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Kolumne: Kommt 2019 eine "neue" WTCC?

Redakteur Markus Lüttgens ordnet die Spekulationen rund um die Einführung des Class-One-Reglements in der Tourenwagen-WM ein

Titel-Bild zur News: Start

Die WTCC in ihrer jetzigen Form könnte ab 2018 Geschichte sein Zoom

Liebe Freunde des Tourenwagensports,

seit drei Jahren verfolge ich die Tourenwagen-Weltmeisterschaft (WTCC) als Redakteur intensiv, war in dieser Saison bei sechs der zehn Rennen vor Ort und fühle mich im Fahrerlager gut vernetzt. Es kommt daher nicht häufig vor, dass mich eine Meldung rund um die WTCC regelrecht von den Socken haut. Doch am Donnerstag war es soweit, denn der von mir sehr geschätzte Kollege Neil Hudson von 'TouringCarTimes' meldete Unerhörtes: Die WTCC könne 2019, eventuell schon 2018 das ursprünglich für die DTM konzipierte Class-One-Reglement übernehmen!

Meine erste Reaktion auf diese Meldung war völliger Unglaube. Das Class-One-Reglement in der WTCC einzuführen ergab für mich zunächst keinerlei Sinn. Schon jetzt platzt das Fahrerlager nicht gerade aus allen Nähten und nicht nur Privatteams klagen über die hohen Einsatzkosten der 2014 eingeführten TC1-Autos weshalb WTCC-Promoter Francois Ribeiro das Thema Kostenreduzierung immer wieder ganz oben auf die Agenda gesetzt hatte. Und dann soll ein Reglement eingeführt werden, das ursprünglich für die Herstellerserien DTM und SuperGT aus Japan entwickelt wurde, und welches die Kosten steigen lässt?

Im WTCC-Umfeld weiß man (fast) von nix

Bei all diesen Zweifeln war mir aber auch klar, dass mein englischer Kollege als einer der weltweit führenden WTCC-Journalisten so etwas nur dann schreiben wird, wenn er sich seiner Sache sicher ist. Denn auch wenn mancher "Lügenpresse"-Schreier das nicht glauben mag, aber kein seriöser Journalist saugt sich irgendwelche Geschichten aus den Fingern. Zumindest nicht bei uns, und auch für den Kollege Hudson würde ich meine Hand ins Feuer legen. Eine Handvoll Klicks ist es nicht wert, seinen guten Ruf aufs Spiel zu setzen.

SuperGT

Die Class-One-Boliden sind deutlich spektakulärer als die TC1-Autos Zoom

Also begann ich mit der Recherche und hörte mich im WTCC-Umfeld um. Dabei kam heraus, dass das Thema Class-One-Reglement niemals offiziell zur Sprache gekommen ist. Allerdings hatte man mitbekommen, dass Serienchef Ribeiro mit einzelnen Herstellern gesprochen hatte (was sogar in einer offiziellen Stellungnahme zugegeben wurde), dort aber auf äußerst zurückhaltende Reaktionen gestoßen sei. Tenor meiner Recherche war jedoch, dass die Einführung des Class-One-Reglements in der WTCC für niemanden eine sinnvolle Maßnahme sei. Also ist an der Geschichte doch nichts dran?

An dieser Stelle kam mein Kollege Roman Wittemeier ins Spiel, der im DTM-Umfeld bestens vernetzt ist. Bevor er von dem Artikel bei 'TouringCarTimes' oder meinen Recherchen wusste, waren auch ihm aus hochrangiger Quelle entsprechende Hinweise zugespielt worden. Und so begann auch er, sich umzuhören.

Weshalb man nicht immer Ross und Reiter nennen kann

Kleiner Exkurs: Mancher Leser mag es frustrierend finden, wenn wir Journalisten in diesem Zusammenhang relativ verschwommen von "Quellen" und ähnlichem schreiben oder sprechen. Glaubt mir: Auch uns wäre es lieber, wenn wir unsere Ansprechpartner jedes Mal namentlich zitieren könnten, aber gerade bei politisch heiklen Themen sind viele Insider nur "off the record" bereit mit uns zu sprechen. Also ohne dass wir ihren Namen nennen oder sie wörtlich zitieren.

Als Journalist kann man sich auf so etwas einlassen oder nicht. Tut man es aber nicht und missbraucht das Vertrauen des Gesprächspartners, kann man sich darauf verlassen, dass er das letzte Mal mit einem geredet hat. Denn auch für Informanten kann die ungewollte Enttarnung Konsequenzen haben, denn oftmals sprechen sie mit uns über Sachverhalte, die sie als Offizielle, Fahrer oder Teamvertreter eigentlich für sich behalten sollten, weil sie nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind.


WTCC China: Die Höhepunkte des Hauptrennens

Weltmeister Jose-Maria Lopez feiert im Hauptrennen der WTCC in Schanghai einen ungefährdeten Start-Ziel-Sieg

Zurück zum Thema Class-One-Reglement: Dieses war ursprünglich gemeinsam von DTM und der japanischen SuperGT entwickelt worden und sollte diesen beiden Serien, die mit ihrem derzeit jeweils einzigartigem Reglement an die bestehenden Märkte Europa und Japan gebunden sind, den Weg zur Internationalisierung ebnen. Eigentlich hätte dieses Reglement, das unter anderem den Einsatz von Zwei-Liter-Turbomotoren vorsieht, 2017 in der DTM eingeführt werden.

Macht Aufrecht den Lotti?

Das war jedoch am Widerstand der dort engagierten Hersteller gescheitert, was vor allem für Hans Werner Aufrecht ein herber Rückschlag war. Der Chef der DTM-Dachorganisation ITR und damit das entsprechende Pendant zu WTCC-Boss Ribeiro, hatte seinerzeit mit den Japanern das gemeinsame Reglement ausgehandelt. Mittlerweile steht Aufrecht als Verlierer eines Machtkampfs jedoch offenbar vor dem Aus als ITR-Boss und will daher offenbar das Class-One-Reglement auf eigene Faust umsetzen.

Die Situation erinnert ein wenig an den früheren WTCC-Boss Marcello Lotti, der nach seiner Absetzung das TCR-Reglement aus der Taufe hob, welches mittlerweile boomt und ein Gegenentwurf zur WTCC ist. Genau diesen Gegenentwurf zur DTM will Aufrecht offenbar mit einer Class-One-Serie schaffen. Zwei japanische und einen aktuellen DTM-Hersteller aus Stuttgart, zu dem Aufrecht seit Jahren enge Kontakte pflegt, hat der Strippenzieher offenbar schon auf seine Seite ziehen können.

Hans Werner Aufrecht

Welche Pläne verfolgt Hans Werner Aufrecht? Zoom

Was fehlt, ist noch ein schlagkräftiger Medienpartner, um eine Class-One-Serie international zu vermarkten, und hier kommt der WTCC-Promoter Eurosport Events ins Spiel. Dort weiß man, wie man eine Weltmeisterschaft auf die Beine stellt, hat mit Eurosport einen TV-Sender zur Hand und mit Eigentümer Discovery einen Mediengiganten im Rücken. Discovery seinerseits ist wiederum ein Schwesterunternehmen des neuen Formel-1-Merheitseigners Liberty Media.

Ist die WTCC von heute ein Auslaufmodell?

Kurzum: Ribeiro und Eurosport Events haben mit der WTCC die Plattform, die Aufrecht für sein international ausgerichtetes Produkt sucht. Daher würde ich Stand heute eine Umsetzung dieser gemeinsamen Pläne nicht mehr für so ausgeschlossen halten, wie es noch vor zwei Tagen für mich der Fall war.

Sollte es so kommen, als möglicher Zeitpunkt ist das Jahr 2018, spätestens aber 2019 im Gespräch, hätte das natürlich gravierende Auswirkungen auf die WTCC, wie wir sie heute kennen. Sie wäre dann eine völlig neue Serie, bei der von der alten nicht mehr viel übrig bliebe. Die TC1-Autos würden von der WM-Bühne verschwinden, und ob Hersteller wie Volvo oder Lada ein Interesse oder die Ressourcen für die Entwicklung eines Class-One-Autos haben, darf bezweifelt werden.

Markus Lüttgens

Redakteur Markus Lüttgens blickt gespannt auf die weiter Entwicklung der WTCC Zoom

Bei Honda soll man sich dem Vernehmen nach Aufrechts Plänen gegenüber aufgeschlossen zeigen, doch würde der Einsatz dann wahrscheinlich direkt aus Japan und nicht mehr über das italienische JAS-Team durchgeführt. Kurzum: Die WTCC in ihrer jetzigen Form wäre tot. Das mag mancher bedauern, andere wiederum nicht. Ich persönlich fände es schade, wenn die familiärer Atmosphäre im WTCC-Fahrerlager der sterilen Welt einer Herstellerserie von Automobilgiganten wiche und der direkte Kontakt zu Fahrern und Teamverantwortlichen durch oft wenig befriedigende Presserunden ersetzt würde.

Ob es so kommt, muss die Zukunft zeigen. Dagegen wetten würde ich heute auf jeden Fall nicht. Wo auch immer der Weg der WTCC jedoch hingeht, wir werden ihn hier bei Motorsport-Total.com weiter begleiten.
In diesem Sinne, sportliche Grüße, euer


Markus Lüttgens

P.S.: Was haltet ihr von dieser Entwicklung? Würdet ihr der "alten" WTCC hinterhertrauern oder klingen diese Pläne nach einem Modell für die Zukunft? Schreibt mir bei Twitter unter @MST_MarkusL oder auf meiner offiziellen Facebook-Seite.