Phoenix: Chaos, Crashs und fliegende Fäuste

Kevin Harvick gewinnt ein hochdramatisches Phoenix-Rennen - Brad Keselowski mit viel Glück neuer Tabellenführer - Riesenstreit zwischen Jeff Gordon und Clint Bowyer

(Motorsport-Total.com) - Bis zur 235. von 312 geplanten Runden verlief das AdvoCare 500 auf dem Ein-Meilen-Oval in Phoenix ausgesprochen dezent, doch dann überschlugen sich die Ereignisse in einer selten zuvor gesehenen Form und Dramatik, die in einem Wechsel an der Tabellenspitze, einem hitzigen Streit zweier Fahrer und ihrer Boxencrews und dem 15. verschiedenen Sieger im Verlauf der diesjährigen Sprint-Cup-Saison endeten.

Titel-Bild zur News: Kevin Harvick

Kevin Harvick fuhr im Phoenix-Chaos zu seinem ersten Saisonsieg Zoom

Polesetter Kyle Busch (Gibbs-Toyota) drückte dem vorletzten Saisonrennen über weite Strecken seinen Stempel auf, scheiterte in der Schlussphase aber knapp an Kevin Harvick (Childress-Chevrolet) und damit am möglichen zweiten Saisonsieg. Zuvor hatten sich im Rücken des lange Zeit führenden Kyle Busch alle Augen auf das Titelduell zwischen Jimmie Johnson und Brad Keselowski konzentriert.

Tabellenführer Johnson nahm die 312-Runden-Hatz nach verpatztem Qualifying nur vom 24. Startplatz in Angriff und lieferte sich in der Folge ein virtuelles Duell mit Keselowski um die Führung im Gesamtklassement. Über weite Strecken des Rennens waren die beiden Titelkandidaten nicht mehr als zwei Punkte getrennt. In Runde 235 dann die Wende: Keselowski hatte gerade die Führung von Kyle Busch übernommen, als Johnson auf Platz sieben liegend aufgrund eines Reifenschadens vorn rechts in die Mauer von Turn 4 krachte und die vierte Gelbphase im Rennen auslöste.

Herber Rückschlag für Jimmie Johnson im Titelkampf

Mit schief stehendem rechten Vorderrad musste der Hendrick-Chevy mit der Startnummer 48 in die Garage geschoben werden. Nach einer Reparatur, die fast 40 Runden dauerte, ging Johnson zwar noch einmal auf die Strecke, konnte aber nicht mehr als Platz 32 an Land ziehen und sieht sich vor dem Saisonfinale am kommenden Sonntag in Homestead in der ungewohnten Position des deutlich abgeschlagenen Verfolgers.

Jimmie Johnson

Jimmie Johnson wurde nach Reifenschaden und Mauercrash nur 32. Zoom

20 Punkte trennen den fünffachen Champion nun vom neuen Tabellenführer Brad Keselowski, der in Phoenix irgendwie auf Platz sechs ins Ziel kam. "Heute passierten Dinge, die außerhalb unserer Kontrolle lagen. In Homestead kann noch alles passieren, aber das ist ganz sicher nicht die Position, in der ich in das Finale gehen wollte", so Johnson.

Keselowski ging von Startplatz 14 ins Rennen und knackte nach 40 Runden erstmals die Top 10. 80 Runden vor Schluss rang der Penske-Pilot den bis dahin absolut dominierenden Kyle Busch nieder und übernahm auf der Strecke die Führung. Nur zwei Runden später die entscheidende Wende im Kampf um die Tabellenführung in Form des Reifenschadens am Hendrick-Chevy von Jimmie Johnson.

Brad Keselowski mit 20 Punkten Vorsprung Tabellenführer

Durchatmen konnte Keselowski in der Folge aber nur bedingt. Hinter dem Gibbs-Duo Kyle Busch und Denny Hamlin lag der Penske-Pilot auf Rang drei und fand sich teilweise in der Mitte von haarsträubenden Three-Wide-Manövern wieder. Als sich die Lage - vorübergehend - etwas beruhigt hatte, hielt Keselowski den dritten Rang. 40 Runden vor Schluss löste David Ragan (Front-Row-Ford) mit einer Kopie des Jimmie-Johnson-Crashs nach Reifenschaden eine weitere Gelbphase aus.

Brad Keselowski

Brad Keselowski hat nach Phoenix eine Hand an seinem ersten Sprint-Cup-Titel Zoom

Während das führende Gibbs-Duo Busch/Hamlin genau wie Kevin Harvick, Kasey Kahne und Jeff Gordon auf der Strecke blieb, bogen Keselowski und der Großteil des übrigen Feldes in die Boxengasse ab. Der Penske-Pilot holte sich zwei neue Reifen auf der linken Seite ab und nahm den Restart als Achter unter die Räder. In den folgenden Runden sorgten Tony Stewart (Dreher ausgangs Turn 2) und Sam Hornish Jr. (Crash in Turn 3 nach vorangegangener, neuerlicher "Privatfehde" mit Danica Patrick) für zwei weitere Unterbrechungen mit der Gelben Flagge.

Beim Restart setzte sich Kevin Harvick auf der Außenbahn neben Kyle Busch in Führung und fuhr einem scheinbar ungefährdeten ersten Saisonsieg entgegen. Gerade als die Führenden auf die Weiße Flagge für die letzte Runde zufuhren, ging es in Form eines Revanchefouls von Jeff Gordon (Hendrick-Chevrolet; 30.) gegen Clint Bowyer (Waltrip-Toyota; 28.) zunächst auf und wenig später auch neben der Strecke richtig heiß her.

Keilerei zwischen den Crews von Jeff Gordon und Clint Bowyer

In Runde 305 war es in Turn 2 zu einer leichten Feindberührung zwischen Bowyer und Gordon gekommen, woraufhin der vierfache NASCAR-Champion die Mauer streifte. Der erste Versuch einer Revanche schlug fehl und Gordon rutschte in Turn 3 in die Mauer, nachdem er den Waltrip-Toyota von Bowyer knapp verpasst hatte. In Runde 311 wartete Gordon dann in Turn 4 auf Bowyer, um - nicht nur für den Zwischenfall wenige Runden zuvor, sondern auch für ein, zwei andere dieser Art in der Vergangenheit - endgültig Revanche zu nehmen.

Der von hinten nahende Waltrip-Pilot entschied sich, Gordon auf der Innenseite zu passieren. Der Ex-Champion steuerte dagegen und schickte Bowyer in die Mauer. Die beiden Fahrzeuge wiesen massive Kaltverformungen auf und es war klar, dass die Gemüter am Überkochen waren, schließlich lag Bowyer zum Zeitpunkt des Abschusses durch Gordon vor Brad Keselowski in den Top 5 und wäre mit intakten - wenn auch geringen - Titelchancen zum letzten Saisonrennen nach Homestead gereist.

Jeff Gordon brachte seinen arg ramponierten Hendrick-Chevy noch in die Box zurück, stieg dort aus und sah sich sofort der heranstürmenden Crew von Clint Bowyer ausgesetzt. Gordons eigene Hendrick-Mechaniker brachten ihren Fahrer in Sicherheit, während zahlreiche Crewmitglieder der beiden Teams mit Fäusten und Fußtritten aufeinander losgingen. Derweil stürmte der wild aufgebrachte Clint Bowyer zum Teamtransporter von Jeff Gordon, um dem Kalifornier ebenfalls nicht nur mit Worten die Meinung zu sagen.

Zu einem direkten Aufeinandertreffen zwischen den beiden Kontrahenten kam es allerdings erst später, denn sowohl Gordon und Crewchief Alan Gustafson als auch Bowyer und Crewchief Brian Pattie wurden umgehend in den von vier Polizisten bewachten Transporter der NASCAR-Offiziellen zitiert, um sich zu den Vorfällen zu äußern. Eine Stellungnahme lag unmittelbar nach dem Rennen weder von Jeff Gordon noch von Clint Bowyer vor.

In Folge des Gordon/Bowyer-Crashs in Turn 4 wurde das Rennen mit der Roten Flagge unterbrochen. Als es nach 15 Minuten noch einmal für zwei Runden und damit für ein Green-White-Checkered-Finale freigegeben wurde, behauptete sich Kevin Harvick trotz Sorgen um seine Spritvorräte an der Spitze und brachte mit einer halben Sekunde Vorsprung auf Denny Hamlin seinen ersten Saisonsieg ins Ziel. Auf dem Weg dorthin gab es freilich einen weiteren Crash, als Danica Patrick ihren Stewart/Haas-Chevy nach einer Berührung mit Jeff Burton (Childress-Chevrolet) eingangs der letzten Runde in Turn 4 in Mauer setzte, weiterfuhr und reichlich Öl auf der Strecke verteilte.


Fliegende Fäuste: Jeff Gordon vs. Clint Bowyer

Während Harvick vor Hamlin und Kyle Busch die Ziellinie passierte, rauchte es dahinter ein letztes Mal im großen Stil. Ryan Newman verlor seinen Stewart/Haas-Chevy auf der Start/Ziel-Geraden auf dem Öl seiner langsam dahin schleichenden Teamkollegin Danica Patrick aus der Kontrolle und rutschte rückwärts als Fünfter hinter Kasey Kahne ins Ziel. Hinter der Ziellinie rauschten weitere Fahrzeuge - neben Danica Patrick (17.) und Ryan Newman (5.) auch die von Kurt Busch (8.), Paul Menard (9.) und Mark Martin (10.) - ineinander. Platz 17 für Danica Patrick war ganz nebenbei das beste Ergebnis ihrer noch kurzen Sprint-Cup-Karriere.

Platz 15 reicht Brad Keselowski in Homestead zum Titel

Brad Keselowski, der den Crash zwischen Clint Bowyer und Jeff Gordon direkt vor der eigenen Nase erlebte und um ein Haar mit rausgerissen worden wäre, konnte sich irgendwie auch vom drehenden Ryan Newman fernhalten und brachte Platz sechs ins Ziel. "Heute ging es dermaßen wild zu, dass ich einfach nur froh bin, heil durch das ganze Chaos durchgekommen zu sein", so der erste Kommentar des neuen Tabellenführers im Ziel.

Kevin Harvick gab nach seinem ersten Sieg seit September 2011 in Richmond in der Victory Lane zum Besten: "Es war verrückt. Am Schluss habe ich einfach nur darauf geachtet, die Linie in Turn 1 zu treffen - ganz gleich, ob mir der Sprit ausgehen würde oder nicht. Dann ließen sie uns noch durch Öl fahren, anstatt die Gelbe Flagge herauszubringen. Es war verrückt." Kyle Busch musste sich nach absoluter Dominanz des Phoenix-Wochenendes - Pole-Position, Schnellster in allen drei Freien Trainings und 237 Führungsrunden im Rennen - mit Platz drei hinter seinem Gibbs-Teamkollegen Denny Hamlin begnügen.

Das Sprint-Cup-Saisonfinale 2012 steigt am kommenden Sonntag auf dem Homestead-Miami Speedway in Florida. Auf dem 1,5-Meilen-Oval reicht Brad Keselowski ein 15. Platz zum Gewinn des ersten Sprint-Cup-Titels für sich und Teamchef Roger Penske. Läuft Keselowski auf einer Platzierung zwischen 16 und 43 ein, kann ihm nach dem unglaublich dramatischen Rennen in Phoenix einzig Jimmie Johnson noch den Titel entreißen. Für den Hendrick-Piloten wäre es im Erfolgsfall der sechste Titel.


Kevin Harvick siegt in chaotischer Schlussphase