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  • 27.01.2009 18:56

Eine ausführliche Regelkunde mit Renndirektor Charlie Whiting

Charlie Whiting im ausführlichen Interview über die neuen Regeln in der Formel 1 - Klärung der Motorenfrage, die neue Aerodynamik und KERS

(Motorsport-Total.com) - An der Schwelle zu einer neuen Formel-1-Saison müssen sich sowohl Teams und Fahrer als auch die Fans mit den Regeländerungen für 2009 auseinandersetzen. Knapp acht Wochen vor dem Auftakt in Melbourne nimmt FIA-Renndirektor Charlie Whiting in einem Interview ausführlich Stellung zu den Neuerungen, erläutert die jeweiligen Hintergründe und geht näher auf die Kernpunkte des neuen Reglements ein. Von Aerodynamik über KERS und Slicks: Whiting erklärt die neue Formel 1...

Titel-Bild zur News: Charlie Whiting

Rennleiter Charlie Whiting erklärt die Regeländerungen für 2009 im Detail

Aerodynamik & Abtrieb

Frage: "Charlie, welche Idee verbirgt sich hinter den Regeländerungen bei der Aerodynamik?"
Charlie Whiting: "Das sind die Ergebnisse der Overtaking Working Group, wie wir sie genannt haben. Sie besteht aus denn Technischen Direktoren von Renault, Ferrari und McLaren - und auch ich gehöre ihr an. Nachdem wir viele Nachforschungen betrieben haben, sind wir auf ein Paket gestoßen, das einem nachfolgenden Wagen weniger Turbulenzen beschert und somit das Überholen weniger schwierig gestaltet. Das Schlüsselelement hierfür ist ein neutraler Bereich am Frontflügel (50 Zentimeter an der Spoilermitte; Anm. d. Red.). Das Aussehen dieses Profils und seine Position im Hinblick auf die Bezugsebene sind peinlich genau festgelegt."#w1#

"Das ist der wichtigste Teilbereich. Der Frontflügel ist viel breiter und es gibt jetzt keine Windleitbleche und Barge Boards mehr. Der Bereich, wo man sie einsetzen könnte, wurde streng limitiert, denn dort ist nur Platz für sehr kleine Elemente. Außerdem haben wir den Diffusor verkleinert sowie den Heckflügel erhöht und schmaler gemacht. Ich kann an dieser Stelle nicht ins Detail gehen, warum wir diese Schritte eingeleitet haben. Wir sind aber nach fünf Sessions im Windkanal darauf gestoßen. Das ist sehr genau durchdacht. Jetzt müssen wir allerdings erst einmal abwarten, wie es auf der Rennstrecke funktioniert."

"Man weiß nie genau, wie viel die Ingenieure schon zurück gewonnen haben." Charlie Whiting

Frage: "Wieviel Abtrieb wurde aufgrund dieser Maßnahmen eingebüßt?"
Whiting: "Unsere Zielvorgabe war, 50 Prozent weniger zu haben. Aber wie üblich bei diesen Dingen: Man weiß nie genau, wie viel die Ingenieure in der Zwischenzeit schon zurück gewonnen haben."

Frage: "Sind an den neuen Wagen schon unerwartete Elemente aufgetaucht?"
Whiting: "Wir machen die Regeln doch, damit die Teams ihre Wagen so eng wie möglich an den technischen Vorgaben konstruieren können. Sie haben an Bereichen gearbeitet, woran sie sich früher nicht einmal versucht haben. Da können wir nun wirklich nichts dagegen tun. Ich bin recht zuversichtlich, dass wir den Abtrieb deutlich reduzieren konnten - aber das ist nicht das Entscheidende. Was wirklich zählt sind die Auswirkungen. Solange das passt, ist alles in Ordnung."

Slicks & Reifenfragen

Frage: "Das muss man wohl im Zusammenhang mit den Slicks sehen..."
Whiting: "Ja. Eine Zunahme des mechanischen und eine Abnahme des aerodynamischen Grips waren genau das, was wir erreichen wollten. Mit den Slicks sollten wir etwa sechs bis acht Prozent mehr mechanischen Grip erzielen können - aber das wird von den Mischungen abhängen. Bridgestone wird eine Reihe von verschiedenen Reifen anfertigen. Insgesamt werden es vier unterschiedliche Sorten sein. Diese befinden sich noch immer in der Entwicklung, wir wissen also noch nicht genau, wie das später sein wird."

Slicks

Die Slicks kehren zurück: Erstmals seit 1997 fährt die Formel 1 wieder mit Slicks Zoom

Frage: "Stimmt es, dass Bridgestone die Differenz zwischen den beiden Reifenmischungen an einem Rennwochenende vergrößern will?"
Whiting: "Das ist richtig. Auch in diesem Jahr werden die Fahrer im Rennen zwei verschiedene Slick-Reifenmischungen einsetzen müssen. Wir wollten einen größeren Unterschied zwischen den beiden Spezifikationen. 2008 war diese Lücke zum Teil eine Sache von ein bis zwei Zehntelsekunden. Wir halten es für besser, wenn dieser Abstand größer ist. Die Ingenieure von Bridgestone arbeiten daran."

Frage: "Im Winter ging das Gerücht um, dass die Unterschiede riesig seien..."
Whiting: "Was bei den Wintertestfahrten passiert ist, ist sicherlich nicht repräsentativ für das, was sich bei den ersten vier Rennen in wärmeren Bedingungen ereignen wird. Das ist aber sicherlich etwas, was wir genau im Auge behalten werden. Wir wollen gewiss keine zu große Lücke zwischen den beiden Reifentypen bei einem Rennen. Aber ich denke, es würde allen zum Vorteil gereichen, wäre der Abstand etwas größer."

Frage: "Was wäre der ideale Unterschied?"
Whiting: "Meine persönliche Meinung ist: 0,5 Sekunden. Aber das gilt nur für mich. 2008 war der Unterschied zwischen den beiden Mischungen zuweilen nicht vorhanden. Da konnte man wirklich keine Differenz erkennen."

KERS - Kinetic Energy Recovery System

Frage: "Einige Teams scheinen gerade so in der Lage zu sein, ihr KER-System einzusetzen. Bereitet dir das Sorgen?"
Whiting: "Der Grund für KERS ist doch ganz klar: Wir wollen ein Schaufenster für Technologien sein. Ich denke, dass es den Herstellern helfen wird, wenn die Formel 1 ein solches System einsetzt. Die Formel 1 leistet also etwas, was die Entwicklung auf dem Straßenwagen-Sektor beschleunigen wird. Auf der anderen Seite geht es natürlich um das Überholen. Wenn ein Fahrer die zusätzlichen PS frei nach Gusto zum Überholen einsetzen kann, dann hat das durchaus das Potential, den Rennsport zu verbessern. Das hoffen wir zumindest."

Frage: "Die Teams setzen in diesem Bereich sehr unterschiedliche Lösungen ein. Ist es gut für die Formel 1, wenn für eine technische Herausforderung so viele unterschiedliche Ansätze Verwendung finden?"
Whiting: "Das ist schwer zu sagen. Wahrscheinlich haben die Teams die Dinge so gemacht, weil sie gute Gründe dafür hatten. Die beste Lösung wird sich aber wahrscheinlich am Ende durchsetzen. Das passiert immer, wenn wir etwas Neues bringen. Alle Teams haben hervorragende Simulations-Werkzeuge zur Hand und haben diese dazu benutzt, die beste Technologie ausfindig zu machen."

"KERS wird das Interesse an der Formel 1 deutlich erhöhen. " Charlie Whiting

"Aktuell gibt es wohl noch keinen Vorreiter, aber der wird sich schon noch herauskristallisieren. Da bin ich mit sicher. KERS wird zudem noch das Interesse an der Formel 1 deutlich erhöhen. Es wird sehr spannend werden zu sehen, wann die Fahrer es einsetzen. Die Regeln sagen nämlich ganz klar, dass die Benutzung der Zusatzpower vollkommen unter der Kontrolle des Fahrers zu stehen hat. Das ist das Wichtige dabei."

Frage: "Manche Leute machen sich Sorgen um die Sicherheit von KERS. Was tut die FIA um sicherzustellen, dass dieses System keine Probleme verursacht?"
Whiting: "Durch die Technische Arbeitsgruppe haben wir eine Arbeitsgruppe für KERS ins Leben gerufen, deren Vorsitz BMW innehat. Sie haben sich sehr oft getroffen und eine lange Liste mit Vorschlägen erstellt. Teile davon sind mittlerweile schon zu verbindlichen Regeln geworden und einige Elemente daraus bilden die Basis für ein Dokument, das wir an alle Rennstrecken verteilen werden, die einen Grand Prix austragen."

"Die Teams nehmen das in Bezug auf ihre eigene Sicherheit natürlich sehr genau. Sie schauen sich auch an, wie die Streckenposten mit liegengebliebenen Rennwagen umgehen müssen. Es wird beispielsweise eine KERS-Warnlampe auf allen Autos geben. Die Streckenposten werden anhand unserer Dokumentation geschult. Außerdem sollten die Systeme an sich logischerweise sicher sein. Sollte es ein Risiko geben, dann muss das dem Streckenposten bekannt sein, wenn er sich dem Wagen nähert."

KERS-Aufkleber

"Obacht: KERS an Bord" - ab sofort stehen die Rennwagen unter Hochspannung... Zoom

"Er sollte hingehen, sich das Warnlicht ansehen und wenn dieses das falsche Signal zeigt, den Wagen auf keinen Fall berühren. Die Streckenarbeiter werden auch dahingehend unterrichtet, wie sie Teile einsammeln sollen, was durch einen klaren Farbcode geregelt werden wird. Wenn die Teile möglicherweise eine große Spannung enthalten könnten, dann müssen die Leite wissen, wie sie sie bewegen können. Sie werden zusätzlich Handschuhe tragen, die bis 1.000 Volt einsetzbar sind."

Frage: "Wie ist es um die Sicherheit der KERS-Komponenten und ihren Einbau in die Autos bestellt?"
Whiting: "Das liegt in der Verantwortung der jeweiligen Teams. Die Elektronikspezialisten tauschen sich untereinander aus und haben einige Möglichkeiten entdeckt, wie sie sich aus Schwierigkeiten heraushalten können."

Motoren-Upgrades

Frage: "Es gibt noch immer große Unsicherheit darüber, wie viele Motoren die Teams im Laufe der Saison einsetzen dürfen..."
Whiting: "Es sind genau acht Motoren für das gesamte Jahr. Ein Fahrer wird bestraft, wenn er das neunte Aggregat einsetzt. Die Teams können die Motoren also so nutzen, wie sie möchten. Es gibt keine fortdauernde Zählung bei den Rennen, weil das nicht mehr länger vonnöten ist. Die Motoren müssen also nicht drei komplette Veranstaltungen überstehen. In der Vergangenheit sind die für zwei Rennen bestimmten Motoren nur am Samstag und am Sonntag zum Einsatz gekommen."

"Bei den jetzigen 17 Grands Prix müssen die Aggregate an allen drei Tagen eines Rennwochenendes eingesetzt werden. Die Teams könnten also einen Freitagsmotor einsetzen, der beispielsweise an den ersten vier Rennwochenenden zum Einsatz kommt. Dann könnten sie den Motor herausnehmen und für Samstag und Sonntag einen anderen verwenden. Was wir dabei beachten müssen - und das ist zusätzliche Arbeit: Wir müssen sicherstellen, dass all diese Motoren versiegelt bleiben und nicht mehr angerührt werden."

"Damit hat sich das Thema bis 2012 erledigt." Charlie Whiting

Frage: "Sobald man den Event mit einem Motor begonnen hat, darf man das Aggregat also wechseln, wann man will?"
Whiting: "Ganz genau."

Frage: "Was die Performance angeht: Wie viel durften die Teams - besonders Renault - nachrüsten?"
Whiting: "Ich kann natürlich keine vertraulichen Informationen preisgeben. Wir haben allerdings allen Teams die Möglichkeit gegeben, eine Liste mit Dingen einzureichen, die sie gerne ändern würden, um eine Gleichheit auf dem Motorensektor zu erreichen. Es gab offensichtlich einige Leistungsunterschiede, die so nicht vorgesehen waren. Dann ist Honda ausgestiegen und es wurde klar, dass es ihnen an Power gefehlt hat."

"Die Hersteller sind dann übereingekommen, dass sie keine Veränderungen an den Motoren vornehmen wollten und haben einzig Renault erlaubt, etwas zu tun. Das könnte man wohl als kleines Upgrade werten. Das ist eine einmalige Sache und keine fortlaufende Geschichte. Die Teams haben ihre Listen mittlerweile eingereicht und wir haben zugestimmt. Damit hat sich das Thema bis 2012 erledigt."

Saftey-Car-Regeln

Frage: "Es fiel 2008 manchmal schwer, den Rennen zu folgen, wenn das Safety Car zum Einsatz kam. Wird die Regel in diesem Jahr geändert?"
Whiting: "Ja. Die Regel, welche wir 2007 eingeführt haben, war schlecht. Wir gehen nun zur Regel von 2006 zurück. Der einzige Unterschied ist, dass wir nun eine Minimalzeit für den Weg zur Box einführen. Wenn das Safety-Car herausfährt, dann geht eine Nachricht an alle Autos, die Standardelektronik schaltet in den 'Safety-Car-Modus'."

"Sobald die Meldung im Auto eintrifft, steht die jeweilige Position auf der Strecke fest, und es wird eine Minimalzeit berechnet. Der Fahrer muss diese Vorgabe akzeptieren. Sie wird ihm im Display angezeigt. Wir hatten damals die Schließung der Boxengasse veranlasst, weil die Piloten zu schnell zur Box jagen wollten. Das ist nun vorbei. Man wird keine schnellere Rundenzeit erreichen können als die Zeit, die im Display angezeigt wird."

Privattests & Nutzung von Windkanälen

Frage: "Welche weiteren Maßnahmen zur Kostenreduzierung wurden ergriffen?"
Whiting: "Wir haben innerhalb des Regelwerks die maximalen Testkilometer von 30.000 auf 15.000 reduziert. Außerdem wird es keine Tests während der Saison geben. Das bedeutet, dass es ab sieben Tage vor dem ersten Rennen bis zum 31. Dezember des gleichen Jahres keine Tests gibt. Einzige Ausnahme sind acht Tage Aerodynamiktests auf einer Geraden."

Mark Webber

Die Arbeiten im Windkanal sind ab 2009 auf 40 Stunden pro Woche beschränkt Zoom

Frage: "Außerdem wird die Nutzung der Windkanäle eingeschränkt..."
Whiting: "Das stimmt. Es gibt nicht mehr als vierzig Stunden pro Woche für jedes Team."

Frage: "Warum haben sie dieses Maß gewählt und was soll damit erreicht werden?"
Whiting: "Bisher haben die Teams den Windkanal 24 Stunden lang sieben Tage pro Woche genutzt. Man arbeitete in drei Schichten, auch die Modellbauer. Das war eindeutig für solche Teams ein Problem, die solche Ressourcen gar nicht hatten. Mit vierzig Stunden pro Woche sollte jedes Team leben können.

Frage: "Können sie überhaupt überprüfen, ob nicht irgendjemand einen Subunternehmer mit Versuchen in einem privaten Windkanal beauftragt?"
Whiting: "Wir schauen uns das ganz genau an. Sollte sich herausstellen, dass irgendjemand etwas unter der Hand macht, dann gibt es schwerwiegende Probleme. Wir nehmen außerdem Maßnahmen in Angriff, die verhindern sollen, dass überhaupt jemand auf eine solche Idee kommt."