• 12.01.2010 18:46

  • von Michael Noir Trawniczek

Interview: So wird die Formel 1 im neuen Jahr

Im Interview verrät AVL-Simulationsexperte Peter Schöggl unter anderem, was sich in der Formel 1 durch die neuen Regeln ändern wird

(Motorsport-Total.com) - Er ist der "Mister Simulation" der Formel 1: Peter Schöggl, Geschäftsleiter für den Bereich Motorsport bei der österreichischen Firma AVL, arbeitet im Bereich der Simulationstechnik mit fast allen aktuellen Teams zusammen. AVL entwickelt und verbessert alle Arten von Antriebssystemen als Partner der Motoren- und Fahrzeugindustrie. Das Unternehmen beschäftigt derzeit 4.500 Mitarbeiter, davon 2.000 am Hauptstandort Graz.

Titel-Bild zur News: Peter Schöggl

Peter Schöggl gehört zu den führenden Simulationsexperten in der Formel 1

Schöggl spricht im Interview ausführlich über Simulationen in der Formel 1 und verrät, wie sich die neuen Regeln 2010 auswirken werden. Außerdem wird er im Rahmen der Racingshow am 6. und 7. Februar 2010 in der Arena Nova in Wr. Neustadt als Gastvortragender auftreten und sogar Anschauungsmaterial über die geheime Welt der Simulation mitbringen.#w1#

Hunderte Parameter ergeben tausende Kombinationen

Frage: "Herr Schöggl, was kann eigentlich simuliert werden?"
Peter Schöggl: "Hunderte Verstellparameter am Fahrzeug gilt es für jedes Rennen optimal einzustellen, damit es schnell, haltbar und fahrbar ist: Federhärten, Radsturz, Bodenfreiheit, Zündzeitpunkt bis hin zu Flügelstellung. Es geht um die Frage: Welche Kombination arbeitet sowohl im Qualifying als auch im Rennen am besten? Das Fahrzeug darf ja zwischen Qualifying und Rennen nicht umgebaut werden."

"Grundsätzlich unterscheiden wir drei Levels der Simulation. Level eins beinhaltet eher stationäre Größen wie Getriebeübersetzungen, Schaltdrehzahlen und Flügeleinstellungen. Der nächste Level erfordert bereits die möglichst genaue Simulation der dynamischen Horizontalbewegungen des Fahrzeugs auf der simulierten Rennstrecke, inklusive dem Springen über die Curbs. Hier werden Federraten, Stabilisatoren, Bodenfreiheit in Verbindung mit Aerodynamik und Reifen gebracht, plus Motorabstimmung. Im dritten Level werden auch transiente Aerodynamikparameter und transiente Reifentemperaturen simuliert. Damit kann sogar die optimale Stoßdämpfereinstellung vor dem Rennen simuliert werden."

"Der Fahrer wird auch simuliert - inklusive seines persönlichen Fahrstils." Peter Schöggl

Frage: "Welche Rolle spielt der Pilot in einer Simulation?"
Schöggl: "Der Fahrer wird auch simuliert - inklusive seines persönlichen Fahrstils, wobei es hier noch Limitierungen gibt, weil der Fahrer intuitiv ganz anders reagiert als die Simulation beziehungsweise weil die Simulation keine intuitiven Variationen macht. Es geht darum: Wie steigt der Fahrer aufs Gas? Wie schnell lenkt er ein? Wie bremst er, wie bedient er die Bremse und das Gas gleichzeitig? Das muss abgebildet werden, weil das Auto abhängig vom Input des Fahrers völlig unterschiedlich reagiert und daher auch unterschiedlich abgestimmt werden muss."

Frage: "Gibt es große Unterschiede bei den Piloten?"
Schöggl: "Es gibt natürlich Unterschiede, speziell beim Bremsen und Gas geben, inwieweit beide Pedale gleichzeitig betätigt werden. Dann gibt es unterschiedliche Intensitäten - gerade da gibt es sehr große Unterschiede. Bei den Bremspunkten gibt es sehr geringe Abweichungen - da geht es um Bruchteile von Metern. Große Unterschiede gibt es dann wieder beim Gas geben: Wo der Fahrer aufs Gas steigt, wie er aufs Gas steigt - da kann es sich durchaus um mehrere Meter Unterschied handeln."

"Und er lenkt ja auch in die Kurve ein. Es müssen da ja drei Dinge gleichzeitig gemacht werden: bremsen, Gas geben und lenken. Ein normaler Straßenverkehrsteilnehmer sollte maximal zwei gleichzeitig machen und nicht drei, aber ein Rennfahrer muss drei gleichzeitig machen. Und dieser Übergang zwischen den dreien, der macht es eigentlich aus. Dann kommt noch die Linienwahl dazu. Da es aber auf den meisten Strecken aufgrund des Reifenabriebs ohnehin nur eine Ideallinie gibt, reduzieren sich diese Unterschiede auf maximal einen Meter."

"Es gibt ein Simulationsmodel für das Fahrzeug, eines für die Strecke und eines für den Fahrer. Das Modell für den Fahrer hat wie auch Fahrzeug und Strecke verschiedene Parameter: Wie intensiv bremst er? Wie aggressiv lenkt er ein? Wie schnell fährt er um die Kurve? Wie aggressiv steigt er aufs Gas? Diese Parameter sind zu optimieren, damit sie zur Realität passen - und erst danach kann begonnen werden, das Auto darauf zu optimieren. Erst wenn ich mit der Simulation die Realität getroffen habe, beginnt die Analyse, wie das Fahrzeug auf Änderungen reagiert - auf eine andere Bodenfreiheit, auf eine andere Flügelstellung, auf eine andere Getriebeübersetzung oder einen anderen Differenzialsperrwert."

"Wobei neben der reinen Rundenzeit auch Faktoren wie Fahrverhalten, Reifenverschleiß und Aerobalance betrachtet werden. Während der Optimierungsphase wird der simulierte Fahrer immer wieder nachjustiert, weil auch der reale Fahrer auf eine Änderung bei der Fahrzeugeinstellung reagiert. Das ist ein Optimierungsprozess, der durchaus auch mehrere 10.000 Runden dauern kann - 10.000 simulierte Runden vor jedem Rennen, um sozusagen ein virtuelles Optimum zu erreichen. Dadurch ist es möglich, bereits heute den Einfluss einer neuen Fahrwerksgeometrie auf alle Rennen der Saison zu simulieren."

Frage: "Wird nur virtuell im Computer simuliert oder wird die Simulation auch optisch umgesetzt?"
Schöggl: "Das Fahrzeug und die Strecke werden animiert, ähnlich wie bei guten Computerspielen. Diese Animationen zeigen, wo und wie das Auto auf der Strecke fährt. Es werden weiters in Echtzeit Kenngrößen wie Topspeed, Bremsweg, Aerobalance berechnet - und natürlich Rundenzeiten. Das heißt: Dieselben Größen, die der Renningenieur an der Strecke sieht, stehen auch in der Simulation zur Verfügung. Eine einfache Rechnung: 100.000 simulierte Runden mit jeweils 100 Kenngrößen ergeben zehn Millionen von Einzelergebnissen, die es dann auch auszuwerten gilt. Auch dafür gibt es spezielle Programme, die auch in der Serie eingesetzt werden."

Frage: "Wird auch der Boxenstopp simuliert?"
Schöggl: "Ja, Boxenstopps können simuliert werden. Etwa der Anstieg der Motortemperatur und die Reifentemperatur. Wichtig sind die ersten Runden nach dem Boxenstopp. Hier simulieren wir den Temperaturverlauf in den vorgewärmten Reifen. Welche Fahrwerkseinstellung bringt die Reifen am besten zum Arbeiten und wie funktionieren sie möglichst lange?"

Testbeschränkung kommt AVL entgegen

Frage: "Es gibt 2010 wieder ein neues Reglement. Spielen solche Regeländerungen der Firma AVL in die Hände?"
Schöggl: "Die Testreduktion auf maximal 15.000 Kilometer und auf maximal 15 Testtage im Februar reduziert die Testkosten der Teams und forciert natürlich den Einsatz von Simulationswerkzeugen. Die Tests sind zur Korrelation der Simulationen extrem wichtig. Tests während der Saison sind ja verboten."

Frage: "Welche Auswirkungen wird das neue Reglement haben?"
Schöggl: "Die Regelneuheit mit der größten Auswirkung ist sicherlich das Tankverbot und die Änderung der Reifenbreiten. Das wirkt sich sowohl auf die Konstruktion des Fahrzeugs als auch auf die Rennstrategie aus. Und auch der Fahrer wird sich aufgrund des Tankverbots anpassen müssen - er muss seinen Fahrstil umstellen, zum Teil auch während des Rennens."

"Das Tankverbot forciert Entwicklungen zu einem niedrigeren Verbrauch." Peter Schöggl

Frage: "Droht wegen des Tankverbots eine 'Verbrauchsformel'?"
Schöggl: "Das Tankverbot forciert Entwicklungen zu einem niedrigeren Verbrauch, wobei motorenseitig nur Cosworth reagieren darf - für alle anderen gilt ein 'Design-Freeze'. Verbrauchsgünstig wirken sich auch Reibungsoptimierungsmaßnahmen am Fahrzeug aus, inklusive Radeinstellungen."

"Zur Gefahr einer Gleichmäßigkeitsformel: Es wird aus meiner Sicht in der ersten Saisonhälfte maximal einige Male vorkommen, dass sich jemand im Verbrauch verschätzt und der Fahrer wird aufgrund eines zu hohen Spritverbrauchs im letzten Renndrittel langsamer fahren müssen. Nach zwei bis drei Rennen wird das kaum mehr vorkommen."

Frage: "Welche Rolle spielt der Faktor Reifen in der Simulation?"
Schöggl: "Die Charakteristik der Reifen ist an und für sich bekannt, Unsicherheiten ergeben sich jedoch durch die Kombination Reifen und Streckenbeschaffung. Keiner weiß genau, wie sich die Temperatur und Streckenbeschaffenheit während dem Rennwochenende ändert. In der Simulation werden dazu verschiedene Varianten durchgespielt, von wenig bis viel Gripänderung."

"Zuletzt gab es die Herausforderung, die Reifen auf Temperatur zu bekommen, speziell bei der harten Mischung. Da hilft auch kein Reifenwechsel. Man könnte höchstens mit weniger Luftdruck fahren, doch das ist eben die Aufgabe der Simulation. Ich muss das Auto vor dem Rennen so auslegen, dass es passt."

"Auch der vorgewärmte Reifen muss erst auf Temperatur gebracht werden. Man spricht hier weniger von der Oberflächen-, sondern von der Innentemperatur. Die Innentemperatur ist höher als die Oberflächentemperatur. Die Innentemperatur kann ich mit Heizdecken alleine nicht erhöhen, daher muss ich den Pneu ein bis zwei Runden warmfahren. Da nimmt dann sogar die Außentemperatur ab auf sagen wir 80 Grad. In dieser Phase ist der Reifen daher nicht so schnell, weil auch der Druck niedrig ist."

Frage: "Erleichtert das größere Tankgewicht das Aufwärmen der Reifen?"
Schöggl: "Ja, das größere Tankvolumen ist beim Aufwärmen der Reifen dienlich. Ein schweres Auto bedeutet mehr Energie und das bedeutet mehr Temperatur im Reifen."

Frage: "Muss man am Beginn des Rennens also die Reifen schonen?"
Schöggl: "Das Spannende ist derzeit, genau diesen Teil der Strategie zu optimieren, und zwar auch je nach Rennstrecke. Wie sieht der beste Kompromiss aus? Öfter zum Reifenwechsel an die Box zu kommen und die Reifen auf der Strecke weniger zu schonen gegenüber weniger Boxenstopps und vorsichtigeres Behandeln der Reifen. Einige Teams werden konservativer sein und auf zwei Boxenstopps setzen, wie sie es gewöhnt sind. Es wird aber auch einige geben, die durchaus aggressiver ans Werk gehen werden, mit nur einem Boxenstopp."

Das Geheimnis des "schwarzen Goldes"

"Im ersten Stint die weiche Mischung zu verwenden, ist in der Regel strategisch ungünstig - der weiche Reifen kann je nach Rennstrecke schon nach drei bis fünf Runden abbauen. In der Regel funktioniert der weiche Reifen erst dann, wenn schon Gummi auf der Strecke war, also im letzten Renndrittel."

Frage: "Besteht die Gefahr, dass 2010 alle die gleiche Strategie anwenden?"
Schöggl: "Ich glaube nicht; das wird man speziell in den ersten Rennen sehen. Es hilft auch nichts, wenn alle mit der gleichen Strategie fahren, weil jedes Auto anders ist. Wie gesagt gibt es die konservative Möglichkeit mit zwei Boxenstopps oder nur einen Stopp..."

Frage: "Wird künftig weniger an der Box überholt?"
Schöggl: "Auch das glaube ich nicht. Die Boxenstopps werden statt acht bis neun Sekunden nur noch drei bis vier Sekunden dauern, doch wer beim Reifenwechsel um eine halbe Sekunde schneller ist, der ist immer noch schneller."

Peter Schöggl

Ist bei den Teams ein gern gesehener und wichtiger Gast: Peter Schöggl Zoom

Frage: "Ist der Doppeldiffusor ein 'Überholkiller?"
Schöggl: "Ich glaube nicht, dass die Doppeldiffusoren dazu beigetragen haben, das Überholen zu verhindern - die zusätzliche 'Dirty Air' ist vernachlässigbar. Der Doppeldiffusor ist technisch äußerst spannend und unheimlich innovativ. Diese Lösungen können durchaus auch in anderen Rennserien angewandt werden, auch in der Serienproduktion. Bei Sportwagen kann das durchaus auch überlegt werden - dort gibt es ja bereits die normalen, einfachen Diffusoren. Der Doppeldiffusor hat den großen Vorteil, dass er nicht so bodenabstandssensibel ist. Wir werden da 2010 sehr viele neue Lösungen sehen, es wird Doppel- und Dreifachdiffusoren geben."

Frage: "Bleibt der Trend bei der breiten Schnauze?"
Schöggl: "Es ist bekannt, wie man im letzten Jahr gesehen hat, dass der Frontflügel sehr stark die Strömung unter und über das Auto beeinflusst, aber speziell durch die Einführung des Doppeldiffusors war es notwenig, hier Luft unter das Auto zu kriegen. Man hat lang diskutiert: Wie viel Luft bringe ich übers Auto und wie viel Luft bringe ich ums Auto herum? Und da gibt es sicherlich neue Lösungen. Aber ich sage einmal: Die Änderungen werden nicht so groß sein wie letztes Jahr."

Frage: "Hat sich der bewegliche Frontflügel bewährt?"
Schöggl: "Den hat, was man so gehört hat, in Wirklichkeit kaum einer verstellt. Der hat nicht das gebracht, was man gerne gehabt hätte. Den beweglichen Frontflügel wird es auch 2010 geben, aber er wird nicht wirklich von Belang sein."

Frage: "Welche Chancen haben die neuen Teams? Sind diese bereits Kunden der AVL? Werden alle am Start sein?"
Schöggl: "Die neuen Teams bringen einen neuen Schwung, inklusive neuer Gesichter. Es gibt tatsächlich Bedenken, dass nicht alle neuen Teams am Start sein werden. Es wird in den neuen Teams mit sehr hohem Innovationsgrad und mit unheimlich viel persönlichem Einsatz Tag und Nacht gearbeitet. Die alten Teams sind zum Teil über Jahrzehnte gewachsen und haben in dieser Zeit gewisse Strukturen entwickelt. Die neuen Teams haben den Nachteil, dass sie den Erfahrungsschatz nicht aufholen können, dafür aber können sie vielleicht Strukturen schaffen, die schon zu der neuen Zeit passen, zu jener des reduzierten Budgets. Die neuen Teams sind da schon schlanker aufgestellt und aus diesem Grund auch effizienter - und innovativer. Es treffen da zwei Generationen aufeinander."

Frage: "Virgin verzichtet auf Windkanaltests. Ist eine rein virtuelle Entwicklung sinnvoll?"
Schöggl: "Virgin respektive Nick Wirth hat in anderen Rennserien bereits gezeigt, dass es durchaus möglich ist, ein Auto ausschließlich virtuell und ohne Windkanalarbeit zu entwerfen. Wenn ein Auto erst sehr spät fertig wird, ist das auch die einzige Möglichkeit der Entwicklung. Unter Umständen sind die ersten vier Rennen als Test zu sehen. Es ist spannend zu sehen, dass Teams auch nach außen kommunizieren, dass sie rein auf Simulation setzen. Für mich ist aber immer die Verbindung von Simulation und Test das Beste."

Frage: "Abschließend: Was erwartet uns 2010?"
Schöggl: "2010 hat aus technischen und auch aus showtechnischen Gründen sowie auch aufgrund des Wiedereinstiegs von Michael Schumacher die Chance, ein sehr attraktives Jahr zu werden - nicht nur für die Teams und für die Techniker, sondern speziell auch für die Zuschauer an der Strecke und im Fernsehen. Rein optisch wird es bei den Fahrzeugen weniger Änderungen geben als letztes Jahr - auf der Oberseite der Autos wird es weniger Überraschungen geben, auf der Unterseite aufgrund der Diffusoren durchaus mehr. Und wie wir gesehen haben: Wenn der Diffusor optimal funktionieren soll, muss das komplette Auto danach ausgerichtet sein, das geht bis zum Motor- und Getriebeumfeld. Aber viele Änderungen finden unter der Verkleidung statt und das sieht man von außen nicht."