• 13.02.2017 08:33

  • von Bruce Martin (Haymarket)

CART-Anekdoten: Indianapolis 500 mit über 1.000 PS

Der Mercedes 500I war so gewaltig, dass sogar Rick Mears ein Comeback geben wollte - Wie Penske beim Indy 500 1994 das Regelwerk konsequent ausnutzte

(Motorsport-Total.com) - Auch mehr als zwei Dekaden nach der Penske-Dominanz beim Indianapolis 500 1994 ist das "Biest" noch immer in aller Munde. Es handelte sich um einen 3,4-Liter-Turbomotor von Ilmor, der mit Mercedes-Benz-Emblem versehen wurde. Er wurde von Penske in derartiger Geheimhaltung entwickelt, dass selbst Teammitglieder, die nicht in das Projekt involviert waren, überhaupt nicht wussten, was im Keller eines Lagerhauses vor sich ging, der in ein Labor für durchgeknallte Wissenschaftler umgewandelt worden war.

Titel-Bild zur News: Al Unser Jr., Mercedes 500I

Rakete mit über 1.000 PS: Penske gelang 1994 in Indianapolis ein Geniestreich Zoom

"Dieser Motor hätte mich fast aus dem Ruhestand geholt", sagt der viermalige Indy-500-Sieger Rick Mears, der nach der Saison 1992 zurückgetreten war. Teambesitzer Roger Penske entschied sich, ein Schlupfloch im Regelwerk des United States Auto Club (USAC) für das Indy 500 auszunutzen. Dieses erlaubte es Motoren mit untenliegender Nockenwelle, einen Ladedruck von 1,86 bar zu fahren - deutlich mehr als die 1,52 bar für die gängigen Motoren mit obenliegenden Nockenwellen, die jedes CART-Team zu jener Zeit einsetzte.

John Menards Team machte lange Zeit Gebrauch von dieser Regel, indem es einen Buick "Stock Block" Motor während der 1980er- und 1990er-Jahre einsetzte. Die Buicks bewiesen enormen Speed: 1985 (mit Pancho Carter) und 1992 (dank Roberto Guerrero) holten sie die Pole-Position (Scott Brayton sollte 1995 und 1996 zwei weiteres Poles hinzufügen). Das Problem dieser Motoren war die Zuverlässigkeit: Nur selten hielten sie die Distanz über 500 Meilen.

Konspiratives Treffen im Jahre 1993

Penske konstatierte, dass auf dem Indianapolis Motor Speedway mit seinen langen Geraden und flachen Kurven ein Motor mit viel Drehmoment heraus sehr hilfreich sein dürfte, um aus den Ecken kraftvoll heraus zu beschleunigen. Er war sich sicher, dass ein Motor mit OHV-Ventilsteuerung und 1,86 bar Ladedruck ihm genau den unfairen Vorteil bringen würde, nach dem er immer gesucht hat.

1993 traf er sich mit Paul Morgan und Mario Illien von Ilmor und erzählte beiden von seiner brillanten Idee. Illien versicherte ihm, dass er einen Motor entwerfen könne. So begann das Geheimprojekt. Kurz nachdem er Al Unser jun. für die Saison 1994 verpflichtet hatte, flüsterte ihm Penske ins Ohr: "Wir haben einen Motor für Indianapolis. Der wird eine totale Rakete." Zu jener Zeit war Penske in Reading in Pennsylvania in einer Reihe von Gebäuden beheimatet. Die große Fabrik in Mooresville (North Carolina) kam erst später. Penske wusste, dass der Motor geheim gehalten werden musste - sogar vor den Mitarbeitern seines eigenen Teams.

Chuck Sprague war zu diesem Zeitpunkt Geschäftsführer, Clive Howell Teammanager und Karl Kainhofer, einer der ersten Mitarbeiter Penskes, leitete die Motoren- und Prüfstandsabteilung. Sie stellten ein geheimes Team zusammen, das eine Motorenfabrik im Lagerhaus von Penskes Truck-Verleih einrichtete. Dieser lag außerhalb der Hallen des Rennteams, wurde aber regelmäßig genutzt. Sie begannen, nachdem die Tagschicht nach Hause gegangen war, arbeiteten die Nacht hindurch und verschwanden um sieben Uhr morgens, ohne eine Spur zu hinterlassen.

"Es wurde für eine Weile völlig geheim gehalten", erinnert sich der derzeitige Teammanger von Penske, Jon Bouslog. "Die Halle befand sich ein paar Meter weiter die Straße runter. Wir haben normalerweise unser Zeug dort gelagert. Urplötzlich durften wir überhaupt nicht mehr dorthin gehen. Immer mehr Leute fragten, warum das so sei. Man sagte uns, dass wir das nicht wissen bräuchten. Selbst ein enger Freund von mir, der das Getriebe für dieses Auto baute, sagte gar nichts. Da hatten wirklich alle die Hosen voll."


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Geheimer als manches Regierungsprojekt

"Niemand wusste, was da vor sich ging", fährt er fort. "Wenn man in die Motorenabteilung ging, sah es aus wie an einem normalen Tag. Es lagen keine zusätzlichen Teile herum. Es gab überhaupt gar keine Anzeichen für Aktivitäten in der Nacht. Sie haben wirklich einen guten Job darin gemacht, alle anderen im Dunkeln tappen zu lassen."

Howell fügt hinzu: "Ich war nicht Teil dieser Gruppe. Es war eine kleine Auswahl unserer Leute und es gab keine wirklichen Synergieeffekte. Diese kleine Mannschaft arbeitete an dem Fahrzeug und niemand ging sonst dort hinein. Ich hätte Zugang gehabt, wenn ich wollte, aber zu dieser Zeit standen ja auch Rennen auf dem Programm. Ich war erst involviert, als wir zum ersten Test gegangen sind."

Mark Swavely, der Spezialteile für den Motor anfertigte, hatte mehr Einblicke in das Projekt: "Als die Zeichnungen getrocknet waren und die Produktion startete, haben wir zunächst Testmotoren für den Prüfstand gebaut. Das Personal wurde aufgespalten: Die Mehrzahl der Leute blieb bei ihrer Tagesarbeit, der Rest arbeitete nachts am Geheimprojekt. Wir haben den Motor zusammengebaut, ihn nachts auf dem Prüfstand getestet, ihn vor Tagesanbruch wieder auseinandergebaut, mit Ilmor kommuniziert und den Motor übers Telefon weiterentwickelt."

Die Telefonrechnung war jedoch nicht der größte Kostenpunkt, wie er erklärt: "Wir haben Teile hin und hergeflogen. Häufig haben wir ganze Sitzreihen in der Concorde gebucht, um Kolben und andere Motorenteile aus England einzufliegen. Die Entwicklungskurve war steil. Die Existenz des Motors wurde erst allen bekannt, als wir mit der Produktion für Indianapolis loslegen mussten. Ab diesem Zeitpunkt waren alle involviert.

"Wir hatten alle unseren Spezialbereich in diesem Projekt", so Swavely weiter. "Ich war für die Ventilsteuerung eingeteilt und das Arrangement der Stößelstangen und Umlenker. Die Stangen hatten eine Länge von 15 bis 20 Zentimetern. Normalerweise beträgt die Länge solcher Teile über 30 Zentimeter."

Motorschäden und eingefrorene Hände beim Test

Bouslog wird den Anblick nie vergessen, als er zum ersten Mal die geheime Werkstatt betreten durfte: "Ein ganzer Bereich war mit Vorhängen vom Rest abgetrennt. Wenn man sich hinter diese begab, stand da ein aufgebocktes Auto, das von einem einzelnen großen Scheinwerfer angestrahlt wurde. Das war eine unheimliche Erfahrung. Unter dem Auto lagen Mechaniker, die die Welt verfluchten, weil sie im Dunkeln nichts vom Unterboden erkennen konnten und mit Taschenlampen herumfuchtelten, wenn sie am Auto arbeiteten."

Als es endlich an der Zeit war, den Motor intern zu präsentieren, trommelte Penske das Team zusammen, wie sich der frühere Penske-Ingenieur Nigel Beresford erinnert: "Roger hat uns allen in einem Speisesaal klargemacht, wie wichtig es sei, dass wir das Geheimnis für uns behielten. Er warnte jeden, dass im Falle eines Auffliegens des Geheimnisses sämtliche Gehälter um die Hälfte gekürzt werden würden. Es wäre zum Wohle aller, wenn das Projekt ein Erfolg werden würde, wir zum Beispiel Indianapolis gewinnen würden. Aber wir würden alles verlieren, wenn der Motor vorher verboten werden sollte."


Indianapolis 500 1994 in voller Länge

Natürlich gab es wegen der kurzen Entwicklungszeit Probleme. Oftmals starteten die Motoren zu Beginn nicht. Die ersten Testfahrten fanden unter eisigen Bedingungen im Winter auf dem Ein-Meilen-Oval in Nazareth statt. Bevor Paul Tracy den Motor bei Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt testen konnte, mussten Räumkommandos den Schnee beiseite schieben. Tracys Hände froren ein und Teddy Meyer mussten ihm Wintersocken über seine Fahrerhandschuhe ziehen. Damit wurde es schwer, das Auto zu lenken und zu schalten. Oft ging der Motor schon nach sechs oder sieben Runden hoch.

"Erst kurz vor dem Indianapolis 500 gelang es uns, erstmals 500 Meilen am Stück in Michigan abzuspulen", sagt Bouslog und verweist auf einen 520-Meilen-Test von Unser, während sich die ganze Aufmerksamkeit auf den Rest des Feldes am zweiten Trainingstag in Indianapolis richtete. "Das war eine große Erleichterung für uns. Es war schon der Rennmonat und wir hatten noch nicht eine komplette Renndistanz abgespult. Endlich hatten wir diese Marke erreicht."

Gegnern fallen die Pupillen aus den Augen

Als das Team in Indianapolis aufkreuzte, wies Penske seine Fahrer an, in den Trainings bloß nicht das volle Potenzial des Motors abzurufen. Zu groß war die Sorge vor Restriktionen im Vorfeld des Rennens. Doch die Gegner wussten bereits, dass sie keine Chance gegen das Penske-Trio haben würden, sofern der Motor nicht hochgeht. Jenes Trio bestand aus dem zweimaligen Indy-Sieger Emerson Fittipaldi, dem Sieger von 1992 Al Unser jun. und Paul Tracy.

Al Unser Jr.

Voller Vorfreude: Al Unser jun. im Vorfeld des Rennens, das er gewinnen sollte Zoom

Doch der Sandbagging-Plan ging nicht auf, wie sich Bouslog weiter erinnert: "Es gab Geschwindigkeitsmessungen an verschiedenen Punkten auf der Strecke. Ich erinnere mich an die Tabelle. Man sah 238 Meilen pro Stunde, 235, 237, 234. Dann kam eines unserer Autos mit 255 mph (410 km/h). Als die anderen das sahen, fielen ihnen die Augen raus. Unsere Fahrer mussten dabei noch vorsichtig mit dem Motor umgehen, weil er weit mehr als 1.000 PS hatte - mindestens 200 PS mehr als alle anderen Motoren in jenem Jahr."

Und die letzten Hoffnungen der Konkurrenz sollten sich nicht bestätigen. "Unsere Zuverlässigkeit im ganzen Mai war bemerkenswert", so Swavely. "Die einzige Achillesferse war das enorme Drehmoment. Wenn der Fahrer damit nicht rechnete, konnten schnell die Reifen durch- und der Motor überdrehen. Und bei einem Motor mit Stößelstangen war das keine gute Idee. Das hat der gar nicht verkraftet. Das ist einmal im ganzen Monat vorgekommen. Aber wir hatten keine Motorschäden aufgrund seiner Komponenten."

Kontrollverlust war nicht das einzige Risiko, das das erhöhte Drehmoment mit sich brachte. Das Penske-Team musste im Training feststellen, dass die Reifen sich während eines Stints auf der Felge bewegten, was zu Balanceproblemen führte. Mit Hilfe einer lokalen Sandstrahlfabrik wurden Einlagen hergestellt, um die Verbindung zu stärken und ein Durchdrehen des Reifens auf der Felge zu verhindern.

Fittipaldi verspielt Sieg leichtsinnig

Im Rennen gab es keine wirkliche Konkurrenz: Von der Grünen Flagge weg stürmten Fittipaldi und Unser davon. In Runde 38 von 200 hatten sie das gesamte Feld überrundet. Sie führten 98 der 100 ersten Runden an. Tracy, der nach einem Unfall im Training von Startplatz 25 startete, fiel mit Turboladerschaden aus. Fittipaldi war auf dem Weg zum Sieg, als er 16 Runden vor Schluss Teamkollege Unser eine Runde aufbrummen wollte. Dieser Entschluss erwies sich als kostspielig, als er ausgangs Kurve vier die Kontrolle verlor und in die Mauer einschlug.

"Das war nicht Emmos Tag", kommentiert Bouslog. "Er wurde zu gierig und so wurde es Als Tag. So ist es eben bei diesem Event. Es gibt dir etwas, aber kann dir in einem Sekundenbruchteil alles wieder nehmen. Das ist das Tolle dabei." Unser holte sich seinen zweiten Indy-500-Sieg, Rookie Jacques Villeneuve war der einzige Fahrer, der ebenfalls alle 200 Runden absolvierte.


Al Unser Juniors Fahrt auf Pole

Nach dem spektakulären Penske-Erfolg änderte die USAC die Regeln und verbannte dadurch quasi den Mercedes 500I für das 500-Meilen-Rennen von Indianapolis 1995 - ein Rennen, für das sich Penske nicht einmal qualifizierte. "In der ersten Woche haben sie den Ladedruck um 0,4 bar reduziert, die Woche darauf haben sie ihn quasi für illegal erklärt", sagt Penske. "Es ist normal, dass sie auf einen einprügeln, wenn man sich zu gut schlägt. Der USAC hat uns chancenlos gemacht."

Motor bleibt ein One-Hit-Wonder

Während Penske seinem Frust freien Lauf ließ, bereute Mercedes, das die wesentlich höhere finanzielle Last zu tragen hatte, die Investition nicht. Der frühere Mercedes-Motorsportchef Norbert Haug sagt, dass es das "zehnmal wert gewesen" sei, diesen Motor einmal am wichtigsten IndyCar-Tag des Jahres einzusetzen. "Es ist ein gutes Gefühl, wenn man 250 PS mehr als alle anderen hat", fügt er hinzu. "So sollte es im Motorsport natürlich nicht dauerhaft sein, aber das war ein nettes Schlupfloch im Reglement. Das Auto hat sogar nach Start/Ziel bis in Kurve eins weiter beschleunigt." Dort fuhren alle anderen gegen eine Wand aus Luft.

"Das Indy 500 zu gewinnen bedeutet schon was", sagt er weiter. "Es war weltweite Werbung für Mercedes-Benz. Deshalb war es ein Leichtes, ja zu sagen, als Ilmor es uns vorgeschlagen hat. Und es hat gar nicht so viel gekostet, wie die Leute immer behaupten. Das war ein großartiges Projekt. Niemand hätte jemals erwartet, dass so etwas passiert." Der 3,4-Liter-Mercedes war eines der bemerkenswertesten One-Hit-Wonder in der bunten Geschichte des Indy 500. Selbst Andy Granatellis STP-Turbine durfte zweimal auf dem Brickyard antreten, bevor sie verboten wurde.

Michael Andretti

Die Konkurrenz mit OHC-Motoren war völlig chancenlos Zoom

Am Horizont bahnten sich große Veränderungen an. Tony George, Präsident des Indianapolis Motor Speedway, kündigte im März 1994 die Gründung der Indy Racing League mit dem 500 als zentrales Event an. 1995 verkündete die IRL ein Reglement mit serienbasierten Motoren ab 1997. Turbomotoren kehrten erst 2012 nach Indianapolis zurück - vier Jahre nachdem sich Champ Car und IRL zur IndyCar-Serie zusammengeschlossen hatten. Doch unter dem jetzigen Reglement gibt es keine Chance mehr, noch einmal ein "Biest" zu bauen.

Hinweis in eigener Sache: Natürlich handelt es sich streng genommen um eine USAC-Anekdote. Da wir in dieser Serie aber generell Geschichten aus der CART-Zeit von 1979 bis 2007 zusammenfassen, lassen wir diese Geschichte hier einfließen.