• 02.06.2015 09:08

  • von Roman Wittemeier

Formel 1 vs. LMP1: Die Sicht des Technikers

Der große Vergleich zwischen der Formel 1 und der LMP1-Szene in Le Mans und der WEC: Techniker genießen Freiheiten, Lücken werden geschlossen

(Motorsport-Total.com) - Die LMP1-Szene der Langstrecken-Weltmeisterschaft (WEC) als neue Königsklasse im Motorsport? Über diese Frage wird seit vielen Monaten leidenschaftlich diskutiert. Tatsache ist: Während die Formel 1 in Bezug auf Zuschauerzahlen und TV-Interesse derzeit auf dem absteigenden Ast ist, legt die höchste Le-Mans-Kategorie in allen Belangen weiter zu. Die LMP1-Autos werden immer attraktiver - für Fahrer, Techniker, Geschäftsleute. 'Motorsport-Total.com' fragt nach den Gründen. Heute: Die Sicht der Techniker.

Titel-Bild zur News: Marcel Fässler, Andre Lotterer, Benoit Treluyer

Die LMP1-Fahrzeuge sind auf manchen Strecken fast so schnell wie die Formel 1 Zoom

"Die Philosophie ist in technischer Hinsicht ähnlich", sagt Jörg Zander. Der neue Technikchef von Audi in der LMP1 war in den zurückliegenden Jahren unter anderem bei BMW-Sauber als Chefdesigner aktiv, 2009 war er als Technischer Direktor maßgeblich am Erfolg von Brawn beteiligt. "Das Formel-1-Reglement hat über viele Jahre schon eine gewisse Stabilität erreicht. Die Leute, die sich damit befassen, kennen das in vielen Details." In der Grand-Prix-Szene habe man erheblich weniger Möglichkeiten, neue Bereiche zu erforschen.

"In der WEC ist es so, dass auf Basis der Equivalence-of-Technology (EoT) verschiedene Antriebskonzepte möglich sind. Die Ansätze sind also in ihrer Vielfältigkeit viel extensiver als in der Formel 1", erklärt Zander. "Da spielt nicht nur die technische Sicht eine Rolle, sondern es kommt auch Business hinzu. Wie kann sich ein Hersteller positionieren? Wie kann man die Philosophie der Straßenfahrzeuge einfließen lassen? Da kommt dann wieder die Technik mit entsprechenden Lösungen ins Spiel."

Ideen werden nicht immer umgesetzt

Nicht alle Lösungen, die Ingenieure in der LMP1-Klasse anbieten, werden auch im Rennbetrieb eingesetzt. Nicht alles, was theoretisch möglich ist, finden seinen Weg in die Praxis - selbst wenn der Text des Regelwerk dieses zulassen würde. "Es gibt in diesem Reglement diesen Softfact 'Le Mans Spirit' - sprich: was möchte man eigentlich mit dem geschriebenen Text im Regelwerk erreichen", erklärt Zander. Genau diese Punkte, die zwar per Wortlaut möglich sind, aber dem "Geist des Reglements" widersprechen, sind noch zahlreich vorhanden.

Wolfgang Ullrich

In der Audi-Verantwortung: Technikchef Zander und Sportchef Ullrich Zoom

Die WEC ist im Vergleich zur Formel 1 bezüglich der detaillierten Ausformulierungen im Regelwerk noch "in der Findungsphase", meint der erfahrene Technikchef von Audi. "Da gibt es auf der einen Seite den Techniker, der nach entsprechenden Lücken sucht und Interpretationen so macht, dass am Ende ein performanteres Paket dabei herumkommt. Ist ja klar." Auf der anderen Seite stehen die Hüter des "Le Mans Spirit" und bremsen die Ingenieure an einigen Stellen wieder aus.

Ein konkretes Beispiel: Vor dem Start in die WEC-Saison 2015 gab es nach Informationen von 'Motorsport-Total.com' einen LMP1-Hersteller, der einen aus der Formel 1 bekannten "S-Duct" realisieren wollte - also ein passives System, das in Abhängigkeit vom jeweiligen Fahrzustand einen Strömungsabriss am Heckflügel erzeugt, um den Luftwiderstand bei hohen Geschwindigkeiten herabzusenken. Man reichte die entsprechenden Pläne bei der FIA ein und erhielt eine Absage.

Formel 1 hat Lücken besser geschlossen

"Wenn etwas aus diesen 'Spirit-Gründen' nicht zugelassen wird, dann führt so etwas zu entsprechenden Klarstellungen im Reglement", sagt Zander. "Meine Herangehensweise ist eine enge Zusammenarbeit mit ACO und FIA, damit wir Missverständnisse vermeiden und unterbinden. Das bedingt eine offene Kommunikation. Dies wiederum steht im Widerspruch zu dem, was man als Techniker eigentlich erreichen will. Es ist ein Balanceakt."

Filipe Albuquerque, Marco Bonanomi

Der aktuelle Audi R18 e-tron quattro hat ein FRIC-System wie in der Formel 1 Zoom

"Man befindet sich diesbezüglich noch auf einem anderen Niveau als die Formel 1. Der Rahmen ist sehr gut abgesteckt, aber es gibt noch Klarstellungen in Detailbereichen, die noch nicht im Reglement textlich verankert sind", so der gebürtige Rheinländer. Die Grauzonen im LMP1-Regelwerk sind noch erheblich größer als in der Formel 1, wo viele Lücken über die Jahre geschlossen wurden. "Das Schwierige an einem Reglement ist nun einmal immer die Interpretation. Das hängt an einzelnen Worten, an kleinen Termini."

"Was bedeutet es denn, wenn im Regelwerk das Wort Differenzial verwendet wird? Man könnte einen halben Tag lang trefflich darüber diskutieren, ob es ein Teil des Bremssystems oder ein Teil des Antriebsstrangs ist. Da gehen die Meinungen auseinander", nennt Zander ein konkretes Beispiel für einen Streitpunkt, der im Falle eines Falles von FIA und ACO mit einer klaren Ansage vom Tisch gewischt werden müsste. Selbst dann können die Debatten weitergehen: Wer ein Loch schließt, macht womöglich ein anderes auf.

Definitionen sind oftmals diskutabel

"Ich erinnere mich an die Saison 2004, als wir in der Formel 1 ein Kupplungssystem an der Vorderachse installiert haben. Das wurde im ersten Ansatz unterbunden", so Zander, der damals beim Formel-1-Team BAR für die Bereiche Mechanik und Kraftübertragung zuständig war. "Es wurde uns untersagt, dieses System zu verwenden, weil es elektrohydraulisch geregelt war. Es hieß, dass elektrohydraulische Systeme innerhalb eines Bremssystems nicht zulässig seien. Da war es plötzlich ein Teil des Bremssystems."

"Wir haben damals erst einmal gegen die Entscheidung Protest eingelegt, es letztlich dann aber akzeptiert. Danach haben wir gesagt: 'Gut, so haben wir das bisher nicht betrachtet. Aber ab jetzt betrachten wir das mal als Teil des Bremssystems'. Wir haben dann den Geberzylinder ganz einfach mit einer Leitung versehen und haben damit die hydraulische Kupplung betrieben. Da war das Thema erledigt. Es hat wunderbar funktioniert", schmunzelt der Audi-Technikchef.


Tom Kristensen über den neuen R18 e-tron quattro

Audi fuhr in Spa erstmals mit dem neuen R18 e-tron quattro, der in diesem Video von Tom Kristensen vorgestellt wird.

Solche Situationen, in denen sich findige Ingenieure mit ihren Interpretationen auf Umwegen doch gegen den Willen der Regelhüter durchsetzen, könnten in der LMP1 zuhauf entstehen. Der Unterschied zur Formel 1: Man sucht viel frühzeitiger den Dialog und sondiert schon vor der ultimativen Entwicklung neuer Systeme eine Klärung im Dialog mit den Technikern von ACO und FIA. In der WEC gibt es auf dieser Ebene ein Miteinander, weniger einen stetigen Kampf wie in der Grand-Prix-Szene.

Soviel zu den grundsätzlichen Herangehensweisen und dem Dialog zwischen Teams und Serienverantwortlichen. Abseits von Lücken, Grauzonen und möglichen Interpretationen gibt es ganz konkrete Unterschiede bei der Entwicklung von LMP1- und Formel-1-Fahrzeugen. Diese sind für jeden Laien auszumachen: Protoypen sind geschlossene Fahrzeuge, bei denen die Räder nicht frei im Wind stehen, die Haltbarkeit muss auf der Langstrecke eine ganz andere sein als im Grand-Prix-Sprint.

Radhäuser als wichtige Leitlinie für die Luft

"In der LMP1 haben wir sicherlich ein anderes aerodynamisches Konzept. Das Grunddenken allerdings, also auf Grundlage eines Regelwerks für das Bodywork und die Aerodynamik den maximalen Abtrieb herauszuholen, ist erst einmal gleich", vergleicht Zander die Herangehensweisen beim Bau von LMP1-und Formel-1-Fahrzeugen. "Man will das Monocoque und die gesamten Aeroteile so gestalten, dass das Optimum dabei herumkommt."

"Wie in der Formel 1 gibt es auch in der LMP1 ganz präzise Maßgaben für das Packaging. Da geht es vielleicht sogar noch enger zu als in der Formel 1. Es wird zumindest ganz genauso arg betrieben wie in der Formel 1", schildert der Deutsche. "Da schaut man auf kleinste Details, um hier und dort weitere Abtriebspunkte zu generieren: Fläche minimieren, Packaging optimieren, aggressiv vorgehen, Räume ausnutzen - und damit unter dem Strich Luftwiderstand reduzieren."


Fotos: Vortest in Le Mans


"Bei allen Fahrzeugen ist es so, dass die Aerodynamik im vorderen Bereich eine übergeordnete Rolle spielt. Je nachdem, wie dort die ankommende Strömung verarbeitet und zum Heck geleitet wird, ist ein Fahrzeug mehr oder weniger effizient", sagt Zander. "Vor allem der cx-Wert (Koeffizient für Strömungswiderstand, auch cw-Wert genannt; Anm. d. Red.) steht im Vordergrund und die damit die Frage, wie energiereich die Luft noch am Hinterwagen ist."

"Am Beispiel der Radhäuser sieht man derzeit einen klaren Trend für die Highspeed-Strecken. Die Radhäuser sind sehr voluminös. Die Formel 1 hat dort das Problem, dass die Räder frei stehen, rotieren und sich verformen. Die stehen immer wieder anders im Wind. Das hat man beim Le-Mans-Prototypen so nicht", erklärt Zander. "Das Radhaus ist mit entscheidend dafür zuständig, das Heck optimal anzuströmen. Deswegen ist dort viel Detailarbeit erforderlich."

Was länger halten muss...

"Formel-1-Fahrzeuge sind kompromissloser gestaltet und konzipiert", meint der Ingenieur. Dies sei auf Grundlage der Tatsache, dass ein Prototyp in Le Mans satte 24 Stunden unter voller Last aushalten muss, eine logische Konsequenz. Ein Formel-1-Auto darf theoretisch nach 300 Kilometer auseinanderfallen, ein LMP muss noch fast 5.000 Kilometer weiterfahren. "In der LMP1 müssen die Komponenten, die über den langen Rennverlauf auch mal Schaden nehmen können anders konzipiert werden."

"Beim Antriebsstrang muss man mitunter dafür sorgen, dass für den Fall, dass beispielsweise eine Gelenkwelle kaputtgeht, das Differenzial in der Lage ist, noch ein gewisses Moment zu übertragen. Das wäre nicht der Fall, wenn das lose Differenzial ohne Sperrwirkung fungieren würde. Dann hätte man keinen Vortrieb mehr. Solche Dinge muss man sicherstellen", sagt Zander. Über allem steht: Ein Fahrer muss sein Auto trotz Defekt irgendwie zurück zur Box manövrieren können.


Fotostrecke: Vergleich: Audi R18 2015 vs. Audi R18 2014

"Da muss man Kompromisse im Hinblick auf die Komplexität der Bauteile eingehen. Außerdem macht man Abstriche beim Gewicht. Schnellwechsel-Maßnahmen bringen immer zusätzliches Gewicht", sagt Zander. "Im Flüssigkeits-, Schmier-, Kühlungs- oder Hochdruckbereich müssen zusätzliche Kupplungen eingebracht werden, die zusätzliches Gewicht bedeuten. Auch jede mechanische Schnittstelle sorgt für geringere Integrität, was wegen Verschraubungen und Steckmechanismen zusätzliches Gewicht mit sich bringt."

Viele hochrangige Techniker aus dem Grand-Prix-Sport wie Jörg Zander (Audi), Pascal Vasselon (Toyota) oder Alexander Hitzinger (Porsche) haben nach ihren Engagements in der Formel 1 nun bei den Herstellern der LMP1 eine neue Heimat gefunden. Mit dem Vorteil größerer Freiheiten und entsprechend umfassendem Raum zur Entfaltung, mit dem Nachteil, dass die Performance-Schmankerl nicht im Schnitt alle 14 Tage im Wettbewerb sichtbar werden, sondern nur in größeren Abständen.