• 11.11.2008 13:51

  • von Stefan Ziegler

Hintergrund: Unfälle und Folgen

Im Motorsport kommt es zuweilen zu unangenehmen Zwischenfällen, die zum Glück meist glimpflich ausgehen - was aber bedeutet das für ein Team?

(Motorsport-Total.com) - Jeder Rennsportfan kennt solche Szenen: Aus einem beschaulichen Rennen wird schnell einmal eine Rauferei - speziell im Tourenwagensport fliegen die Fahrzeugfetzen recht zügig. Die betroffenen Fahrer humpeln mit ihren kaputten Autos zurück in die Boxengasse, wo sich die jeweiligen Teams der Wagen annehmen. Wenig später stehen Mensch und Maschine wieder in der Startaufstellung - 'Motorsport-Total.com' hat bei Charly Lamm nachgefragt, wie ein WTCC-Rennstall auf einen Unfall reagiert.

Titel-Bild zur News: Alessandro Zanardi fährt in Monza vorneweg

In der WTCC herrscht vor allem unmittelbar nach dem Start Crash-Gefahr

In Monza nahm sich der Technische Direktor des BMW Teams Germany ausgiebig Zeit, um dieser Frage auf den Grund zu gehen. Der aktuelle Anlass war ein Crash zwischen Alessandro Zanardi (BMW) und Rickard Rydell (SEAT) im ersten Freien Training auf dem 'Autodromo di Monza'. Zanardi hatte sich gedreht, Rydell war in seinen Rennfahrer-Kollegen hineingerauscht, beide Autos waren Schrott. Doch auf wundersame Weise waren die beiden Racer schon bald wieder auf der Strecke...#w1#

Schnelle Teamreaktionen sind gefragt

Was also ist nach dem Crash zwischen Zanardi und Rydell mit dem kaputten BMW 320si geschehen? 'Motorsport-Total.com' ließ sich von Charly Lamm in die Arbeitsweise eines Rennstalls der Tourenwagen-Weltmeisterschaft einweihen: "Der Unfall von Alex war sicherlich eine komplizierte Angelegenheit für das BMW Team Italy-Spain - aber das wäre er auch für jeden anderen Rennstall gewesen."

"Mir hat das in erster Linie wieder einmal vor Augen geführt, wie gefährlich eine Pulksituation in Monza wirklich ist", kommentierte Lamm den Unfall zu Beginn der Gegengeraden. "Als Zanardi sich gedreht hat, waren hinter ihm einige Fahrzeuge, die ihn prompt trafen. Unter diesen Umständen ist es eigentlich noch glimpflich ausgegangen. Wenn in einer Windschattensituation etwas schief läuft, dann kann da schon eine Kettenreaktion ausgelöst werden. Das kann durchaus gefährlich sein."

Dass auch dieser Zwischenfall nicht ganz ohne war, zeigte sich am Ausmaß der Zerstörung - vor allem am BMW von Zanardi, den Rydell frontal aufgegabelt hatte. Lamm: "Beim Zanardi-Unfall war das Fahrwerk hinten links schwer beschädigt. Für das Team ist die Aufgabenstellung sofort glasklar, denn die WTCC ist eine typische Zweitagesveranstaltung, wobei alle Trainingseinheiten und das Qualifying in den Samstag gepackt sind."

Die Sicherheit steht immer im Vordergrund

"Der Unfall ist im ersten Freien Training passiert und damit beginnt für das Team natürlich ein Wettlauf gegen die Zeit. Erst einmal muss man wissen: Wie stark ist das Auto beschädigt? Können wir das vor Ort reparieren?" Wie sich in Monza herausstellen sollte, hielt sich der tatsächliche Schaden in Grenzen - Glück im Unglück für den Italiener beim Heimspiel. Doch bei der Reparatur gilt immer: "Die Betriebssicherheit des Autos muss im Vordergrund stehen."

Charly Lamm

Charly Lamm klärte 'Motorsport-Total.com' über die Folgen eines Rennunfalls auf Zoom

Zuweilen muss die Mechaniker-Truppe auch einmal in die Trickkiste greifen - so feiert in der WTCC ab und an das gute alte Klebeband ein Comeback. "Das hat man in der Vergangenheit im Rennsport schon öfters gesehen", meinte Lamm und beschrieb die weiteren Vorgänge in den Boxen: "Dabei zeigen die Rennteams quer durch das Fahrerlager dann schon ihr Talent und ihren Enthusiasmus und ihre wahre Klasse."

"Bei Alex wurde beim Weiterfahrennach dem Crash das komplette Fahrwerk herausgerissen, das ja ohnehin schon angerissen war. Das Team hat das Fahrwerk gewechselt, sodass er am Ende des zweiten Trainings noch einmal rausfahren konnte. Das war für ihn natürlich sehr wertvoll, denn so konnte er zumindest noch eine Runde zurücklegen. Da hat das Team gut reagiert und den Wagen wieder auf die Strecke zurückgebracht", fand Lamm lobende Worte für die Kollegen.

Kein T-Car: Die WTCC fährt auf nur einem Chassis ab...

"Alex' Veranstaltungsrhythmus wurde durch diesen Zwischenfall sicherlich durcheinander gebracht. Er konnte einerseits die erste Session nicht beenden und kam auch im zweiten Freien Training nur kurz zum Fahren. Inzwischen ist hier das Wettbewerbsniveau derart hoch, dass man nach einem solchen Problem mit einem Defizit in die Veranstaltung gehen muss", stellte Lamm heraus. "Das hat ihn sicherlich Potential oder Wettbewerbsfähigkeit für das Qualifying gekostet."

Viel hätte vermutlich nicht gefehlt und Alessandro Zanardi hätte sich die beiden Sprintrennen in Monza von der Tribüne aus ansehen müssen. Denn ein T-Car gibt es in der Tourenwagen-WM nicht. "Das Reglement der WTCC schreibt vor, dass ein Auto anfangs zur Veranstaltung erst zugelassen und dann abgenommen wird. Da geht es unter anderem um die Fahrgestellnummer. Sollte das Fahrgestell derart beschädigt werden, dass man das Chassis nicht mehr verwenden kann, dann ist man aus der Veranstaltung", erläuterte Lamm.

"Das heißt, dass man das Rennen genau mit dem Auto fahren muss, mit dem man die Veranstaltung beginnt" - ein Problem, wenn die Beschädigungen die Kapazitäten der Boxencrew sprengen. Aber kann es denn 'Fall X' überhaupt geben? Charly Lamm hält ein solches Szenario kaum für möglich: "Ich gehe davon aus, dass es keine Unfallsituation gibt, wo die Reparatur an der Nichtverfügbarkeit eines Ersatzteils scheitert."

Genug Ersatzteile in den Teamtrucks

"Das mag bei den Privatiers anders aussehen, aber bei den Werksteams sollte das jedenfalls nicht vorkommen. Man hat im Prinzip alles da und in den Lastwagen gelagert. Es fehlt lediglich ein Chassis, denn das dürfen wir nicht wechseln. Alles andere haben wir in ausreichender Zahl dabei. Wir haben Heckschürzen, Frontspoiler, Kotflügel, Reservegetriebe, Reservemotoren - einfach alles. Es wird also sicherlich nicht an den Teilen scheitern."

Augusto Farfus

Augusto Farfus legte seinen BMW 320si in Pau 2007 auf die falsche Seite... Zoom

"Nehmen wir aber einmal an, das Chassis wäre stark beschädigt", konstruierte der Technische Direktor des BMW Teams Germany kurzerhand ein Beispiel. "Man könnte es vielleicht noch reparieren, indem man versucht, das verschobene und verzogene Auto wieder zu richten. Da wird es aber schwierig, denn man müsste den Wagen im Grunde zu einer Karosseriewerkstatt schaffen und dann einen Fahrzeugspengler die Aufgaben übernehmen lassen."

"Dann stellt sich aber die Frage, ob das in der zur Verfügung stehenden Zeit überhaupt noch möglich ist und ob die Teamkapazität reicht, einen Wagen komplett neu aufzubauen", sagte Lamm, dem ein Ereignis aus der jüngeren Vergangenheit im Gedächtnis geblieben ist: Der schwere Unfall von BMW Team Germany Pilot Augusto Farfus in Pau 2007 (Zum Crash-Video bei 'Youtube'). Der Brasilianer hatte im Qualifying einen heftigen Überschlag hingelegt.

Farfus mit Überschlag und Comeback-Triumph

"Man muss sich die Situation vor Augen führen: Er stellt den Wagen auf Startplatz drei und ist dann kurz vor Ende des Trainings unterwegs zu einer noch schnelleren Runde", erinnerte sich Lamm. "Dabei trifft er einen Kerb zu hart und überschlägt sich. Er hat sich zwar auf Platz drei qualifiziert, doch der Wagen liegt auf dem Dach. So schwer der Überschlag ausgesehen hat, so viel kinetische Energie hat sich beim Abrollen vernichtet."

"Er ist zwar an allen Ecken angeschlagen, doch das Chassis war intakt. Da mussten wir das gesamte Fahrwerk und die gesamte Karosserie ausbeulen, was letztendlich die ganze Nacht über angedauert hat. Zum Warmup war das Auto dann wieder fertig. Augusto hat dann noch eine Strafversetzung bekommen und schaffte es im ersten Rennen auf P7 und hat dann aufgrund der umgekehrten Startaufstellung das zweite Rennen für sich entschieden."

"Das war eine sehr schöne Geschichte, wobei es dem ein oder anderen Teammitglied sicherlich heiß und kalt geworden ist. Dabei wurde auch die ein oder andere Träne verdrückt. Das war ein sehr schöner WTCC-Sieg", meinte Charly Lamm abschließend. Eine Geschichte, wie sie nur der Motorsport schreiben kann: Für Augusto Farfus war es ein fantastisches Comeback nach einem schweren Crash - für die Boxencrew des BMW Teams Germany ein Sieg im Rennen gegen die Zeit...