Unfallschwerpunkt Eau Rouge: Fahrer fordern Kiesbett statt Asphalt

Die Stimmen nach einem Umbau der Auslaufzonen in Eau Rouge und Raidillon werden lauter - Ist Asphalt kontraproduktiv? - Veränderungen sind bereits geplant

(Motorsport-Total.com) - "Genug ist genug." Ferrari-Nachwuchsfahrer Callum Ilott wagt nach dem schweren Unfall bei den 24 Stunden von Spa 2021 das Sakrileg. Ilott, dessen Fahrzeug mit Davide Rigon am Steuer in den Horrorunfall mit vier Fahrzeugen verwickelt war, fordert einen Umbau der legendären Bergaufpassage.

Titel-Bild zur News: 24h Spa, Eau Rouge, Raidillon

Die berühmte Bergauf-Schikane Eau Rouge/Raidillon steht wieder im Fokus Zoom

"Hauptsache ist, dass alle aus ihren Fahrzeugen gestiegen sind. Ich möchte auch hinzufügen, dass es an dieser Kurve eine Änderung geben muss. Ich bin sehr überrascht, dass noch nichts geschehen ist. Genug ist genug", schreibt er auf seinem Twitter-Account.

Was der 22-Jährige genau meint, lässt er dabei offen. Auf Anfrage des Motorsport Networks will er sich nicht weiter zu seinem Tweet äußern. Natürlich reagierten einige Fahrer verschnupft auf die Aussage, die man so interpretieren könnte, als wolle Ilott die legendäre Passage komplett umbauen.

Allerdings meint er mit seinem Tweet eher einen Umbau der Auslaufzonen als der Kurve selbst. Auch der Kontext ist wichtig; Ilott setzte diesen Tweet rund eine Stunde nach dem Unfall ab.

Schafft der Asphalt ein Sicherheitsparadox?

Der Automobil-Weltverband FIA muss sich eine kritische Frage stellen: Führen die asphaltierten Auslaufzonen, die eigentlich der Sicherheit dienen sollen, letztlich zu mehr Risiko bei den Fahrern? Eigentlich sollen sie verhindern, dass sich Fahrzeuge in Kiesbetten überschlagen. Doch eventuell bewirken sie genau das Gegenteil dessen, was sie erzielen sollen.

So sieht es Kevin Estre, der persönlich in den Unfall mit vier Fahrzeugen verwickelt gewesen ist. "Das ist die wohl schönste Kurve der Welt", schreibt er auf seinem Twitter-Account. "Eau Rouge ist Teil von Spa und ich persönliche möchte niemals eine Änderung dieser Kurve. Wir sind uns des Risikos bewusst, wenn wir mit 240 km/h diesen Hügel hinauffahren."


Fotos: 24h-Rennen Spa-Francorchamps 2021 - Rennen


"Das Einzige, was uns helfen würde, wäre ein Kiesbett auf der linken Seite. Wenn der Asphalt dort durch ein Kiesbett ersetzt werden würde, würde dort jeder mit zwei bis drei km/h weniger durchfahren. Momentan fahren wir alle am oder über dem Limit da durch, wohl wissend, dass wir im Falle eines Falles einfach die Strecke abkürzen und uns ein 'Track Limit' leisten können." Er versieht den Tweet mit dem Hashtag ringbackgravels.

Mehrere Fahrer melden sich auf diesen Tweet. Polesetter Raffaele Marciello glaubt nicht, dass es groß etwas ändern würde: "Ich stimme zu, aber du weißt selbst, dass wir immer attackieren. Man schaue sich Macau an. Wir haben in [der] Mandarin [-Kurve] gar keine Auslaufzone und geben trotzdem alles."

Adrien de Leener, der 2020 für das Dinamic-Team bei den 24h Spa an den Start gegangen ist, stimmt hingegen bedingungslos zu: "Zurück zu Old-School-Strecken, wo solche Diskussionen nicht nötig sind. Wenn dort Gras oder Kies liegt, müssen sich die Fahrer zurücknehmen und das macht es für alle sicherer! So viele Verletzungen hätten in jüngerer Zeit vermieden werden können."

Mehrere weitere Fahrer, darunter Aston-Martin-Fahrer Alexander West, GT-Routinier Andrea Bertolini und WEC-Pilot Alex Brundle, signalisieren ihre volle Zustimmung zu Estre. Ilott meldet sich ebenfalls zu Wort und fordert zusätzlich einen anderen Winkel der Barrieren auf der linken Seite, die ein Zurückschleudern weniger begünstigen.


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Abflug nach links am gefährlichsten

Der Bereich Eau Rouge/Raidillon hat sich in den vergangenen Jahren zu einem Unfallschwerpunkt gerade bei GT-Rennen entwickelt. Das Muster ist fast immer dasselbe: Das Auto bricht mitten im Bergaufstück unvermittelt aus. Entweder kann der Fahrer das Fahrzeug nicht mehr einfangen und landet im Bereich Raidillon vehement im Reifenstapel. Das geht meist glimpflich aus.

Oder der Fahrer korrigiert, fliegt aber mit dem Gegenpendler nach links ab. In diesem Fall droht das Fahrzeug, auf die Strecke zurückgeschleudert zu werden. Die Einschläge nach links lösten sowohl den schweren Unfall beim jüngsten Rennen als auch den tödlichen Unfall von Anthoine Hubert aus. In letzterem Fall war es ein Auffahrunfall, weil vor Hubert ein anderes Fahrzeug abbremste, als ein dritter Bolide davor zurück auf die Fahrbahn geschleudert wurde.

Hubert, der aufgrund des ungewöhnlichen Einschlagswinkels von rechts auf die Strecke zurückgeschleudert wurde, wurde von Juan Manuel Correa erwischt. Der Ecuadorianer meldet sich nach dem neuerlichen Unfall an gleicher Stelle ebenfalls zu Wort.

"Seit meinem Unfall habe ich bei der FIA mehrere Bedenken über die Sicherheit von Fahrern und Strecke angemeldet. Ich habe ihnen meine eigenen Erfahrungen mitgeteilt. Ich habe nach Antworten gesucht, was warum passiert ist, und welche Schritte die FIA und andere Stakeholder unternehmen, um zu verhindern, dass ein weiterer Fahrer ähnliche Verletzungen unter ähnlichen Umständen erleidet."

Diese Gespräche würden noch immer laufen, fügt er hinzu. "Ich bin zuversichtlich, dass diese Gespräche zu einer konstruktiven Lösung führen werden und wir in den kommenden Wochen mehr sagen können."


Fotostrecke: Alle Sieger der GT3-Ära bei den 24h Spa

Spa plant massiven Umbau

Das Thema "Track Limits" ist bei den 24 Stunden von Spa ein heikles. 2020 wurden sämtliche Flächen freigegeben, was zu teilweise völlig irren Linien in der Superpole führte, die mit der eigentlichen Streckenführung nichts mehr zu tun hatten. Daraufhin wurde schnell gegengesteuert und die ursprüngliche Richtlinie wiederhergestellt, dass die zwei weißen Linien die Strecke begrenzen.

Das führt wiederum zu Unzufriedenheit bei den Fahrern. Audi-Werkspilot Christopher Mies richtete vor dem Spa-Wochenende in diesem Jahr eine E-Mail an den Rennleiter, in der er unter anderem darauf hinwies, dass Fahrer mittlerweile sehr viel Energie darauf verwenden müssen, die Track Limits zu beachten. Er forderte leichte Freigaben zum Beispiel am Eingang Blanchimont.

Allerdings könnte es sein, dass die ganze Aufregung völlig umsonst ist. Denn der Circuit de Spa-Francorchamps hat für 2022 ein großes Umbauprogramm angekündigt, in dessen Zuge weitere Kiesbetten zurückkehren sollen, darunter auch in besagter Passage Eau Rouge/Raidillon.

Im Zuge des Renovierungsprogramms wird dieser Stelle außerdem eine Tribüne entstehen, womit einige Umbauten auch an der Auslaufzone vorgenommen werden müssen. Damit könnte das Problem des ungünstigen Winkels der Reifenstapel gleich mitbehoben werden.

Warum es bei den 24h Spa mittlerweile öfter kracht

Die Anzahl der Unfälle hat vor allem bei den 24 Stunden von Spa seit Beginn des GT3-Zeitalters dramatisch zugenommen. Höhepunkt dieser Entwicklung waren die 24 Stunden von Spa 2014, als es innerhalb kürzester Zeit fünf schwere Unfälle gab, von denen sich drei im Bereich Raidillon abspielten.

Seit Einführung der GT3-Klasse bei den 24 Stunden von Spa ist zwar die Motorleistung der Boliden gegenüber den GT1-Dampfhammern gesunken, doch der aeordynamische Grip hat massiv zugenommen. Die Geschwindigkeiten liegen in der ganzen Passage deutlich höher als zu GT1-Zeiten. Mehr Aerodynamik bedeutet auch, dass die Fahrzeuge unvermittelter ausbrechen.


Umbau: So soll es in Spa bald aussehen

Es gibt für den gesamten Kurvenkomplex nur eine Linie, auf der ideal durch die Kurve durchgezogen werden kann. Minimal zu früh oder spät eingelenkt führt dazu, dass man die Kuppe oben nicht im richtigen Winkel erwischt. Zudem verfügen die GT3-Fahrzeuge über Fahrhilfen, die aber bei den enormen G-Kräften in der Senke und auf dem Hügel an ihre Grenzen kommen.

Hinzu kommt auch, dass die Qualität des Fahrerfeldes seit dem Wechsel auf GT3 deutlich zugenommen hat. Boxenstopp- und Stintlängen sind standardisiert, es gilt nur noch der Job auf der Strecke. All das hat die Entwicklung zu immer mehr Unfällen begünstigt.

Formel-1-Rennleiter Michael Masi sieht übrigens keinen Grund zur Sorge: "Die Rennstrecke in Spa hat ein Grade-1-Zertifikat [der FIA]. Jedes Jahr werden ein paar kleinere Verbesserungen vorgenommen. Aus FIA-Sicht ist es definitiv sicher." Ende August gastiert die Formel 1 auf dem Circuit de Spa-Francorchamps.