• 04.05.2017 14:57

  • von Dominik Sharaf

Muffensausen und tote Vögel: Alonsos IndyCar-Test im Detail

Warum Kurve 1 in Indianapolis dem Formel-1-Star das Fürchten lehrte und er nicht versteht, was die IndyCar-Ingenieure tun - Und trotzdem ist das Lächeln zurück

(Motorsport-Total.com) - Seit fast einem Monat fieberte die Motorsport-Gemeinde auf den gestrigen Mittwoch hin. Er bedeutete die Stunde der Wahrheit für Formel-1-Star Fernando Alonso, als er auf dem Indianapolis Motor Speedway in den orangen Dallara-Honda des Andretti-Teams kletterte und den ersten IndyCar-Test seines Lebens absolvierte. Der Hype um das McLaren-Projekt erlebte anschließend Höhenflüge. Es gab nicht auf jede Frage eine Antwort, aber Erkenntnisse, die wir an dieser Stelle en detail liefern.

Titel-Bild zur News: Fernando Alonso

Fernando Alonso erlebte im orangen Rennwagen manch blaues Wunder Zoom

Vorweg: Alonso scheint mit seiner Meldung für den 500-Meilen-Klassiker alles richtig gemacht zu haben. Denn das Lachen war zurück in seinem Gesicht. Die Freude, die in der Königsklasse in Zeiten der sportlichen Krise dem Sarkasmus gewichen ist, war ihm anzumerken. "Es ist pures Adrenalin, also war es ein guter Tag", bilanziert der Spanier, der nach dem Abspulen des obligatorischen Rookie-Programms erstaunlich nahe an die Werte der IndyCar-Spitzenpiloten herankam.

Seine schnellste Runde fuhr er mit einem Schnitt von 222,548 Meilen pro Stunde, was als beachtliche Leistung eingeordnet wurde. Zum Vergleich: Der Pole-Schnitt von James Hinchcliffe lag 2016 bei 230,760 Meilen pro Stunde. Da fehlte nicht mehr viel, möchte man meinen, und doch trennte Alonso bei seiner Premiere eine halbe Galaxie davon, ein etablierter Ovalpilot zu sein. Schließlich hätte sein Bestwert im offiziellen Qualifying den letzten Rang der Fahrer mit Rundenzeit bedeutet.

Von wegen Vollgas: Dem Formel-1-Star rutschte das Herz in die Hose

Überrascht ist Alonso nicht: "Es fühlte sich alles so neu für mich an - irgendwie merkwürdig, mit so hoher Geschwindigkeit gegen den Uhrzeigersinn zu fahren." Die IndyCars sind eine neue Welt für einen Mann, der seit 16 Jahren kaum ein anderes Rennauto bewegt hat als einen Formel-1-Boliden und plötzlich wieder Anfänger ist. "Der Weg ist noch lang", betont Alonso, wenn es um die Einordnung seiner Leistung geht, "aber ich bin sehr zufrieden." Die ersten Schritte sind gegangen.

Die verpflichtenden Staffelrunden mit sukzessive ansteigendem Tempo - das Rookie-Programm - empfand er nicht als Geißelung, sondern als Segen. Alonso scheint kein Problem damit zu haben, derjenige zu sein, der lernen muss. Von Arroganz keine Spur. "Es war eine Hilfe, um sich an den Speed zu gewöhnen", sagt er. In seiner Stimme schwingen Respekt und Ehrfurcht vor der Urgewalt eines US-Super-Speedways mit, wie er in Indianapolis in seiner brachialsten Form existiert.


Fernando Alonso beim IndyCar-Test in Indianapolis

Eine Kostprobe erhielt Alonso nach der ersten Ausfahrt aus der Boxengasse - mit der Information, wie Teamkollege Andretti als routinierter IndyCar-Pilot agiert, im Hinterkopf: "Ich wusste, dass Marco Kurve 1 mit Vollgas fährt. Also habe ich mir gesagt, dass ich es auch tun würde, weil das Auto dazu in der Lage ist." Doch mit dem Überfahren des Zielstrichs war alle Theorie grau wie der Asphalt des Traditionskurses. Dem zweimaligen Formel-1-Champion rutschte das Herz in die Hose.

Zwei tote Vögel - und Alonso bekam von allem gar nichts mit

"Ich bin auf Kurve 1 zugefahren und war 100-prozentig überzeugt, aber mein Fuß stand nicht komplett auf dem Pedal. Er führte ein Eigenleben", bekennt Alonso. "Mein Gehirn und mein Fuß waren in diesem Moment nicht verbunden." Indianapolis bot dem größten Rennfahrer der Gegenwart, wie ihn die Szene mitunter bezeichnet, eine Mutprobe. Eine Mutprobe, die die Königsklasse nicht mehr in petto zu haben scheint. Schließlich tut sich Alonso schwer, einen Vergleich zu "Turn 1" zu finden.

Nach einigem Überlegen sagt er: "Vielleicht die 130R in Suzuka, die mit 320 oder 330 km/h gefahren wird?" Um gleich darauf zu relativieren: "In der Formel 1 fühlt es sich einfacher an, mit dem Abtrieb und der komplexen Technik. Es verschafft mehr Grip und macht das Auto vorhersehbarer." Vorhersehbar war für ihn im IndyCar aber wenig. Nicht einmal der Wildwechsel auf der Bahn.

Alonso überfuhr zwei auf der Strecke sitzende Vögel, woraufhin ihr Gefieder wie Kreidestaub über den Reifen aufgewirbelt wurde. "Ich habe das nicht kommen sehen. Davon habe ich gar nichts gemerkt", meint der Jäger wider Willen. Und doch wurde klar, dass er die hohen Geschwindigkeiten im Laufe des Tests adaptierte. "Einen anderen Vogel habe ich beim vorletzten Versuch in Kurve 3 erspäht - ich bin vom Gas gegangen und ausgewichen. Das mache ich im Rennen nicht wieder."

Keine Spur von Rivalität: Teamkollege stellte Auto für Alonso ein

Alonso betont, sich im IndyCar auf die Grundschule am Volant besinnen zu müssen. "Es ist roher, mehr Motorsport", sagt er über seinen neuen Teilzeit-Arbeitsplatz im Vergleich zur Formel 1, die alles andere als Askese zu bieten hat. "Es ist schneller und ganz anders. Letztlich haben wir alle im Kart angefangen." Es ginge darum, sich auf Urinstinkte zu verlassen: "Das Gefühl geht verloren, wenn man in der Formel 1 alles unter Kontrolle hat - jeden Millimeter und jede Zehntelsekunde."

Bei der Neuorientierung helfen ihm Ingenieur Eric Bretzman und Chefmechaniker Dave Popielarz sowie Michael Andretti als Teambesitzer und Strategiechef. "Ihre Hilfe ist fantastisch", lobt Alonso. "Das Team ist eine riesige Unterstützung. Nicht nur an diesem Tag, sondern in den ganzen vergangenen zwei Wochen." Jeden Tag tauschten Alonso und die Mannschaft jede Menge Informationen aus, meistens via E-Mail. Es ging darum, den Wagen und die Abläufe grundlegend zu verstehen.


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"Es gibt einiges, bei dem ich noch nicht auf der Höhe bin"

Auch Teamkollege Marco Andretti legte Alonso keine Steine in den Weg. Im Gegenteil: Der etablierte IndyCar-Mann fuhr im orangenen Auto mit der Nummer 29 den Shake-down und verfeinerte das Set-up - mit dem Gedanken im Hinterkopf, dass sich ein Novize hinter das Steuer klemmt. Ex-Pilot Gil de Ferran, der Alonso in den USA als persönlicher Mentor zur Seite steht, garantierte die richtige Einstellung des Motors. Die Fürsorge der Honda-Ingenieure kannte ohnehin keine Grenzen.

Fernando Alonso

Da rauchen die Reifen: Alonso gefällt die rohe Gewalt des US-Rennsports Zoom

"Jeder hat sich um mich gekümmert", schwärmt Alonso und scheint es kaum zu glauben, dass aus grauer Theorie Praxis geworden ist. "Bis dato hatte ich nur Rennen im Fernsehen und Daten aus dem Simulator gesehen, bei denen man nie zu 100 Prozent sicher ist, ob man ihnen trauen kann."

Eine gewaltige Hürde hat Alonso noch nicht genommen, als er mutterseelenallein seine Runden im gewaltigen Rund von Indianapolis drehte. Er räumt ein: "Es gibt einiges, bei dem ich nicht auf der Höhe bin." Es geht allen voran um das Überholen und den Überrundungsverkehr auf dem Speedway, der im Rennen ständiger Begleiter und ein Unfallrisiko sein wird: "Es wird die größte Herausforderung", bläst Alonso die Backen auf und will sich Schritt für Schritt herantasten.

Er hofft auf die Hilfe seiner teils erfahrenen Stallgefährten bei Andretti, zu denen neben dem Sohn des Chefs auch Takuma Sato, Ryan Hunter-Reay, Jack Harvey und Alexander Rossi zählen: "Wir sind zu sechst. Wir werden dafür sorgen, dass ich bis zum 28. Mai viele Runden hinter anderen Autos gefahren habe", gibt Alonso die Marschroute vor. Zunächst ging es für ihn um das pure Fahrern, das Gefühl für das Auto sowie die Strecke und alles, was mit der Technik in Verbindung steht.


Fotostrecke: Formel-1-Stars beim Indianapolis 500

Ständige Set-up-Veränderungen bereiten Alonso noch Probleme

Als zweiter Punkt kommt das Set-up. Weil die Andretti-Ingenieure ständig an seinem Dallara-Honda bastelten, empfand Alonso die Aufgabe beim ersten Test als besonders knifflig. Kam er an die Box, wurde an den Lenkradeinstellungen gefummelt. Sogar, wenn nur nachgetankt und die Reifen gewechselt wurden, tüftelte irgendwo ein Techniker auf der Suche nach der perfekten Abstimmung. Das könnte ihn sogar während des über drei Stunden langen 500-Meilen-Rennens erwarten.

Michael Andretti

Michael Andretti: Der Ex-Formel-1-Pilot ist für Alonso eine unschätzbare Hilfe Zoom

"Die kleinen Veränderungen spüre ich nicht, weil ich nicht das Auto fahre, sondern das Auto mich", stöhnt Alonso und hat beim komplexen Thema Wind Nachholbedarf: "Ich weiß nicht, ob die Bedingungen gut oder schlecht waren", rätselt er. "Ich habe Wind auf den Geraden gespürt. Der Wagen hat sich teils bewegt." Doch es bleiben 24 Tage, um sich einzuschießen. Eine Zeit, die kein Zuckerschlecken wird. Seit Mitte März war Alonso nicht mehr zu Hause. Er reist für die Formel 1 und das IndyCar-Abenteuer mit Jetlag durch die Zeitzonen. Nach dem Test heißt es: vier Tage Entspannung, Zeit mit der Familie. Dann der Spanien-Grand-Prix - um mal wieder alles unter Kontrolle zu haben.