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  • 02.04.2014 10:04

  • von Roman Wittemeier

WEC: Der große Angriff auf die Formel 1

'Motorsport-Total.com'-Redakteur Roman Wittemeier über die Eindrücke von den WEC-Tests in Le Castellet und die riesigen Chancen für die Le-Mans-Szene

Titel-Bild zur News: Romain Dumas, Neel Jani, Marc Lieb, Tom Kristensen, Loic Duval, Allan McNish, Alexander Wurz, Kazuki Nakajima

Porsche, Audi und Toyota (von links) starten in den großen WEC-Wettkampf Zoom

Liebe Freunde der Langstrecke,

was war das für eine Freude, die neuen LMP1-Autos von Audi, Porsche und Toyota endlich mal gleichzeitig live auf einer Strecke fahren zu sehen. Fast noch schöner waren die strahlenden Gesichter der WEC-Verantwortlichen. Promoter Gerard Neveu und die Technikgurus von ACO und FIA war die Erleichterung deutlich anzumerken: Die Autos rennen stabil und schnell, der Sound ist laut und abwechslungsreich und die Technik zur Messung der Energieflüsse funktioniert. Alles bereit für eine große Show!

Jeder, der von mir auf die unglaublichen Laufleistungen der LMP1-Autos angesprochen wurde, bekam sofort ein breites Grinsen. Und diese gute Laune kam nicht nur von der Zuverlässigkeit der Fahrzeuge, sondern auch von der Gewissheit, dass die WEC in genau dem richtigen Moment voll da ist. Die Formel 1 hat derzeit große Probleme. Es wird über Sound, Tempo, Standfestigkeit, Durchflussmengen, doppelte Punkte und Teamorder diskutiert und gestritten. Genau jetzt hat die WEC die große Chance, sich neue Fans zu greifen.

"Das ist eine große Gelegenheit. Lasst uns doch ab sofort mal weniger über die zweifellos tolle Technik der Autos sprechen, sondern über den Sport, der sicherlich mindestens genauso so großartig wird", sagte Neveu, der am Freitag in Le Castellet einige wenige WEC-Berichterstatter zu einem Hintergrundgespräch gebeten hatte. In dieser Runde wurde einmal mehr deutlich, dass alle Beteiligten die aktuellen Chancen unbedingt beim Schopfe packen möchten.

Der Sport muss spannend sein

Was braucht es noch, damit die WEC-Szene der "Königsklasse des Motorsports" näher kommt? Vielleicht noch ein paar weitere Hersteller in der LMP1-Klasse, die den Wettbewerb noch weiter beleben. Diese stehen aber offenbar bereits vor der Tür. Man braucht aber auch interessante Rennen voller Action, mit hohen Geschwindigkeiten, engen Duellen und - womöglich am allerwichtigsten - leicht nachvollziehbaren Rennverläufen. Und genau dort könnte das Problem liegen.

In der Formel 1 hat der neue Durchflussmesser ("Fuel-Flow-Meter") gleich beim ersten Rennen für Streit und Chaos gesorgt. Das bislang noch nicht ausreichend zuverlässige System von Gill Sensors ließ Red Bull mal eben zu ganz eigenen Mitteln greifen. Die Weltmeister führten andere Messungen durch und hielten sich kurzerhand daran. Die Konsequenz: Daniel Ricciardo wurde disqualifiziert, man wartet bis Mitte des kommenden Monats auf das endgültige Ergebnis des Australien-Grand-Prix.

Vicente Potolicchio, Gianluca Roda, Paolo Ruberti, Romain Dumas, Neel Jani, Marc Lieb

Beim Test in Le Castellet spulten die Werke problemlos unzählige Kilometer ab Zoom

So etwas darf beim WEC-Saisonauftakt in Silverstone (20. April) keinesfalls passieren, sonst legt man sich pünktlich zu Ostern ein ganz übles Ei ins Nest. Die Gefahren sind rechtzeitig erkannt worden. Man unterzog Fuel-Flow-Meter, Überwachungssysteme und Drehmoment-Messwellen einem wichtigen Test. Völlig unbemerkt von der Öffentlichkeit - 8.000 Fans ließen sich am Samstag in Le Castellet den Mistral um die Ohren blasen - gingen diese wichtigen Erprobungen über die Bühne. Perfekt!

Messsysteme funktionieren schon

Bereits am Samstag konnten die technischen Verantwortlichen von FIA und ACO bestens gelaunt eine Zwischenbilanz präsentieren: Die Messsysteme funktionieren, die Genauigkeit ist ausreichend und die Auswertung zuverlässig und leicht zu handhaben. Kurzum: An der Technik soll es nicht scheitern. Außerdem war in vielen Gesprächen zu erahnen, dass Audi, Porsche und Toyota selbst im Falle von Problemen mit den Messungen nicht gleich auf die Pauke hauen werden. Der Sport soll im Mittelpunkt stehen - recht so.

Bleibt nur noch die Frage, ob der Sport so spektakulär wird, wie sich dies Fans und Verantwortliche wünschen. Ich muss nach meinen Eindrücken von den Testfahrten sagen: Ich bin mehr denn je davon überzeugt, dass die Action großartig sein wird. Vor diesen Probefahrten hatte ich arge Bedenken, dass die große Aufgabe, die Treibstoffmengen Runde für Runde nie zu überschreiten, dazu führen könnte, dass die Autos der drei Werke die ganze Zeit völlig unabhängig von Wettbewerbern ihre Economy-Runs absolvieren. Falsch gedacht...

Bei den Dauerläufen der LMP1-Werke auf dem Circuit Paul Ricard (insgesamt über 9.000 Kilometer an zwei Tagen) waren die Autos erstmals im realistischen WEC-Verkehr unterwegs. Bei den privaten Tests der Hersteller fuhr man meist nahezu allein. In Le Castellet stellte sich nun heraus: Auch die Überrundungen von GTE- und LMP2-Autos sparen Treibstoff. Die Konsequenz daraus ist, dass die Piloten im Verkehr so viel sparen können, dass ausreichend für ein herzhaftes Duell gegen einen direkten Konkurrenten vorhanden ist.

Plakativ und gut: 1.000 PS Leistung

"Wir werden es uns schon ordentlich geben, kein Zweifel", sagte mir einer der Audi-Piloten. "Langweilig wird es sicher nicht", versprach einer der Porsche-Kutscher, und von einem Toyota-Fahrer war zu vernehmen: "Geh mal davon aus, dass wir attackieren - und zwar richtig!" Und es kommt alles noch viel besser. Alle sind sich einig, dass die komplett unterschiedlichen Konzepte der drei Werke dazu führen werden, dass sich das Kräfteverhältnis von Strecke zu Strecke erheblich verschieben wird. Das verspricht Abwechslung - herrlich!

Die Zutaten für eine extrem spannende Saison sind vorhanden. Die Autos sind spektakulär, die Aussichten auf erstklassigen Sport gegeben. Und dann hat man eindeutige Grüße in Richtung Formel 1 geschickt: Wir fahren erste gemeinsame Tests ohne einen einzigen (!) technischen Defekt, wir erreichen mal eben fast 340 km/h und der Toyota hat eine Gesamtleistung von 1.000 PS. Solche Dinge versteht jeder. So mancher Formel-1-Fan wird verwundert geschaut haben...

Sergey Zlobin, Nicolas Minassian, Maurizio Mediani

Nicht vergessen: Es sind auch noch andere Klassen unterwegs, die tollen Sport bieten Zoom

Die Voraussetzungen für einen fortgesetzten Aufschwung der WEC sind erstklassig. Alle Beteiligten sollten den bisherigen Weg so entspannt und selbstbewusst weitergehen. Allerdings lauern auch Gefahren. Die aktuellen Diskussionen um Zuweisungen von Energiemengen dürfen nicht ausarten. Außerdem müssen alle gemeinsam dafür sorgen, dass neben der LMP1-Show die anderen Klassen nicht zu kurz kommen. Die Werke in der GTE-Pro-Kategorie, die zahlreichen Fahrzeuge in LMP2 und GTE-Am bilden das Silbertablett, auf dem die goldenen Prototypen erst richtig glänzen können.

Ich freue mich wie Bolle auf den Saisonauftakt. Viele Grüße und bis bald,

Roman Wittemeier