• 06.11.2010 14:22

  • von Pete Fink

Analyse: NASCAR und das Jammern auf hohem Niveau

Der schwierige Kampf gegen die hartnäckige Stagnation in der NASCAR hat viele Ursachen - nicht nur die Dominanz von Jimmie Johnson

(Motorsport-Total.com) - Stagnation ist in Corporate America für jeden Businesszweig so etwas wie das pauschale Unwort. In einem Umfeld, in dem die New Yorker Wall Street jedes Quartal ein kräftiges Wachstum sehen will, ist ein Rückgang der Geschäftszahlen so beliebt, wie beim Teufel das berühmte Weihwasser. Der Motorsportgigant NASCAR befindet sich seit einigen Jahren in genau solch einer Phase.

Titel-Bild zur News: Juan Pablo Montoya, Clint Bowyer

Volle NASCAR-Tribünen: Viele Rennserien würden sich die Finger abschlecken...

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Verglichen mit anderen US- und Motorsportserien steht die NASCAR immer noch hervorragend da. Und ob ein Business immer und überall wachsen kann und muss, ist eine eher grundsätzliche Überlegung - die in Amerika freilich keiner hören will. Nach eher europäischen Gesichtspunkten formuliert, könnte man auch behaupten: Das Jammern der NASCAR geschieht auf sehr hohem Niveau.

Und wie immer im Leben gibt es für diese Stagnation eine Vielzahl von Ursachen. Eigentlich begann alles in der Saison 2007 mit der Einführung des Car of Tomorrow, das viele alteingesessene NASCAR-Fans schlicht und ergreifend als hässlich bezeichneten. Weil der Großteil der Anhängerschaft eher aus den Kreisen der Normalverdiener stammt, sind die Folgen der massiven US-Finanzkrise auch noch keineswegs zu 100 Prozent überwunden.

Dazu steht nach wie vor der Vorwurf im Raum, dass in unserer immer schnelllebigeren Zeit ein Rennen von 500 Meilen - oder umgerechnet über 800 Kilometer - ganz einfach zu lange dauere. Ganz zu schweigen davon, dass NASCAR seinen Fans diesen drei bis vier Stundenmarathon nicht weniger als 38 Mal an 52 Wochenenden zumutet. So gibt es nicht wenige Stimmen in der NASCAR-Garage, die eine Beschränkung auf 300 Meilen bei 25 Rennwochenenden pro Saison fordern.

Immer wieder Jimmie Johnson

Jimmie Johnson

Am Ende gewinnt er: Jimmie Johnson und seine NASCAR-Ära Zoom

Die Liste der Störfaktoren ist natürlich noch wesentlich länger. Zum Beispiel das extreme Ärgernis, dass alle Hoteliers im näheren Umkreis eines NASCAR-Rennens, die Zimmerpreise am betreffenden Wochenende um den Faktor zwei - teilweise sogar drei - in die Höhe schrauben. Wer möchte schon Zimmerpreise von 200 US-Dollar pro Übernachtung bezahlen, wenn er am Renntag weniger als 50 Meilen Anreise in Kauf nehmen will?

All dies sind sicherlich Bausteine eines komplexen Problems. Denn auf der anderen Seite ist das eigentliche Produkt, also der Motorsport, so spannend wie selten. Von langweiliger Dominanz kann überhaupt keine Rede sein. Gäbe es zum Beispiel Jimmie Johnson nicht, hätte das vermeintliche Dream-Team von Hendrick Motorsports in dieser Saison noch kein einziges Rennen gewonnen!

Doch genau in der Person Johnson liegt eines der größten Probleme. Um einmal einen geflügelten Spruch des englischen Stürmers Gary Lineker aus dem Fußball der 1990er-Jahren zu entleihen, könnte man es so formulieren: Die NASCAR fährt 38 Mal im Jahr und am Ende gewinnt Jimmie Johnson. Dazu ist der smarte Kalifornier geradezu das Idealbild der aktuellen NASCAR-Piloten: Sauber, keine Ecken und Kanten, also ein Musterbeispiel in den Augen der Sponsoren - und für viele Fans ganz einfach langweilig.

Keine Frage: Die NASCAR erlebt gerade die Ära Johnson. Sportlich kann es überhaupt keinen Zweifel an der Stärke seines Hendrick-Teams geben, doch für knallige Schlagzeilen war der 35-jährige Dauerchampion noch nie gut. Oder erinnert sich noch irgendjemand daran, dass der eigentlich sympathische Kalifornier im Winter 2006/2007 einmal vom Dach eines Golfwagens fiel und sich dabei das linke Handgelenk brach? Aus völlig ungeklärten Ursachen übrigens...

Wo bleiben die elektrisierenden Duelle?

Dale Earnhardt Jr. Kyle Busch

Dale Earnhardt Jr. gegen Kyle Busch: Es würde wohl rauchen... Zoom

Was viele Sponsoren und Hersteller im Motorsport immer wieder vergessen: Die Fans wollen die Fahrer sehen. Sie wollen Action auf der Strecke und die dazugehörigen Emotionen. Keine Werbefiguren, die einmal pro Woche einen Overall überziehen, mit irgendeinem Produkt in der Hand in die Kameras lächeln und von einem "guten Punktetag" sprechen.

Tony Stewart war einmal so ein klassischer NASCAR-Haudegen. Nicht umsonst bekam er seinen Spitznamen "Smoke", weil er auf und neben der Strecke immer für einen Aufreger gut war. Seine Popularität verdankte Stewart nicht nur seinen zwei NASCAR-Titeln, sondern auch der Art, wie er sein Herz auf der Zunge trug. Seit 2009 ist er nun der Teambesitzer von Stewart/Haas-Racing - und scherte sofort in die Businessreihe ein. Geldstrafen wegen unangemessener Äußerungen gehören der Vergangenheit an.

Hat NASCAR vielleicht ein Fahrerproblem? Wo sind sie denn geblieben, die Hahnenkämpfe von Platzhirsch Dale Earnhardt Sr. gegen den aufstrebenden Sunnyboy Jeff Gordon? Das Titelduell 2007 hieß Johnson gegen Gordon - und wurde quasi mit Samthandschuhen ausgetragen. Gleiches geschah 2008 mit Johnson gegen Carl Edwards oder in der vergangenen Saison mit Johnson gegen Mark Martin.

Oder anders gefragt: Was würde zum Beispiel geschehen, wenn das Titelduell 2010 Kyle Busch gegen Dale Earnhardt Jr. lauten würde? Der absolute NASCAR-Bösewicht gegen den glasklaren Publikumsliebling? Man kann sich sicher sein, dass ein solches Rad-an-Rad-Duell die Massen elektrisieren würde. Schwarz gegen Weiß, Gut gegen Böse hat noch immer funktioniert, auch außerhalb des Motorsports.

Ist Danica Patrick die Lösung?

Dale Earnhardt Jun., Danica Patrick

Danica Patrick und Dale Earnhardt Jr.: Bald gemeinsam im Sprint-Cup? Zoom

Jeff Gordon sieht die Lage ähnlich: "Es gibt in diesem Raum vermutlich niemanden, der sich nicht im Klaren darüber ist, was Dale Jr. für uns erreichen könnte, wenn er um den Titel mitfahren würde", sagte der vierfache NASCAR-Champion. Klar, zwischen Texas und Florida würden die Menschen ihre TV-Geräte einschalten und dem Earnhardt-Spross die Daumen drücken. Doch "Junior" fährt bekanntlich nicht um den Titel mit. Kyle Busch auch nicht mehr.

Gordon brachte am Freitag nun einen ganz anderen Namen ins Spiel: "Könnt ihr euch vorstellen, was hier los wäre, wenn Danica Patrick in einer solchen Situation wäre?" Er hat völlig recht. Obwohl Patrick nur in der zweiten NASCAR-Liga fährt und dort bislang noch keinerlei Erfolge vorweisen kann, ist das allgemeine Interesse gigantisch. Wo immer die 28-Jährige auftaucht, zieht sie einen Schwarm Journalisten hinter sich her, die Massen kreischen.

Patrick wäre sehr wohl in der Lage, die NASCAR wieder in den Fokus des US-Mainstreams zu rücken. Spötter und Neider betiteln sie gerne als reine Marketingmaschine. Aber ihr Schicksal interessiert sie alle: Männer, Frauen - und vor allem Kinder und Jugendliche. Neue NASCAR-Fans also. Dabei ist sie bislang noch kein einziges Sprint-Cup-Rennen gefahren. Und es gibt nicht wenige, die davon überzeugt sind, dass eine Danica Patrick noch nicht einmal um Siege mitfahren muss.

Wäre eine Patrick im Sprint-Cup so etwas wie ein Allheilmittel? Das ist sicher etwas zu eindimensional gedacht. Doch was immer die NASCAR-Spitze um Brian France im Kampf gegen die Stagnation an Regeländerungen noch in petto hat - sei es Änderungen im Chase oder eine neue Optik für das CoT - das einfachste kurzfristige Mittel ist ganz sicher ein neuer Superstar, der ganz NASCAR-USA wieder auf Trab bringt. Jeff Gordon hat in Texas einen Vorschlag auf den Tisch gelegt.