also darum, dieses komplexe Puzzle zu lösen - während des Qualifyings, das sich grundlegend vom Rennen unterscheidet, und dann im Rennen, um die maximale Performance zu erhalten. Grundsätzlich dreht sich aber alles um die Temperatur."

Frage: "Nico liegt in der Weltmeisterschaft auf Platz fünf. Was darf er sich ausrechnen?"
Brawn: "Wir - das Team und die Fahrer - hoffen darauf, WM-Titel zu gewinnen, das ist unser Ziel. Wir müssen uns jede Saison diesem Ziel annähern. Jedes Jahr versuchen wir, die Weltmeisterschaft zu gewinnen. Das ist aber nicht für jedes Team möglich, denn nur einer kann es schaffen, aber es ist unser Ziel. Wenn wir es nicht schaffen, dieses Ziel zu erreichen, müssen wir uns fragen, woran wir gescheitert sind."

"Es gibt keinen Grund, warum wir nicht Weltmeister werden sollten." Ross Brawn

"In den vergangenen Jahren haben wir das Team tiefgreifend reorganisiert und gestärkt, um dieses Ziel zu erreichen. Nico fährt sehr gut, und das Auto ist extrem konkurrenzfähig - und Nico fehlt nur ein Sieg zur WM-Führung. Wir müssen kämpfen, mit allem was wir haben, um die bestmöglichen Ergebnisse zu erreichen, und dann schauen wir, was passiert. Es gibt aber keinen Grund, warum wir es nicht schaffen sollten."

Frage: "Was sind deine Erwartungen für Valencia?"
Brawn: "In Anbetracht der Reifensituation sind Prognosen, wo man steht, sehr schwierig. Man muss dort sein und sehen, wie das Auto auf den Reifen reagiert, wie sich das Auto verhält, welche Reifentemperatur man auf Anhieb generiert. Ich rechne aber damit, dass Valencia für uns eine recht gute Strecke sein wird und wir - so wie bei den meisten Rennen in dieser Saison - konkurrenzfähig sein werden."