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Mercedes Simplex 28/32 PS (1904) im Fahrbericht: Moderner Methusalem
Wie fährt sich ein 120 Jahre altes Auto? Dieser Frage sind wir am Steuer eines Mercedes Simplex von 1904 nachgegangen: Eine einmalige Erfahrung
(Motorsport-Total.com/Motor1) - Ehrfurcht, die: Hochachtung, Respekt vor der Würde, Erhabenheit einer Person, eines Wesens oder einer Sache. So definiert es der Duden. Allerdings dachten die Sprach-Päpste dabei wohl nicht an einen Mercedes Simplex von 1904. Ein Auto, älter als jeder lebende Mensch auf diesem Planeten. Und meine Wenigkeit darf es fahren.
© Motor1.com Hersteller
London to Brighton Veteran Car Run im Mercedes Simplex von 1904 Zoom
Kein Wunder, dass sich schon Tage vor der Begegnung mit dem sehr alten Blech die Worte "Ehre" und "Furcht" in meinem Hirn umhertanzen. Und zwar keinen Walzer, sondern eher Techno. Ich bin nun schon 17 Jahre im autojournalistischen Geschäft tätig und habe eine dreistellige Zahl an Autos unter dem Hintern gehabt bis hin zum Porsche 959 S.
Aber das, was mich im Vorfeld des London to Brighton Veteran Car Run erwartet, macht mich dennoch nervös. Ein Mercedes Simplex 28/32 PS aus dem Jahr 1904. Das mit Abstand älteste Auto, welches ich jemals in die Finger bekam. Werde ich es fahren können, ohne mich vor versammelter Truppe zu blamieren? Oder es gar kaputt machen?
Zum Glück gibt es zwei Dinge, die meinen Puls beim Erstkontakt senken: Erstens fahre ich den Simplex auf einer abgesperrten Rundstrecke im britischen Brooklands. Zweitens ist Klaus an meiner Seite. Er kümmert sich als Mechaniker um den Mercedes-Methusalem und erklärt mir geduldig die Details.
Ein Kaiser und nur wenig Fußball
Aber lassen Sie uns zunächst gemeinsam einen DeLorean suchen und die Zeitreise-Uhr zurück auf 1904 stellen. Deutschland trägt noch schwarz-weiß-rot, nennt sich Reich, hat Kolonien und einen Kaiser. Im aufstrebenden Fußballsport gründen sich sowohl die FIFA als auch Vereine in Braunschweig, Freiburg, Leverkusen sowie ein gewisses Westfalia Schalke. Im amerikanischen St. Louis finden die dritten olympischen Sommerspiele statt, eine Witzveranstaltung mit Tauziehen im Rahmen einer Weltausstellung. Highlights dort: Funk und der erste Fotoautomat.
In Sachen Mobilität liegt der erste Motorflug nur ein knappes Jahr zurück, richtig Stoff gibt die Eisenbahn: 1903 erreicht ein elektrischer AEG-Schnelltriebwagen sagenhafte 210 km/h. Das Auto hingegen steckt noch in den Kinderschuhen: Im gesamten Reich werden 1906 knapp über 5.000 Pkw gebaut, insgesamt sind nur 10.000 Pkw zugelassen.
Kein Wunder, denn Automobile sind sagenhaft teuer: Für die 20.000 Goldmark des viersitzigen Simplex Phaeton bekommt man 1904 auch eine sehr üppige Villa. Und die Motorkutschen sind nicht einfach bedienen. Aber wer 20.000 Goldmark übrig hat, für den ist ein Chauffeur, der zugleich Mechaniker ist, kein Problem. Mal eben hineinspringen, Schlüssel drehen und los? Von wegen.
Simplex, nicht simpel
Denn so Simplex, wie es sein Name verheißt, ist dieser Mercedes (den Namen seiner Tochter spendierte Emil Jellinek der Daimler-Motorengesellschaft) dann doch nicht. Obwohl er in vielen Bereichen bereits in Moderne weist: Wabenkühler, tiefer Schwerpunkt statt motorisierte Kutsche und H-Schaltung. Und Kotflügel, die ihrem Namen alle Ehre machen. Denn 1904 lag sehr viel auf den Straßen, nur kaum Asphalt.
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London to Brighton Veteran Car Run im Mercedes Simplex von 1904 Zoom
Mangels Windschutzscheibe taten Simplex-Piloten gut daran, sich wetter- und staubgeschützt einzupacken. Langer Ledermantel, Stiefel plus Schutzbrille lautete meist der Dresscode. Blicken wir auf ein paar schnelle Simplex-Daten.
Technische Daten Mercedes Simplex 28/32 PS (1904)
Radstand: 2.620 oder 3.020 mm
Spurweite: 1.420 mm
Länge Doppelphaeton: 4.250 mm
Breite Doppelphaeton: 1.810 mm
Höhe Doppelphaeton: 2.255 mm (mit geschlossenem Verdeck)
Gewicht des Fahrgestells: 1.000 kg
Leergewicht (Wagengewicht): 1.250 kg
Zulässiges Gesamtgewicht: 1.650 kg
Höchstgeschwindigkeit: 60 km/h
Die weiteren technischen Details: Viertakt-Vierzylinder-Reihenmotor, Bohrung x Hub: 110 x 140 mm, 5.322 ccm Hubraum, aber dennoch nur 32 PS bei 1.200 U/min. (Die 28 bezeichnet die damaligen Steuer-PS). Ventilanordnung und -anzahl: 1 Einlass, 1 Auslass / seitlich stehend (T-Anordnung), dazu seitliche Nockenwellen und ein Nockenwellenantrieb über Stirnräder. Die Gemischbildung erfolgt über Kolbenvergaser, der Benzintank liegt vor der Hinterachse.
Mal eben Benzin tanken war damals nicht, erste richtige Tankstellen entstanden erst nach dem Ersten Weltkrieg. Bis dahin halfen Apotheken oder Drogerien aus. Denken Sie daran, wenn Sie mal wieder eine elektrische Ladesäule suchen.
Klaus kurbelt
Nun aber Start! Klaus stellt die beiden Hebel auf dem Lenkrad ein: Der eine reguliert den Zündzeitpunkt, der andere das Standgas. Zündung auf spät. Hahn für die Ölhauptleitung öffnen. Manuell Benzindruck aufbauen, ergo pumpen. Dafür gibt es übrigens das einzige Anzeigeinstrument. Jetzt kurbeln und den Motor anwerfen.
Tuckend-pötterig mit zarter Dieselklangnote (obgleich ein Benziner) nimmt der großvolumige Motor seine Arbeit auf. Jetzt schnell wieder die Zündung auf früh und das Standgas regulieren. Klaus und ich steigen auf den Bock. Mir wird klar, woher der Begriff "Armaturenbrett" kommt. Wie die Orgelpfeifen reihen sich auf dem Stück Holz mehrere Schaugläser auf. Mit ihrer Hilfe kann der Mechaniker den Ölfluss abhängig von der Temperatur beobachten. Daher auch der Begriff "Schmiermaxe". Alle 200 Kilometer muss das gebrauchte Öl abgelassen und ersetzt werden.
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London to Brighton Veteran Car Run im Mercedes Simplex von 1904 Zoom
Stark vereinfacht formuliert: Vieles, was heute im Verbrennungsmotor von selbst stattfindet, muss im Simplex noch manuell geregelt werden. Umso deutlicher wird mir, welch ein Fortschritt die Erfindung des elektrischen Anlassers anno 1911 war. In den Messing-Ahnen unserer Autos musste man sich noch die Finger schmutzig machen. Kein Wunder, dass bis etwa 1920 auch Elektroautos nicht selten waren: Einfache und saubere Bedienung. Oder auch in Anlehnung an den Schienenverkehr Dampfautos. Technologieoffenheit vor über 100 Jahren.
Und wie heute sorgte damals die konstante Verbesserung der Benzin-Pkw samt Ausbau der Infrastruktur für den Durchbruch. Doch zurück zum Simplex: Zwei Bremspedale gibt es: Für die Getriebeeingangswelle und Getriebeausgangswelle (nur dieses, das rechte, brauche ich. Das andere ist eine Art Motorbremse bergab), dazwischen das schmale Gaspedal. An der Seite eine mechanische Handbremse, die auf die Hinterräder wirkt. Daneben befindet der zweite lange Hebel zum Bedienen der Viergang-Schaltung.
Das Kupplungspedal liegt links, ganz links noch ein fünftes Pedal für die Öffnung der Auspuffklappe, um zu hören, ob der Motor rund läuft und um die Bevölkerung vor dem Auto zu warnen. Die Kraft wird über Ketten übertragen. Kupplung ist eine Federbandkupplung, das Getriebe ein Zahnrad-Schubgetriebe.
Probefahrt für die Ewigkeit
Leg jetzt mal den ersten Gang ein, sagt mir Klaus. Handbremse lösen. Fuß vom Bremspedal und der Kupplung, langsam auf Gas. Ein Ruck geht durch mich und den Simplex, die gut 1.250 Kilogramm schwere Fuhre setzt sich rumpelnd in Bewegung. Der große Benziner kommt in Fahrt, mit Zwischengas versuche ich, den zweiten Gang einzulegen. Es knirscht trotzdem. Zum Glück reicht der zweite Gang für den kleinen Rundkurs.
Vor den Kurven lupfe ich das Gas, um Tempo herauszunehmen. Was heißt hier Tempo? Mehr als 30 werden es nicht sein, einen Tacho oder einen Drehzahlmesser gibt es nicht. Leider sind die Kurven nicht gerade großzügig. Ich kurbele wie wild am Lenkrad, mit sehr viel Nachdruck und einem halb aus dem Auto hängenden Redakteur lässt sich Madame Simplex zur Richtungsänderung überreden.
Es ist ohne Frage Arbeit, ein 120 Jahre altes Auto zu bewegen. Aber jeder verdammte Meter brennt sich unauslöschlich ins Hirn. Nach vier Runden bin ich dennoch wieder froh, den Simplex in die Hände von Klaus zurückzugeben. Denn wir haben noch etwas vor ...
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London to Brighton Veteran Car Run im Mercedes Simplex von 1904 Zoom
Und zwar den "London to Brighton Veteran Car Run". Dieser findet traditionell am ersten Sonntag im November statt. Der London to Brighton Veteran Car Run (LBVCR) ist weltweit die am längsten stattfindende Veranstaltung für klassische Fahrzeuge. Zugelassen sind nur Klassiker bis einschließlich Baujahr 1904. Alljährlich gehen bei Sonnenaufgang mehr als 300 zwei-, drei- und vierrädrige Fahrzeuge vom Hyde Park aus auf die Strecke. Die Antriebe erhalten ihre Energie aus Dampf, Batterien, Benzin - oder Muskelkraft: Seit 2017 dürfen auch historische Fahrräder (meist Hochräder) teilnehmen.
Von London nach Brighton
Der LBVCR geht zurück auf das Jahr 1896. Mit dem damaligen "Emancipation Run" feiern die Automobilisten seinerzeit eine Anhebung der in England für Straßenfahrzeuge erlaubten Höchstgeschwindigkeit auf 19,2 km/h (12 mph). Symbolisch wird zum Start eine rote Flagge in zwei Teile gerissen. Das erinnert an die Aufhebung des "Red Flag Acts" von 1865. Dieser verlangt lange, dass vor selbstfahrenden Straßenfahrzeugen (zunächst durch Dampf angetrieben) eine Person mit roter Flagge geht und Passanten warnt.
An der Premiere des "Emancipation Run" nimmt vor 128 Jahren auch Gottlieb Daimler teil. Wir als Gottliebs Erben legen die 96 Kilometer lange Strecke problemlos in rund fünf Stunden zurück. Am Steuer: Marcus Breitschwerdt, CEO der Mercedes-Benz Heritage GmbH. Zum Glück, denn auch am Morgen eines Sonntags ist der Londoner Stadtverkehr kein Vergnügen.
Ich sitze durchaus gemütlich im Fond und trotze den Einflüssen der Natur. Es regnet zwar nicht, zieht aber wie Hechtsuppe, obwohl wir im besten Fall mit Tempo 40 reisen. Dennoch schweift mein Blick über die unzähligen anderen Teilnehmer und die südenglische Landschaft. Einige sitzen vorne (!) auf Dreirädern, hinter sich den Fahrer. Andere zu viert in noch kleineren Autos oder gar im Dampfwagen mit Heizer, der es gelegentlich flott pfeifen lässt.
Meine Arme sind im ständigen Winkeinsatz, so viele Menschen stehen an der Strecke und freuen sich über die Ahnen unserer Autos. Diese positive Verrücktheit und Liebe zum Altblech samt eigens abgesperrten Straßen kann es so nur in Großbritannien geben. Deshalb ein heißer Tipp von mir: Besuchen Sie am ersten November-Wochenende London und gehen am frühen Sonntag in den Hyde Park. Es lohnt sich.
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