Augen zu und durch: Wilder Westen in Kurve eins?
Scheider kritisiert Kommunikationspolitik der Rennleitung - Wickens ist von hartem Durchgreifen nicht überzeugt: "Einige haben mehr Respekt als andere"
(Motorsport-Total.com) - In Hockenheim war das Thema heiß, in Spielberg großer Zankapfel: Das Vorgehen der Sportkommissare gegen Fahrer, die die Streckenbegrenzung missachten. Stichwort: Edoardo Mortara und Gary Paffett. Am Lausitzring droht eine Neuauflage der Diskussion um das Überfahren der weißen Linien mit vier Rädern, schließlich ist die Situation in Kurve eins des Eurospeedway brisant. Im Freien Training gab es über 60 Verwarnungen, weil Piloten die Bahn eigenmächtig erweiterten.

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Als die Ludwigteller noch installiert waren, wurde in der DTM geflogen Zoom
Dabei lag eine Lösung auf dem Tisch. Oder besser gesagt: auf dem Asphalt. "Mit den Ludwigtellern hat es durchaus funktioniert", erklärt Timo Scheider 'Motorsport-Total.com' über die runden Randsteine, die die Autos in der Auslaufzone wie Sprungschanzen aushebelten und damit das Risiko einer Beschädigung als natürliche Sanktion herbeiführten. Überraschung am Freitag: Die Ludwigteller waren aus Kurve eins verschwunden. Der Audi-Pilot entdeckte das wie alle anderen Kollegen erst bei der Streckenbegehung und staunte nicht schlecht.
Scheider ärgert die Sache: "Da gab es vorab keine Info. Es hieß dann: 'Die Formel-3-Jungs fahren sich daran ihre Autos kaputt, also wurden die sie entfernt.'" Der zweifache Champion fungiert bei seiner Marke als als Fahrersprecher und betont, dass er sich in dieser Funktion übergangen fühlt: "Ich bin da schon ein Stück weit enttäuscht, wenn man die Information nicht an die Hersteller oder zumindest an den Fahrersprecher weitergibt. Dafür sind wir da." In der Frage nach den Ludwigtellern gab es schon vor dem Freien Training kein Zurück.
Linienführung unglücklich gewählt
Das Abschrauben dauert zu lange, um die Modifikation erst nach dem DTM-Rennen vorzunehmen, wenn die Monoposti am Sonntag im Rahmenprogramm auf die Strecke gehen. "Es ist wieder so eine Situation, in der wir aufpassen müssen, dass es nicht lächerlich wird", hadert Scheider und fürchtet um die Glaubwürdigkeit der DTM. In der Konsequenz bedeutet das Ganze eine höhere Risikobereitschaft der Piloten: "Wir versuchen natürlich, es auszureizen", meint Timo Glock und erkennt auch ein Layoutproblem: "Die Kurve ist in meinen Augen ein bisschen unglücklich."
Denn die Begrenzung läuft nicht mit der Kurve aus, sondern knickt wieder in die Strecke ein. Es wird Vabanque gespielt im Cockpit: "Im Auto sitzt man tief, die Strecke fällt nach außen ab - so sieht man sie nicht und weiß nicht, ob man drauf war", beschreibt BMW-Star Glock und scheint nicht gewillt, die Sache konservativer anzugehen: "Spart man ein oder zwei Meter, um auf Nummer sicher zu gehen, verliert man Zeit." Ludwigteller sind nicht die einzige Lösung des Dilemmas, findet Mattias Ekström, der in der Grenzfrage ein Vertreter der alten Schule ist.
Das Problem sei den modernen Rennstrecken mit ihren weitläufigen Asphaltflächen geschuldet, findet der Schwede. "Hast du einen 'Parkplatz' und deshalb die weißen Linien, macht es das schwierig", hadert Ekström im Gespräch mit 'Motorsport-Total.com'. Für diese These spricht: In Brands Hatch, wo mit Paddock Hill Bend eine der schwierigsten Kurven im Kalender unmittelbar nach der Start- und Zielgeraden auf die Piloten wartet, gab es keine einzige Beschwerde. Aber eben auch ein tiefes Kiesbett und die Gefahr, den Boliden zu versenken.
Rennleitung hat Ermessensspielraum
Ekström wünscht sich die ursprüngliche Streckenvariante zurück. "Würden wir hier die alte Kurve eins fahren, wäre das alles kein Problem. Man hat beschlossen, dass man in Schwierigkeiten geraten will. Es ist eine dumme und unnötige Situation", wundert sich der Audi-Star und stimmt mit Markenkollege Scheider überein: "Jetzt fangen wir wieder an, über Millimeterarbeit zu reden. Glücklich ist das mit Sicherheit nicht", findet er. Der Rennleiter hingegen sieht die Situation nicht so dramatisch wie die Schäfchen, die er zu hüten hat.
Sven Stoppe meint zu 'Motorsport-Total.com': "Das ist eine einfache Regel: man darf die Strecke nicht verlassen. Wir werden uns das genau anschauen." Natürlich ist aber nicht jedes Überfahren gleich Grund für eine Sanktion, schließlich ist es insbesondere im Zweikampf nicht immer vermeidbar. "Wenn ein Pilot einer Kollision aus dem Weg geht, ist das okay. Sollte er sich einen Vorteil verschaffen, müssen wir handeln", so Stoppe. Es ist aber eben keine Entscheidung wie eine Abseitsstellung, sondern wie ein Foul oder Handspiel: Es gibt Ermessensspielraum.
Besonders brisant wird die Situation unmittelbar nach dem Start, wenn 22 Autos auf den Bremspunkt als Nadelöhr zufahren. "Was interessant wird, ist, dass sie in der Fahrerbesprechung klargemacht haben, dass es selbst in der ersten Runde keine Ausnahmen gibt", erinnert Robert Wickens daran, dass die Sonderbehandlung vom Red Bull Ring ein Relikt der Vergangenheit ist. Der Kanadier hat im Briefing jedoch nicht gespürt, dass seinen Kollegen der Schreck in die Glieder gefahren wäre.
Gibt es eine Lotterie
Schmunzelnd erzählt Wickens: "Da haben alle gesagt, dass wahrscheinlich elf Autos abseits der Linie landen." Gemeint sind alle Piloten, die auf der rechten Seite der Startaufstellung ins Rennen gehen. "Wie will man das überwachen?", fragt sich der Mercedes-Pilot, der als Vierter selbst betroffen ist. "Es hieß, es würde Konsequenzen haben. Einige Fahrer respektieren das mehr als andere." Und wieder gehen die Mundwinkel bei Wickens weit nach oben. Er selbst? Schweigt. En Schelm, der böse dabei denkt.

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Robert Wickens glaubt nicht an lammfromme DTM-Piloten Zoom
Auch Dirk Werner kann sich nicht vorstellen, dass es zugeht wie in der Klosterschule. Alleine schon deshalb, weil das Anbremsen im Pulk auf einer mit Bodenwellen übersäten Start- und Zielgeraden die 22 Autos vor der Verengung zusammenschieben muss. "Zudem müssten die Piloten, die links fahren, noch weiter nach links einlenken, um den anderen Platz zu lassen", überlegt der BMW-Pilot. "Das macht keiner." Werner denkt noch weiter und merkt, dass Ordnung eine Utopie wäre.
"Die Fahrer auf der rechten Seite müssten, wenn sie nicht über die weiße Linie fahren wollen, anhalten und alle, die links fahren vorbeilassen", schüttelt der Würzburger mit dem Kopf. Es gibt wohl keine andere Möglichkeit, als auf die Strategie Glocks zu setzen: "Ich versuche, durch Kurve eins irgendwie durchzukommen. Da kann man sich zuvor keinen Plan machen", spekuliert der MTEK-Pilot auf eine Portion Glück. Scheider hätte eine Lotterie lieber verhindert: "Das ist leider ein Faktor, den ich nicht so gern mag. Ob das im Fernsehen so gut aussieht, weiß ich nicht."

