Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat: Die FIM

Posse um Marquez-Strafe nur ein Beispiel - Reglement muss wasserdichter formuliert werden - FIM auch für Ride-Height-Systeme und Aero-Wildwuchs mitverantwortlich

Titel-Bild zur News: Jorge Viegas

FIM-Präsident Jorge Viegas ist seit 2018 im Amt und bis 2026 wiedergewählt Zoom

Liebe MotoGP-Fans,

auch das zweite Rennwochenende der Saison 2023 hat uns viel Spektakel und tolle Rennen geliefert. Die Fahrt von Marco Bezzecchi im Regen war extrem beeindruckend. Bei so schwierigen Bedingungen so eine Performance zu zeigen, zeugt von ganz viel Talent. Und auch der Sprint-Sieg von Brad Binder war stark. Man kann beiden dazu nur herzlich gratulieren!

Für unsere traditionelle Montagskolumne gäbe es nach diesem Wochenende einige Kandidaten. Da wäre zum Beispiel Francesco Bagnaia, der wieder einmal einen unnötigen Sturz eingebaut hat. Oder Aprilia. Die RS-GP war im Regen überhaupt nicht konkurrenzfähig.

Aber ich möchte mich heute einem anderen Thema widmen, worüber zuletzt viel diskutiert wurde, und das in einem etwas größeren Kontext betrachten. Nach welchem Augenmaß Strafen vergeben werden, stellt viele im Fahrerlager vor ein Rätsel.

Für ähnliche Vorfälle gibt es manchmal Strafen, manchmal unterschiedliche Strafen und manchmal keine. Das Problem dabei ist die Transparenz. Seit Jahren wird im Fahrerlager kritisiert, dass die Rennkommissare nicht erklären, wie sie Entscheidungen treffen.

Und dann gibt es noch das Problem, wie Dokumente geschrieben werden. Der Fall Marc Marquez hat diese Thematik deutlich veranschaulicht. Im Dokument nach dem Grand Prix von Portugal steht ganz klar geschrieben, dass er seine Strafe "in Argentinien" absolvieren muss.

Blöd nur, dass er dort wegen der Operation beim Daumen nicht am Start stehen konnte. Also verschickten die Rennkommissare eine Klarstellung, dass "sein nächstes Rennen" gemeint sei. Aber eine finale Entscheidung ist nicht veränderbar.

Mit einem schlechten Wording haben sich die Rennkommissare damit selbst in die Bredouille gesetzt. Es ist das absolute Recht von Honda, diese Klarstellung anzufechten. Der Fall landet vor dem FIM-Berufungsgericht. Ich schätze, Honda hat gute Chancen zu gewinnen.

Marc Marquez

Die Strafe gegen Marc Marquez wird vor dem FIM-Berufungsgericht entschieden Zoom

Auf den ersten Blick sieht das moralisch für Honda natürlich nicht gut aus. Man will erreichen, dass Marquez in der Praxis keine Strafe absolvieren muss - so der Tenor. Viele Fans haben in den Sozialen Medien ihren Unmut darüber kundgetan.

Aber Reglement ist Reglement. Deshalb finde ich es richtig, dass Honda so handelt, denn das Reglement muss eingehalten werden. Wenn das Berufungsgericht Honda Recht gibt, dann ist klar, dass die Kommissare schlampig gearbeitet haben.

Sie haben auch schon aus diesem Präzedenzfall gelernt. Am Samstag in Argentinien hat Moto2-Fahrer Sergio Garcia für eine Situation in Q1 eine Long-Lap-Strafe erhalten. In dem entsprechenden Dokument steht, dass er sie "in seinem nächsten Rennen" absolvieren muss.

Schlechtes Wording kann große Konsequenzen haben

Aber ich möchte heute nicht per se die Rennkommissare kritisieren, sondern die FIM generell. Als Präsident ist Jorge Viegas, der seit 2018 im Amt ist, deren Aushängeschild. Es geht mir nämlich generell darum, dass das Reglement besser geschrieben werden muss.

Die Posse um die Strafe gegen Marc Marquez ist nur ein Beispiel davon. Dokumente und das Reglement müssen generell so wasserdicht wie möglich formuliert werden. Jedes schwammige Wording kann große Konsequenzen nach sich ziehen.

Auch die FIA kann davon in der Formel 1 ein Lied singen. Erinnern wir uns an das Saisonfinale 2021 in Abu Dhabi zurück. Im Reglement stand, dass sich hinter dem Safety-Car "any cars" zurückrunden dürfen und nicht "all cars".

Es war also Auslegungssache des Rennleiters, wie viele Autos er nach vor schickt, bevor er die Strecke wieder freigibt. Letztendlich hat diese Auslegung mitentschieden, wer Weltmeister wurde. Aber schweifen wir nicht zur Formel 1 ab. Sie hat ihre eigenen Reglement-Probleme.

Ride-Height-Systeme und Aerodynamik

Natürlich ist es die Absicht des Weltverbandes, ein Reglement mit bestem Wissen und Gewissen zu schreiben und zu formulieren. Und natürlich gibt es viele intelligente Ingenieure, die nach Schlupflöchern suchen.

Unter Artikel 2.4.4.4 steht zum Beispiel, dass elektrische und elektronische Systeme zur Verstellung der Fahrwerkshöhe verboten sind. Es sind nur mechanische oder hydraulische Systeme erlaubt, die vom Fahrer bedient werden müssen.

Mehr stand zu diesem Aspekt bis 2021 nicht im Reglement. Die Intention war es, verstellbare Fahrwerke in der MotoGP zu verbieten. Aber das war nicht explizit festgeschrieben. Findige Ducati-Ingenieure haben sich dieses Schlupfloch zu Nutze gemacht.

Wäre das Reglement wasserdichter formuliert gewesen, dann würde es bis heute keine Ride-Height-Systeme und Holeshot-Systeme geben. Um sie zu verbieten, ist die FIM nun auch auf einen Konsens in der Herstellervereinigung MSMA angewiesen.

KTM Heckflügel

Nun wachsen auf den Motorrädern auch Heckflügel empor Zoom

Das nächste Beispiel ist die Aerodynamik. Als die ersten Flügel aus der Seitenverkleidung wuchsen, hat man einen Aerobody-Bereich definiert. In den vergangenen Jahren wurden auch immer mehr Vorschriften ins Reglement aufgenommen. Die FIM war immer einen Schritt hinten nach.

Die Regelschreiber konnten bisher nicht verhindern, dass es ein regelrechtes Wettrüsten im Bereich der Aerodynamik gibt. Der Höcker hinter dem Fahrer ist zum Beispiel nicht reguliert. Kein Wunder, dass die Ingenieure das ausloten und wir dort neue Finnen und kleine Heckflügel sehen.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Streckensicherung. Was wir in Portimao mit den Kiesbetten und mangelnder Airfences gesehen haben, ist nicht WM würdig. Die FIM ist für die Streckenabnahme zuständig und damit dafür verantwortlich.

Der Weltverband hat sicherlich keine einfache Aufgabe, aber eine sehr, sehr wichtige. Manchmal habe ich den Eindruck, dass die FIM nicht ganz auf Höhe der Zeit agiert. Auch sie muss mit der Entwicklung Schritt halten, denn die MotoGP bleibt bestimmt nicht stehen.

Ihr,


Gerald Dirnbeck

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