Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat: Mercedes-AMG

Als einzige große DTM-Marke hat Mercedes-AMG beim Finale keine Chance mehr auf den Titel: Was in Spielberg schieflief und wieso es nicht nur an der Einstufung liegt

Liebe Leserinnen und Leser,

Titel-Bild zur News: Luca Stolz

Mercedes-AMG ist im DTM-Titelkampf als einziger großer Hersteller ohne Chance Zoom

jahrelang hieß es, die drei großen deutschen Hersteller Mercedes, Audi und BMW würden sich in der DTM alles untereinander ausmachen. Sogar von einer "deutschen Mafia" war bei internationalen Herstellern die Rede - und es war ein Mitgrund, warum die Internationalisierung der Serie nur schleppend funktionierte und in Class-1-Zeiten keine neuen Hersteller kamen.

Doch 2023 gehen die Uhren anders: Der Titelkampf spitzt sich vor dem Finale in Hockenheim auf Lamborghini-Ass Mirko Bortolotti und Porsche-Senkrechtstarter Thomas Preining zu. Und mit Mercedes-AMG ist ausgerechnet die Marke, die jahrelang fast sinnbildlich für die DTM stand, nach Spielberg aus dem Titelrennen, während Audi und BMW wohl nur theoretische Chancen haben.

Das ist selbst in der GT3-Ära seit 2021 neu: Denn im ersten Jahr holte noch Maximilian Götz mit maßgeblicher Unterstützung seiner Kollegen den bislang letzten DTM-Titel für die Marke mit dem Stern. Und im Vorjahr forderte Lucas Auer im Winward-Mercedes Sheldon van der Linde bis zum Schluss heraus und wurde Vizemeister.

Mercedes-AMG trotz der meisten Autos ohne Chance

Aber wieso ist Mercedes-AMG dieses Jahr in der DTM als einzige große deutsche Marke vor dem Finale aus dem Rennen, obwohl man mit sechs Boliden neben Porsche die meisten Autos einsetzt? Luca Stolz ist mit 115 Punkten auf Platz sechs in der Gesamtwertung bester Mercedes-Pilot. Zum Vergleich: Leader Preining hat 190 Punkte auf dem Konto - bei noch 56 zu holenden Punkten.

Und auch die Teamwertung sagt alles: HRT ist als bester Mercedes-Rennstall hinter Teams vier anderer Marken Fünfter - und holte damit weniger als halb so viele Punkte wie die führende Porsche-Truppe Manthey EMA.

Vor allem in Spielberg war der Unmut bei den Mercedes-AMG-Teams groß. "Das ist echt ein Witz", schimpfte ein Mercedes-AMG-Werksfahrer hinter vorgehaltener Hand über die Balance of Performance. Denn während am Samstag Maro Engel als einziger Pilot vorne mitmischte und durch die starke Form bei Regen Fünfter wurde, gab es am Sonntag mit Platz zehn als Highlight durch Arjun Maini ein Debakel.

Es liegt nicht nur an der BoP

Dabei sei der Inder das Rennen seines Lebens gefahren, sagen einige bei HRT. Klar liegt der Kurs in Spielberg dem reifenschonenden Mercedes-AMG GT3 nicht wirklich, weil es durch den glatten Asphalt und die langen Geraden schwierig ist, Energie in die Reifen zu bringen, aber bei den Mercedes-Teams hat man auch strategische Fehler gemacht.

Nach dem Crash von David Schumacher im Samstag-Qualifying setzte Winward bei Lokalmatador Auer beinhart bis zum Schluss auf Slicks, obwohl die Sektorenzeiten zeigten, dass der Regenreifen auch bei kaum Wasser auf der Strecke besser auf Temperatur kommt.


DTM Spielberg 2023: Bortolotti-Pech bei BMW-Dominanz

Rene Rast gewinnt am Sonntag in Spielberg sein erstes Rennen im BMW vor Schubert-Teamkollege Sheldon van der Linde. Dritter wird Titelfavorit Thomas Preining, dessen Konkurrent Mirko Bortolotti einen Tag zum vergessen erlebt ...   Weitere DTM-Videos

Und im Rennen machte man dann den gleichen Fehler noch einmal und schickte Auer bei ähnlichen Bedingungen vom Ende des Feldes auf Slicks ins Rennen, während fast das gesamte Feld auf Regenreifen war. Was mit denen möglich gewesen wäre, zeigte Ricardo Feller, der im Abt-Audi von Startplatz 26 Dritter wurde.

Kreative Pressemitteilung nach Spielberg

Am Sonntag ging dann tatsächlich nichts: Das zeigt die Analyse, bei der die AMG-Piloten abgesehen von Maini eine halbe Sekunde pro Runde auf die überlegenen BMW-Rivalen verloren. Nur Audi war noch schlechter eingestuft. Nach dem Wochenende musste selbst die Mercedes-AMG-Presseabteilung kreativ sein - und titelte bei der Pressemitteilung: "Mercedes-AMG Teams mit überzeugenden Überholmanövern am Spielberg". Ein Verweis auf die 22 Plätze, die Auer an beiden Tagen in den Rennen gutgemacht hat.

Aber ein verpatztes Rennwochenende ist noch kein Grund dafür, dass man im Titelkampf nur Statist ist. Es stimmt, dass Mercedes-AMG dieses Jahr bei der BoP nicht gerade begünstigt wurde. Das ist teilweise darauf zurückzuführen, dass die SRO beim neuen Porsche und dem stark überarbeiteten Lamborghini wegen mangelnder Datentiefe noch nicht ganz treffsicher ist, während der Mercedes-AMG GT3 2020 sein bislang letzte Update erhielt und als ältestes Auto für die Verantwortlichen keine Geheimnisse mehr birgt.

Aber auch die Teamleistungen erinnern 2023 an eine Achterbahnfahrt: Zu Saisonbeginn waren weder HRT noch Winward gut aufgestellt und hatten Schwierigkeiten, die Pirellis im Qualifying ins richtige Arbeitsfenster zu bekommen. Und auch Topmann Auer benötigte nach seinem heftigen Daytona-Crash und seinen Wirbelbrüchen noch etwas Zeit, um zu alter Stärke zurückzufinden.

Topmann Engel kam im Qualifying vom Kurs ab

Als die beiden Teams das Reifenrätsel nach der schwierigen Anfangsphase endlich besser verstanden, lief es beim am Anfang so starken und in der DTM neuen Landgraf-Team plötzlich nicht mehr perfekt.

Topmann Engel, der lange in der Meisterschaft bester Mercedes-Pilot war, kam nach der Dominanz und der Pole in Zandvoort nur mehr auf die Startplätze 14, 18, 19, 7, 19, 23, 14, 6, 6 und 23. Und die DTM ist dieses Jahr eine Qualifying-Meisterschaft: Wer weit hinten startet, hat im Rennen keine Chance.

Und so gab es kein Mercedes-Team, das über die Saison hinweg das Niveau halten konnte, obwohl Mercedes-AMG als einziger Hersteller sogar auf teamübergreifenden Datentausch setzt. Und auch keiner der drei "Performance-Driver" Stolz, Auer und Engel, wie man die Topfahrer im Mercedes-Kader nennt, war dieses Jahr konstant stark, was auch auf die zum Teil wenig vertrauten Pirellis zurückzuführen war.

Hätte Mercedes-AMG auf Marciello setzen müssen?

Die Mercedes-AMG-Entscheidungsträger Stefan Wendl und Thomas Jäger müssen sich aber die Frage gefallen lassen, ob man nicht Raffaele Marciello für die DTM hätte nominieren müssen. Denn der Italiener beherrscht die schwierig auf Temperatur zu bringenden Pirelli-Reifen auch ohne Heizdecken aus dem ADAC GT Masters - und gilt als Qualifying-Maschine.

Raffaele Marciello

Marciello wurde im Vorjahr mit Landgraf im ADAC GT Masters Champion Zoom

Er stand aber - wie man aus dem Mercedes-Umfeld hört - nicht zur Verfügung. Mercedes-AMG argumentiert, er wäre bereits für die britische GT-Meisterschaft zugesagt gewesen. Oder lag es eher daran, dass er mit Jahresende die Marke - entweder zu Lamborghini oder BMW - verlässt, was bei einem Meistertitel unangenehm wäre?

Abgesehen davon wird es Zeit, die Weichen für die Zukunft zu stellen: Denn seit über einem Jahr wird hinter den Kulissen über einen GT3-Nachfolger des aktuellen Boliden diskutiert, nur will sich in Zeiten der Elektrowende offenbar keiner den Schuh anziehen, die Investition in den Verbrenner auch zu beschließen.

Das wird aber notwendig sein, will man mit der neuen Generation an GT3-Boliden mithalten. Denn seit dem Vorjahr haben BMW, Porsche, Ferrari, Ford und Chevrolet neue Autos gebracht, bei Lamborghini arbeitet man an einem neuen Fahrzeug. Abgesehen davon wird der aktuelle V8-6,3-Liter-Saugmotor des Mercedes-AMG GT3 auch in der Serie längst nicht mehr eingesetzt.

Und Insider sagen, dass man im BoP-Poker mit einem Turbomotor besser gerüstet ist als mit einem Sauger.

Sven Haidinger