• 03.04.2010 05:37

  • von Dieter Rencken

Willis-Interview: "Bei weitem kein Formel-1-Standard"

Exklusives Interview mit Geoff Willis: Der HRT-Berater übt scharfe Kritik an Dallara und spricht über seine eigenen Pläne in und außerhalb der Formel 1

(Motorsport-Total.com) - Geoff Willis sorgte am 13. Februar für Schlagzeilen, als er überraschend bei den Wintertestfahrten in Jerez de la Frontera auftauchte und sich leichtsinnigerweise mit einem Notizblock fotografieren ließ, in dem "Dallara-Vorbereitungen" stand. Der Brite wurde von Colin Kolles als Technischer Berater angeworben, um das in HRT umbenannte Campos-Projekt in letzter Minute doch noch zu retten.

Titel-Bild zur News: Geoff Willis

Geoff Willis lässt kein gutes Haar am Dallara-Chassis des HRT-Rennstalls

Im Fahrerlager ist Willis ein geachteter Mann, schließlich baute er bei Williams und BAR Siegerautos. Zuletzt war er bei Red Bull unter seinem langjährigen Weggefährten Adrian Newey für die Zuverlässigkeit zuständig, die bei Sebastian Vettel in dieser Saison auffällig oft fehlt. Bei HRT kämpft Willis mit einem Dallara-Chassis, das er nicht selbst entwickelt hat, nicht um Grand-Prix-Siege, sondern ums nackte Überleben - wie lange noch, weiß er selbst nicht genau, wie er im Interview mit 'Motorsport-Total.com' verrät.#w1#

Frage: "Geoff, du kommst aus einem Siegerteam, aber jetzt arbeitest du für einen privaten Rennstall. Wie ist das?"
Geoff Willis: "Es ist eine echte Herausforderung, an diesem Ende der Boxengasse zu arbeiten. Da beginnst du erst zu verstehen, was du in den großen oder auch in den mittleren Teams als selbstverständlich angesehen hast und wie lange es dauert, so eine Organisation aufzubauen. Wir machen aber gute Fortschritte: In Bahrain waren wir noch sehr provisorisch unterwegs. In Melbourne konnten wir schon recht vernünftig fahren und mit einem Auto ins Ziel kommen, während das andere Auto mit einem technischen Defekt ausschied, was aber zum Lernprozess dazugehört."

110 Runden für HRT in Malaysia

"Hier hatten wir einen weitgehend reibungslosen Freitag. Wir haben ein bisschen am Setup gearbeitet und wir nähern uns langsam dem Punkt, an dem wir sagen können: So schnell ist dieses Auto. Das Ziel für das Wochenende ist, morgen einen guten Qualifyingtag zu erleben und im Rennen beide Autos über die Distanz zu bringen. Mehr dürfen wir uns im Moment nicht vornehmen. Ich glaube nicht, dass wir uns in Sachen Performance mit irgendjemandem messen können."

Frage: "Teamchef Colin Kolles hat uns in Australien erzählt, dass in der Entwicklung die Zuverlässigkeit der nächste Schritt sein muss, erst dann kommt die Performance. Wie siehst du den Entwicklungsprozess?"
Willis: "Bisher haben wir noch keine signifikanten Änderungen für die Zuverlässigkeit vorgenommen. Wir haben gemeinsam mit Xtrac eine Lösung für manche unserer Hydraulikprobleme gefunden, aber Zuverlässigkeit entsteht vor allem durch Aufmerksamkeit für das Detail und Sorgfalt. Wir müssen sehr rasch ein Entwicklungsprogramm starten, denn wir schleppen Probleme mit uns herum, die möglicherweise zu Ausfällen führen können."

"Außerdem rechnen wir damit, dass selbst unsere direkten Konkurrenten im Hinterfeld von Rennen zu Rennen schneller werden. Das ist auch für uns wichtig. Im Moment betrachten wir verschiedene Optionen, was für ein Entwicklungsprogramm möglich ist und wie schnell wir es umsetzen können. Realistisch betrachtet werden wir bis Barcelona keine neuen Teile bekommen - und vielleicht dauert es sogar noch länger. Was auch immer wir schnell erledigen können, werden wir anpacken, aber wir leiten das Entwicklungsprogramm gerade erst in die Wege. Der Vorlauf von der ersten Idee bis zum fertigen Teil am Auto beträgt acht Wochen."

"Realistisch betrachtet werden wir bis Barcelona keine neuen Teile bekommen." Geoff Willis

Frage: "Das Auto wurde von Dallara entwickelt und gebaut und hätte von Campos eingesetzt werden sollen. Wer kümmert sich nun um die Weiterentwicklung?"
Willis: "Das hängt davon ab, wie der Vertrag mit Dallara beendet wird, denn im Moment liegen alle Designinformationen bei ihnen. Um das Auto weiterentwickeln zu können, brauchen entweder wir die aerodynamischen Daten und Windkanalmodelle und Pläne - oder sie müssen es nach unseren Anweisungen machen. Das ist ein Punkt, der geklärt werden muss."

"Wenn du mit nichts in der Hand beginnst, kannst du die Entwicklung des Autos nicht zurückverfolgen - beziehungsweise wäre es sehr mühsam und würde mehrere Wochen in Anspruch nehmen. Dann brauchst du noch einmal ein paar Wochen, um einen Windkanal und CFD-Systeme in Betrieb zu nehmen, noch einmal ein paar Wochen, um zu verstehen, was du hast, und noch einmal ein paar Wochen, um Teile zu entwickeln und zu produzieren."

"Wenn es so läuft, dauert es Monate, bis Neuerungen kommen - und das ist für dieses Team zu spät, also müssen wir eine schnellere Möglichkeit finden, um an der Performance zu arbeiten. Im Moment sondieren wir unsere Optionen. Vielleicht schön nächste Woche werden wir entscheiden, wie wir weiter verfahren wollen."

HRT-Engagement auf Probe

Frage: "Du bist ungefähr einen Monat vor Bahrain zum Team gestoßen, richtig?"
Willis: "Das kommt ungefähr hin. Ich bin an mehreren Projekten involviert und wurde gefragt, ob ich mich diesem auf Vollzeitbasis anschließen möchte. Ich war mir zunächst nicht sicher, sondern wollte mir erst einmal anschauen, wie sich alles entwickelt. Kurzfristig war es sehr interessant, denn es war Krisenmanagement notwendig, um das Auto nach Bahrain zu bekommen."

"Jetzt muss ich mir langsam ernsthafte Gedanken machen, ob es für mich interessant ist, bei einem Team zu bleiben, dessen Auto am Ende des Feldes herumfährt. Ich bin daran interessiert, ein Auto schneller zu machen und ein Team zu managen. Ob es um den WM-Titel geht oder nur darum, von hinten nach vorne zu kommen, macht mir nicht viel aus, aber es muss genug Geld vorhanden sein, um etwas bewegen zu können. Dann kann so ein Projekt eine interessante Herausforderung sein. Ich muss für mich selbst entscheiden, ob das hier der Fall ist."

Frage: "In Bahrain und Australien gab es Kommentare, dass der Dallara nicht gerade das fortschrittlichste Formel-1-Auto ist. Was ist dir durch den Kopf gegangen, als du es zum ersten Mal gesehen hast?"
Willis: "Ehrlich gesagt bin ich enttäuscht. Ich hatte mehr erwartet. Es gibt viele Gründe, weshalb das Design beeinträchtigt ist, nicht zuletzt natürlich die Unterbrechung des Projekts. Auf dem Weg nach Bahrain wurden sozusagen viele Kurven abgekürzt, um es rechtzeitig zu schaffen."

"Auf dem Weg nach Bahrain wurden viele Kurven abgekürzt, um es rechtzeitig zu schaffen." Geoff Willis

"Trotzdem bin ich enttäuscht über die Technologie des Autos, denn die entspricht nicht modernen Formel-1-Standards - und zwar bei weitem nicht. Das liegt am Zeitmangel, das liegt an der Erfahrung, das liegt am Geld, aber selbst in Anbetracht dieser Faktoren war ich sehr enttäuscht über das, was ich vorgefunden habe. Wir müssen es besser machen. Ob mit oder ohne Dallara, das wird sich in den nächsten Wochen entscheiden."

Frage: "Wenn du sagst, du bist enttäuscht, meinst du dann die Performance, Aspekte des Designs oder etwas ganz anderes?"
Willis: "Über die Gesamtperformance mache ich mir weniger Sorgen, denn das Aeroprogramm wurde bereits vor einiger Zeit gestoppt. Man kann das Aeroprogramm aber mit dem von Lotus vergleichen - und dieses Auto ist deutlich langsamer als der Lotus."

"Und was Produktionsqualität, Designqualität und die Verfeinerung des Designs angeht, wurden viele Tricks übersehen, die für alle anderen in der Boxengasse heutzutage selbstverständlich sind. Die Formel 1 hat sich in den vergangenen Jahren jedes Jahr massiv weiterentwickelt. Sogar wenn man nur fünf Jahre betrachtet, ist man manchmal ganz baff über die Qualitätsverbesserungen der Autos. Da kann man leicht den Anschluss verlieren, wenn man nicht in der Formel 1 ist."

Enttäuscht vom Dallara-Chassis

Frage: "Mir wurde gesagt, dass das Auto nicht besonders benutzerfreundlich ist. Stimmt das?"
Willis: "Die Arbeit damit ist nicht einfach, das stimmt, und das hat mich sehr überrascht, denn ich hätte gedacht, dass ein erfahrener Rennwagenbauer wie Dallara gerade das sehr gut hinbekommt. Das ist aber nicht der Fall. Es ist eine Qual, wenn man während einer Session das Setup umbauen oder andere Wartungsarbeiten vornehmen möchte. Diesbezüglich ist es ein schwieriges Auto."

Frage: "Kannst du verraten, in welche anderen Projekte du momentan involviert bist?"
Willis: "Die meisten befinden sich noch in einem informativen Stadium, manche haben nicht einmal etwas mit Motorsport zu tun. Ich sehe mich schon lange danach um, was nach der Formel 1 kommen könnte. Ich habe in der Formel 1 zumindest noch ein großes Projekt vor mir - und vielleicht werde ich es auch nie ganz sein lassen können. Ich denke aber langsam darüber nach, ein vernünftiges Ausmaß an Engagement in der Formel 1 mit einem anderen Projekt zu kombinieren. Es gibt viele Ingenieursbereiche, in denen man Formel-1-Technologie anwenden kann."

Frage: "Meinst du damit die Marine oder die Luftfahrt?"
Willis: "Mit der Marine habe ich gar nichts am Hut, aber mit dem Automobilbereich - grundsätzlich mit allem, wo sich Formel-1-Technologie anwenden lässt. Es gibt außerdem Technologien, die in der Formel 1 nicht mehr verwendet werden dürfen. Wir haben in den vergangenen vier oder fünf Jahren viele Fähigkeiten gelernt, die Stück für Stück wieder zurückgefahren wurden, um Kosten zu sparen, wobei ich bezweifle, dass das gelingen wird."

Karun Chandhok

Bei neuen Rennstall HRT von Colin Kolles läuft derzeit noch nicht alles rund Zoom

"Mir schwirren zum Beispiel Elektroautos im Kopf herum oder Elektroantriebe in komplexen Geräten - das ist eine Richtung, in die sich die Formel 1 in den vergangenen zehn Jahren ohne Einschränkungen wahrscheinlich auch entwickelt hätte. Du musst dir die Frage stellen: Es gibt hunderte oder tausende Ingenieure in der Formel 1, die über diese Fähigkeiten verfügen. Was kannst du damit außerhalb der Formel 1 machen? Und es geht um die Herangehensweise an die Problemlösung, die in der Formel 1 einzigartig ist. Jetzt geht es darum, diese Fähigkeiten außerhalb der Formel 1 zu verkaufen."

Frage: "Wann wirst du entscheiden, ob du dich dem HRT-Projekt verschreiben willst oder nicht?"
Willis: "Sehr bald. Das muss auch so sein, denn wir müssen das Auto entwickeln. Wenn ausreichend Ressourcen - wobei mir klar ist, dass nicht so viel Geld vorhanden ist wie bei Red Bull - und die nötige Struktur zusammengestellt werden, dass es eine interessante Herausforderung werden kann, dann sind sehr bald die Zusagen von einigen Leuten erforderlich."

Frage: "Wirst du dich noch vor China entscheiden?"
Willis: "Ja, ich hoffe es. Wenn nicht mehr davor, dann kurz danach."