• 13.08.2022 11:05

  • von Roland Hildebrandt

40 Jahre Ford Sierra: Der Aero-Dynamiker

1982 überraschte Ford auf dem Pariser Salon mit einem sehr aerodynamischen Nachfolger für den Taunus - Noch heute wirkt der Sierra nicht alt

(Motorsport-Total.com/Motor1) - Wann haben Sie das letzte Mal einen Ford Sierra gesehen? Ziemlich genau 2,7 Millionen Exemplare wurden in elf Jahren gebaut. Und doch ist er selten geworden. Zum einen ist die Marke Ford nie die allererste Wahl bei Oldtimer-Neulingen, zum anderen sorgte vermutlich seine bis heute modere Optik für wenig Altblech-Aufheb-Reize.

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40 Jahre Ford Sierra Zoom

Selten startete ein Automobilhersteller mit soviel Mut zum Neuen in seinem wichtigsten Fahrzeugsegment durch: Auf dem Papier war der im September 1982 präsentierte Ford Sierra die Ablösung des letzten Taunus, des kantigen TC '80. Respektive auf dem englischem Markt, wo der Sierra besonders populär werden sollte, der Erbe des Cortina.

Doch optisch trennten die beiden Hecktriebler wahrlich Welten. Der neue Mittelklässler war maßgeblich ein Produkt des Windkanals, der Cw-Wert von 0,34 galt damals als einer der besten überhaupt für ein Serienfahrzeug. Strömungsgünstig integrierte Stoßfänger aus Polykarbonat, mit der Außenhaut bündig verklebte Scheiben sowie integrierte Scheinwerfer und Kühlluftöffnungen zeugten von zusätzlichem Feinschliff.

Rundungen statt Kanten

Und vor allem: Wo der Taunus TC senkrechte Stirnflächen aufwies, zeigte sich sein hochmoderner Nachfolger flach, windschlüpfig, geduckt. Der Kontrast fiel umso gigantischer aus, da zu Beginn der Modellkarriere nur die fünftürige, auch "Aero-Heck" genannte Schrägheck-Version auf den Markt kam. Kurz darauf folgten zwei unterschiedliche gestaltete Dreitürer und der Kombi. Ganz überraschend war das Design aber nicht, denn schon 1981 hatte die Ford-Studie "Probe III" (Bild unten mit dem Sierra) viele Elemente vorweggenommen.

Doch anders als vier Jahre später der Scorpio verprellte der Ford Sierra nicht viele Stammkunden des Vorgängers und etablierte sich schnell als eines der erfolgreichsten Modelle seines Segments. Nach nur vier Jahren hatten bereits 1,5 Millionen Fließheck- und Kombiversionen einen Käufer gefunden. Schon im zweiten Produktionsjahr stieg der Sierra zum Marktführer seiner Klasse auf.

Für konservative Stufenheck-Fans brachte Ford zunächst Mitte 1983 den Orion auf Basis des Escort auf den Markt. Und apropos Basis: Äußerst selten blieb die spartanische Grundausstattung des Sierra mit unlackiertem Grill (siehe Bild).


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Obwohl die Karosseriedimensionen des Sierra gegenüber dem Taunus praktisch unverändert geblieben waren, hatte sich das Raumangebot in Schlüsselmaßen wie Bein- und Kopffreiheit spürbar vergrößert. Auch für Sprit und Transportgut hatte der Sierra nun mehr Kapazität als der Taunus.

Das Tankvolumen wuchs um sechs auf 60 Liter, das Gepäckabteil von 392 auf 408 Liter, wobei sich das Fassungsvermögen durch Umklappen der Rücksitzbank fast verdoppeln ließ. Noch mehr Variabilität gab es ab der L-Ausstattung: Die Rücksitzbank konnte im Verhältnis 1/3 zu 2/3 geteilt werden.

Vom XR4i zum Cosworth

Bei den Motoren bot Ford die große Auswahl: Neben den Reihenvierzylindern mit 75 oder 105 PS gab es die begehrten V6-Triebwerke von 90 bis 150 PS. Wobei das vorläufige Spitzentriebwerk der Sierra-Baureihe, der 2,8-Liter-Sechszylinder mit Benzineinspritzung, der über 200 km/h schnellen Sportversion XR4i vorbehalten blieb.

Hinzu kam der 2,3-Liter-Reihenvierzylinder-Diesel mit 67 PS - das nagelnde Highlight in Sachen Wirtschaftlichkeit. Alle Motoren ließen sich auf Wunsch mit einem manuellen Fünfganggetriebe kombinieren, die Dieselversion besaß diese Schaltung serienmäßig.

Im Unterschied zum Taunus verfügte der Sierra über eine komplett neu konstruierte Einzelradaufhängung vorne und hinten, der Hinterradantrieb indes wurde übernommen. Für Traktion und Spurtreue sorgten eine McPherson-Federbeinkonstruktion vorne und Stabilisatoren.

Ford Sierra Cosworth als Stufenheck

Ford Sierra Cosworth als Stufenheck Zoom

Das Achsgehäuse aus Leichtmetall sorgte für geringe Kosten und Gewicht. Das sportlich abgestimmte Fahrwerk des XR4i bestückten die Experten von Ford zusätzlich mit progressiven Schraubenfedern, Zweirohr-Gasdruckstoßdämpfern und einem Querstabilisator an der Hinterachse. Kuriosität am Rande: Der XR4i wurde in den USA unter der kurzlebigen Marke "Merkur" angeboten.

Wesentlichste Neuerung zum Modelljahrgang 1985 war die Ablösung der sportlichen Speerspitze XR4i durch die Allradversion XR4x4 - wahlweise als fünftüriges Fließheckmodell oder als Turnier. Neu war zudem ein 1,8-Liter-Vierzylinder mit 90 PS, der den alten 2,0-V6 mit gleicher Leistung ablöste. Die "Auto Motor Sport" lobte Fahrleistungen und Laufkultur (12,2 Sekunden auf 100 km/h), ebenso das Pklatzangebot und die komfortable Federung.

Abzüge gab es für unpraktische Detaillösungen, die nur mäßige Übersichtlichkeit und das schwache Licht. Verbrauch damals: 10,6 Liter im Schnitt. Neupreis für den viertürigen Sierra 1.8 L mit Fünfgang-Getriebe: 20.120 Mark. Gerade einmal 1.040 Kilogramm wog der Wagen übrigens leer.

Die Tourenwagen-Legende

Das ultimative Alphatier folgte allerdings im März 1986: der Sierra RS Cosworth. Zu den augenfälligsten Merkmalen zählten ein breiter, weit heruntergezogener Frontspoiler mit speziellen Luftführungen für Turbolader und Ladeluftkühler, der hochgesetzte Heckspoiler, verbreiterte Türschweller sowie ausgestellte Kotflügel für die 15 Zoll großen, mit 205/50er-Niederquerschnittsbereifung bespannten Felgen - für damalige Verhältnisse wahre Riesenräder.

Das kraftvolle, vom englischen Rennsportexperten Cosworth entwickelte Zwei-Liter-Herz mit Turbolader, Vierventiltechnik und der satten Leistung von 204 PS verwandelte den Hecktriebler in einen veritablen Sprinter, der in sieben Sekunden auf Tempo 100 spurten und bei Bedarf mit 240 km/h über die Autobahn jagte.

Rennversion des Ford Sierra Cosworth

Rennversion des Ford Sierra Cosworth Zoom

Der wahlweise in Schwarz, Weiß oder Mondstein-Metallic lackierte "Flügel-Cossie" sollte jedoch nicht nur auf öffentlichen Straßen für sportlichen Fahrspaß sorgen, er lieferte auch die Basis für erfolgreiche Einsätze im Motorsport. Die erste Sierra RS Cosworth-Generation erreichte umgehend Kultstatus. Die auf 5.000 Einheiten limitierte Erstauflage und auch die 500 später gebauten RS500-Evolutionsmodelle fanden in kürzester Zeit ihre Liebhaber und besitzen heute Sammlerwert.

Begeisterung generierten die sportlichen Sierra-Modelle aber nicht nur im zivilen Leben. Auch auf Rallyepisten und Rundstrecken demonstrierte der windschnittige Kölner immer wieder seine hohe sportliche Veranlagung - und schrieb mit zahlreichen Rallye-Erfolgen und einer beeindruckenden Siegbilanz in Top-Rennserien wie der Deutschen Tourenwagen-Meisterschaft DTM, den Tourenwagen-Europa- und Weltmeisterschaften sowie der britischen Rennserie BTCC ein eigenes Kapitel in der europäischen Motorsportgeschichte.

Am Ende seiner Laufbahn legte er einen Abgang hin, dessen Dramaturgie ihn endgültig zur Ikone erhob: 1987 landete er einen beeindruckenden Start-Ziel-Sieg beim 24-Stunden-Rennen auf dem Nürburgring und verabschiedete sich 1988 mit dem Gewinn der DTM.

Seit seinem Debüt im Herbst 1982 hatte sich der Sierra als eines der erfolgreichsten Modelle seines Segments etabliert. Rund 1,5 Millionen Einheiten konnte Ford in rund vier Jahren
verkaufen. Knapp 17 Prozent der europäischen Neuwagenkäufer entschieden sich in der Mittelklasse für den innovativen Kölner, dessen Schöpfer schon im ersten Produktionsjahr 15 bedeutende internationale Auszeichnungen in Empfang nehmen durften.

Facelifts 1987 und 1990

Auf dem Gipfel dieses Erfolgs ging im Februar 1987 die zweite, komplett überarbeitete Generation an den Start. Markanteste Neuheit: die Karosserieversion mit Stufenheck. Die
Außenkonturen präsentierten sich nun geglättet und gerundet, die Fronthaube zog sich bis auf die Stoßfänger hinunter und die Scheinwerfer - ausgestattet mit neuer Stufenreflektor-Technologie für höhere Lichtleistung - schlossen bündig mit der Außenhaut ab.

Vergrößerte Glasflächen mit optimierten Türscheiben-Ausschnitten verbesserten zudem die Rundum­sicht, während aerodynamischer Feinschliff im Bereich der C-Säule die Seitenwindempfindlichkeit je nach Modellvariante um bis zu fünf Prozent reduzierte.

Dem Motorenprogramm des Sierra spendierten die Ingenieure erstmals das fortschrittliche Magergemisch-Prinzip bei den 1,6- und 1,8-Liter-Vierzylinder-OHC-Motoren mit 75 und 90 PS. Das 150-PS-Kraftpaket 2,8 V6 blieb den allradgetriebenen Topmodellen XR4x4 und Ghia 4x4 Turnier vorbehalten.

Und natürlich bot Ford wieder einen "Cossie" an: den Sierra RS Cosworth II. Der kam diesmal nicht im grellen Streetfigher-Outfit, sondern im seriösen Straßenanzug und als Stufenheck-Version. Praktisch unverändert blieben das Herzstück mit 204 PS und seine erstligareifen Fahrleistungen.

Cockpit des Ford Sierra

Cockpit des Ford Sierra Zoom

Die Modellpflege für den Jahrgang 1990 (weiße Blinker vorne, ein kleiner Pseudo-Grill und abgedunkelte Heckleuchten) zündete dann eine neue Cosworth-Stufe: Dank strömungsoptimierter Ein- und Auslassbereiche, modifiziertem Turbolader und vergrößertem Ladeluftkühler leistete die Hochleistungsversion nun nicht nur 220 PS und entwickelte ein Drehmomentmaximum von 290 Nm, das Spitzenmodell brachte seine Kraft jetzt auch über alle vier Reifen auf die Piste und trug deswegen das Zusatzkürzel "4x4".

Diese Plattform lieferte zugleich die Basis für den Escort RS Cosworth. Auch ein neuer Sechszylinder schmückte das Angebot: Der 145 PS starke 2,9-Liter-V6 besetzte die Position des souveränen Cruisers, der mit geschmeidigem Durchzug aus dem Drehzahl-Tiefgeschoss seine Passagiere zufrieden lächeln ließ.

Nach wie vor stand der Sierra in den drei Karosserieversionen Fließheck, Stufenheck und Turnier zur Wahl. Über der neuen Basisausstattung CLX rangierten die Ausführungen GL, Ghia, XR4i und Cosworth 4x4. Neben den für Ford typisch umfangreichen Serienausstattungen bot das Optionsprogramm den Sierra-Käufern die Möglichkeit, ihr Fahrzeug mit hochwertigen Tuningteilen aus dem Ford RS-Programm optisch zu veredeln.

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Leichtmetallräder, Heck- und Seitenschürzen, Sport-Lederlenkräder, ein Fahrwerk-Tieferlegungssatz, Front- und Heckspoiler oder Kotflügelverbreiterungen verliehen auf Wunsch einen Hauch von Cosworth.

Im April 1993 schließlich wurde der Sierra abgelöst und mit ihm auch der Name: Der neue Mondeo war als Weltauto konzipiert worden. Doch nach fast 30 Jahren ist auch diese Baureihe inzwischen Geschichte. Die Mittelklasse von Ford scheint sich endgültig aus Europa verabschiedet zu haben ...

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